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Nico Herold: Whistleblower – Entscheidungsfindung, Meldeverhalten und kriminologische Bewertung

von Rechtsanwalt Christian Heuking

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2016, Nomos Verlag, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-2691-2, S. 396, Euro 98,00.

Das Begriffspaar Whistleblowing/Whitsleblower hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch und in der deutschen Rechtswissenschaft etabliert. Die fremdsprachigen Standardbegriffe haben, wie Herold zutreffend feststellt, den Vorteil einer gewissen Abstraktheit im Sinne eines neutralen Terminus technicus. Dafür einen deutschen Standardbegriff zu suchen, ist auch im wissenschaftlichen Kontext nicht lohnenswert. Gerade aber weil solche Begriffe das Potential haben, sprachlich leicht die Komplexität der durch sie beschriebenen Realität zu verschleiern und die Probleme zu verbergen, die bei einer Übertragung des Instruments von einem in den anderen Rechtskreis auftreten, ist es wichtig, das so griffig bezeichnete Phänomen zu hinterfragen und wissenschaftlich zu behandeln. Diese(r) Aufgabe hat sich Nico Herold gestellt. Und, um es vorweg zu nehmen, er hat diese Aufgabe in jeder Hinsicht überzeugend und mit hohem Erkenntnisgewinn gelöst.

Das konkret mit der Arbeit verfolgte Ziel ist es, aus kriminologischer Perspektive den Whistleblowing-Entscheidungsprozess in seiner objektiven Gesamtheit und in seiner jeweiligen subjektiven Detailtiefe nachzuzeichnen. So soll derjenige Geschehensablauf besser verstanden werden, der in seiner subjektiven Ausprägung einen Missstandszeugen dazu bringt, sich für mindestens eine Meldung gegenüber einem bestimmten Adressaten zu entscheiden. Wie der Autor an späterer Stelle zutreffend hervorhebt, kann nur mit diesen Einsichten in den Entscheidungsverlauf die Funktionsweise interner und externer Whistleblower-Systeme beurteilt werden.

Ausgangspunkt ist mit Kapitel 2 die umfassende Auffächerung des Phänomens des Whistleblowing als einem bereits seit der Antike bekannten Verhaltensmuster, das Unternehmen und Staat jeweils für ihre Zwecke nutzbar zu machen versuchen, indem sie die Entscheidungsfindung des Whistleblowers hin zu einem internen bzw. externen Meldeverhalten beeinflussen. Durch die Einbeziehung der nach aktueller Gesetzeslage, und zwar auch für das Ausland, geltenden Anforderungen an, der Chancen und der Risiken für den Meldenden wird das Spannungsfeld gut aufbereitet und eine gleichermaßen verständliche wie tragfähige Grundlage für die weitere Untersuchung gelegt.

Es folgt in Kapitel 3 ein intensiver und in vielerlei Hinsicht aufschlussreicher Blick auf den aktuellen Stand der Forschungs- und Erkenntnislage zum Entscheidungsverhalten von Whistleblowern: Bemerkenswert und dankenswert ist zunächst, dass der Autor die Forschungserkenntnisse zu einzelnen Themenbereichen in tabellarischer Form zusammen- und im Anhang zur Verfügung stellt. Der durch die insgesamt sechzehn Tabellen gegebene Überblick zur Forschung ist hilfreich und aufschlussreich. Dies gilt gerade deshalb, weil die jeweilige nationale Herkunft und der institutionelle Kontext berücksichtigt werden. Durch die inhaltliche Aufbereitung wird deutlich, wie gering die Durchdringung des Themas im Hinblick auf die Entscheidungssituation des Whistleblowers noch ist, was sich an diversen Inkonsistenzen belegen lässt, die der Autor aufzeigt. Angesichts der zuvor herausgearbeiteten Aspekte des Whistleblowings ist dies ein überraschender Befund.

Auf der Grundlage dieser Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand wird das verfolgte Forschungsziel in Kapitel 4 nochmals konkretisiert, was gerade an dieser Stelle durchaus hilfreich ist: Allgemein soll auf nationaler Ebene eine empirisch gestützte Grundlage für die Whistleblower-Forschung unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle gelegt werden, ferner soll ein nationaler Einblick in die Funktion von Individuum und Kontext gewonnen werden, wozu ein Entscheidungsverlaufsmodell entwickelt wird. Das konkretisierte Ziel liegt im Verständnis der Art und Weise wie sich die Faktoren aus personalen, situativen und organisatorischen Bedingungen in der subjektiv empfundenen Handlungsnotwendigkeit so niederschlagen, dass sich der Insider zu einer Mitteilungshandlung entschließt.

In Abgrenzung zu den dargestellten empirischen Arbeiten und ihren Ergebnissen wird die durch den Autor gewählte und in ihrer Ausgestaltung näher begründete Methodik, nämlich die des gestützten Einzelinterviews, verständlich. Sie ist in besonderer Weise geeignet, die auf der subjektiven Ebene liegenden Faktoren für das Forschungsanliegen verwertbar zu ermitteln. Mit 28 Personen, die als Zeugen von Missständen externe Adressaten kontaktiert hatten, wurden Einzelinterviews geführt. Von den interviewten Whisteleblowern kamen sechzehn aus dem Gesundheitswesen, die weiteren zwölf Interviewten kamen aus unterschiedlichen Branchen und Hierarchiestufen, sie konnten über einen Aufruf gewonnen werden. Ergänzende Interviews hat der Autor mit insgesamt elf operativ tätigen Experten geführt. Die Interviews von ca. 90 bis 250 min Länge wurden in drei Phasen (Einzelfallanalyse, generalisierende Analyse, Feinstrukturierung) ausgewertet.

