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Yvonne Conzelmann: Zur Notwendigkeit einer Reform des § 238 StGB. Eine kritische Würdigung des Straftatbestandes vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2016, Peter Lang GmbH, Frankfurt a. M., ISBN: 978-3-631-67853-4, S. 266, Euro 66,95.

Erst 2007 ist der Straftatbestand der Nachstellung in das Strafgesetzbuch eingefügt worden, um das Phänomen des Stalkings wirksam bekämpfen zu können. Doch schon kurz nach der Einführung wurde Kritik an eben dieser Wirksamkeit der Vorschrift des § 238 StGB laut. Mittlerweile hat die Bundesregierung einen Entwurf zur Änderung des Paragrafen in den Bundestag eingebracht. Dieser wurde am 15.12.2016 durch den Bundestag gegen das Votum der Opposition in der vom Rechtsausschuss geänderten Fassung (BT-Drs. 18/10654) angenommen. Am 10.2.2017 hat der Bundesrat den Gesetzentwurf schließlich gebilligt. Das Gesetz tritt am Tag seiner Verkündung in Kraft.Conzelmann geht in ihrer Dissertation zunächst der Entstehungsgeschichte der Norm nach (S. 5 ff.), um sich dann dem Phänomen des Stalkings zu widmen (S. 11 ff.). Sie beschreibt die Genese des Begriffs des Stalkings und versucht Stalking von sozialadäquatem Verhalten abzugrenzen. In der Arbeit werden Erscheinungsformen und Verbreitung des Stalkings benannt und eine Kategorisierung nach der Intensität des auftretenden Stalking-Verhaltens aber auch nach der Täter-Opfer-Beziehung und auf psychopathologischer Ebene vorgenommen. Anschließend charakterisiert Conzelmann Täter und Opfer und nimmt jeweils eine Typologisierung vor. Das Ergebnis dieses Abschnitts lässt zugleich das Dilemma der Vorschrift deutlich zu Tage treten, nämlich dass es keine eindeutige Regelung gibt, ab wann von Stalking gesprochen werden kann, so dass die Abgrenzung zum noch sozialadäquaten Verhalten im Alltag nicht immer einfach sei. Der Begriff des Stalkings sei daher nicht mehr und nicht weniger als ein Oberbegriff für ein sehr vielschichtiges Täterverhalten, dessen Facettenreichtum zu Abgrenzungsproblemen mit legalem Verhalten führe (S. 40).

Im nächsten Teil ihrer Arbeit fragt Conzelmann generell nach der Notwendigkeit eines Stalking-Straftatbestands im Strafgesetzbuch (S. 43 ff.). Hierzu analysiert sie zunächst die in Betracht kommenden Schutzgüter. Neben dem von der Rechtsprechung und h.M. anerkannten Rechtsgut der persönlichen Lebensgestaltung in Form der Handlungs- und Entschließungsfreiheit plädiert die Autorin für eine Aufnahme der Psyche als Schutzgut des § 238 StGB, eine Forderung, die auch andere Stimmen in der Literatur unterstützen. Danach überprüft sie andere in Betracht kommende Straftatbestände auf ihre Wirksamkeit, ausreichenden Opferschutz vor Stalkern zu bieten. Nach ihrer Auffassung ist keine der anderen strafrechtlichen Vorschriften geeignet, das Phänomen des Stalkings in all seinen Facetten zu erfassen, da keine Norm dem Spezifikum des Stalkings ausreichend Rechnung trägt. Es könnten durch diverse Straftatbestände zwar bestimmte einzelne Handlungen erfasst, nicht aber das Gesamtbild des Stalkings ausreichend gewürdigt werden. Durch die isolierte Betrachtung werde aber das Gefahrenpotenzial des Stalkings unterschätzt (S. 98). Auch dem präventiven Einschreiten der Polizei bei Bedrohungsszenarien seien Grenzen gesetzt, so dass die Einführung eines Stalking-Straftatbestands im Strafgesetzbuch auf jeden Fall zu begrüßen sei (S. 99).

Im nächsten Kapitel widmet sich Conzelmann der Frage, ob es sich bei § 238 StGB um eine geglückte oder um eine missglückte Reaktion des Gesetzgebers auf das Phänomen Stalking handelt (S. 101 ff.). Nach einer dezidierten Analyse kommt sie zu der Einschätzung, dass durch die materiell- und verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Nachstellungsparagrafen der intendierte Opferschutz nur ungenügend umgesetzt werde. Dies sei vor allem das Resultat der erheblichen rechtspraktischen Beweis- und Nachweisschwierigkeiten. Tatbestandliche Schwachstellen und prozessuale Hürden werden aufgedeckt und angemahnt diese Hürden aufzubrechen, um einen Opferschutz auch wirksam werden zu lassen. Eine Auswertung des Zahlenmaterials bekräftigt dieses ernüchternde Ergebnis und macht ebenfalls klar, dass die Norm wenig praxistauglich und effizient ist. Die Zahl der Angeklagten liegt deutlich unter der Zahl der Tatverdächtigen, die Anklagequote schwankte zwischen den Jahren 2012 und 2009 zwischen 2,9 und 4,3 %. Dies ist im Vergleich zu der Anklagequote bei klassischer Kriminalität ohne Verkehrsdelikte erschreckend niedrig, da letztere bei rund 37,9 % liegt (S. 182 f.). Es ist daher nicht erstaunlich, dass Conzelmann die Vorschrift des § 238 StGB so wie viele andere als misslungen bewertet. Kein Wunder also, dass nicht nur die Forderung nach einer Nachjustierung der Norm laut wurde, sondern nun ganz konkret ein Regierungsentwurf vorliegt, der bald Gesetz werden soll.

In einem weiteren Abschnitt nimmt die Verfasserin eine kritische Bestandsaufnahme gerichtlicher Entscheidungen zu § 238 StGB vor (S. 193 ff.). Dazu werden die Sachverhalte und Entscheidungsgründe jeweils kurz zusammengefasst und dann einer kritischen rechtlichen Würdigung unterzogen. Die wiedergegebenen Entscheidungen machen deutlich, dass die Gerichte die Tatbestandsmerkmale des § 238 StGB restriktiv auslegen. Zwar seien Bemühungen erkennbar, dem schwammigen und unpräzisen Tatbestand Konturen zu verleihen, jedoch könne noch bei weitem nicht von Rechtssicherheit im Umgang mit dem Straftatbestand gesprochen werden. Insbesondere die hohe Hürde der Annahme einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung sei nach den dargestellten Gerichtsurteilen erst sehr spät überschritten. Insgesamt erweise sich § 238 StGB als nach wie als wenig praktikabel in seiner Anwendung und es sei stets vom Einzelfall und der Gesamtwürdigung abhängig, ob man eine Strafbarkeit bejahe oder verneine. Der Ausgang eines Strafverfahrens sei so nicht kalkulierbar, so dass eine zur Unvorhersehbarkeit führende kasuistische Rechtsprechung drohe. Zudem kritisiert Conzelmann, dass es der BGH versäumt habe, im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB Stellung zu beziehen.

Wegen der ausgemachten Schwachstellen der Norm gab es schon bald den Ruf nach einer Novellierung des Straftatbestands, so dass die Verfasserin im nächsten Teil ihrer Arbeit die Novellierungsvorschläge der Vergangenheit vorstellt (S. 221 ff.). Neben Vorschlägen aus der Politik geht Conzelmann Änderungsvorschlägen seitens der Literatur nach. Dies ist sehr informativ und zeichnet ein gutes Bild der unterschiedlichen Ansätze nach. Leider ist es dem Bearbeitungsstand der Dissertation geschuldet, dass der derzeitige Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellung (BT-Drs. 18/9946) nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Innovativ ist der eigene Gesetzesvorschlag von Conzelmann, die – im Gegensatz zum Regierungsentwurf – den Begriff des Nachstellens ganz wegfallen lassen möchte, da ihm kein eigener Aussagegehalt innewohne. Sie möchte viel mehr die Tathandlungen erweitern, um dem § 238 StGB mehr Kontur zu verleihen und zu präzisieren (S. 235 ff.).

Zum einen soll durch die Begrenzung der räumlichen Nähe auf den Wahrnehmungsbereich und die beispielhafte Nennung der Möglichkeit des Aufsuchens der räumlichen Nähe die Tathandlung nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB ihre Abstraktheit verlieren und praxistauglicher werden. Daneben spricht sich die Verfasserin für eine Erweiterung der Tathandlungsalternativen in § 238 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 4 StGB sowie eine Streichung von § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB aus. Anstelle des Tatbestandsmerkmals „beharrlich“ seien die Substantive „Qualität“, „Intensität“ und „Häufigkeit“ in den Tatbestand aufzunehmen, um eine Abgrenzung zu sozial tolerierbarem Verhalten besser möglich zu machen. Außerdem ist Conzelmann für die Ausgestaltung des § 238 StGB als Eignungdelikt, eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte.

Schließlich überprüft Conzelmann ihren Gesetzentwurf anhand der bislang ergangenen Entscheidungen und subsumiert die Sachverhalte der zuvor in Teil 6 ausführlich wiedergegebenen Entscheidungen unter ihren novellierten Nachstellungsparagrafen (S. 257 ff.). Dabei kommt sie in der Auswertung knapp, aber überzeugend zu dem Ergebnis, dass ihr Novellierungsvorschlag den bislang bestehenden Unzulänglichkeiten des § 238 StGB in seiner jetzigen Ausgestaltung entgegenwirkt.

Leider hat der Gesetzgeber so kurz vor der Ziellinie den aktuellen Gesetzentwurf nicht um die Vorschläge von Conzelmann angepasst. Allerdings wäre es zumindest interessant, den verabschiedeten Entwurf zumindest an den Gerichtsentscheidungen der Vergangenheit zu messen und wie Conzelmann zu überprüfen, ob der Regierungsentwurf ebenfalls bislang bestehenden Unzulänglichkeiten des § 238 StGB in seiner bisherigen Fassung wirksam begegnen wird.

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