Die Forschungsresultate sind in Kapitel 5 in jeder Hinsicht strukturiert und sorgfältig aufbereitet: Überzeugend ist zunächst das erarbeitete Verlaufsmodell, das der Autor sozusagen vor die Klammer gezogen hat. Es besteht in Fortschreibung der zuvor dargestellter Grundmodelle aus vier Stufen und gibt in hohem Maße Aufschluss zum Whitleblowing in seinem idealtypischen Kausalverlauf, wie er nach außen mit folgenden Elementen, aber im Buch leider grafisch schlecht lesbar, in Erscheinung tritt: Die Wahrnehmung des Initialmissstandes (I) als notwendiges, aber nicht notwendigerweise die Meldung auslösendes Ereignis; die misstandsbezogene Ersthandlung (II), mit denen noch unterhalb der Meldung liegend Nachforschungen unternommen oder Gespräche geführt werden; es folgt die interne Erst-/Folgemitteilung (III), wenn in der Organisation Adressaten vorhanden sind, die eine Korrektur erwarten lassen; schließlich die externe Erst-/Folgemitteilung (IV), mit der der Meldende die Grenze von der Selbstkontrolle der Organisation nach außen überschreitet und externe Stellen anruft, womit die höchste Hemmschwelle verbunden ist. Dieser Prozess ist, wie auch im subjektiven Verlauf deutlich wird, in hohem Maße durch die repressive Gegensteuerung der Betroffenen gekennzeichnet, die sich gegen die von dem Whistleblower intendierten Korrekturen wehren. Der Exkurs auf die Perspektive der internen und die externen Annahmestellen als Ergebnisse entsprechender Experteninterviews rundet die Überlegungen zum objektiven Verlaufsmodell ab.

Den Stadien des objektiven Prozessverlaufs hat der Autor sodann die festgestellten Verläufe der den Interviews zugrunde liegenden Fälle zugeordnet, mit dem Ergebnis, dass immerhin zehn Fälle diesem idealtypischen Verlauf entsprachen. Die acht Fälle, in denen nur externe Meldungen abgegeben wurden, konnten damit erklärt werden, dass außer dem Vorgesetzten keine Anlaufstelle vorhanden war. Nur eine geringe Zahl von fünf Personen hat es bei einer internen Meldung belassen, ist aber dann selbst aus der Situation ausgeschieden. An dieser Stelle, lag dann auch der Schwerpunkt des subjektiven Verlaufsmodells: Warum und wie wird der Whistleblower von dem Element der organsiationsintenen Selbstregulierung durch den Schritt nach außen zum Element der externen Kontrolle?

Im subjektiven Verlaufsmodell (Handlungsimpuls/Kontext-Modell) hat der Autor die innere Entscheidungsfindung unter den vier Dimensionen Handlungsveranlassung, Persönlichkeitsebene, situative Ebene und Organisationsebene systematisch kategorisiert und betrachtet. Der Autor weist nach, wie sich aufgrund der äußeren Umstände und Reaktionen die interne Motivation des Whistleblowers wandelt. Steht am Anfang – altruistisch – der Wunsch des Meldenden nach einer intern im Konsens erreichten Beseitigung eines Missstandes, so wandelt sich diese Motivation infolge der – gerade auch repressiven – Reaktionen der Organisation zu einem – egoistischen – Zwang nach Selbsterhaltung, der den Whistleblower schließlich die hohe Schwelle nach außen überwinden lässt. Dabei ist zu beachten, wie der Autor darstellt, dass – spiegelbildlich – auch bei dem Missstandverantwortlichen die gleichen Faktoren wirken, also je nach Persönlichkeitsstruktur in gleicher Weise Ängste bestehen.

Die Erkenntnisse zum Zusammenwirken der unterschiedlichen subjektiven Dimensionen im Zusammenspiel mit den Stationen des objektiven Verlaufs fasst der Autor grafisch in dem subjektiven Verlaufsmodell zusammen. Die geschlossene Darstellung eines beispielhaften Falles verdeutlicht die Zusammenhänge eindrucksvoll.

Die für die Situation in Deutschland gefundenen Ergebnisse gleicht der Autor mit dem in Teil 2 dargestellten Stand der internationalen Forschung ab. Fazit: „Die starre Whistleblowing/Schweigen-Dichotomie verschwimmt deutlich im Konglomerat der einzelfallkonkreten Handlungschronologie (…) und den dazugehörigen Interaktionen“. Wie schon eingangs angemerkt, verdecken Begriffe leicht die Komplexität der Realität.

Im 6. Kapitel zieht der Autor die Folgerungen seiner Ergebnisse: Aus kriminologischer Sicht ist Whistleblowing als Kontrollinstrument bedingt geeignet, da es nur nutzbar gemacht werden kann, wenn die bestehenden Einflussmöglichkeiten auf das positive Meldeverhalten genutzt werden und alle Organisationen, intern wie extern, ein gleichermaßen hohes Interesse an der Meldung wie auch Kompetenz in ihrer Verwertung aufweisen. Gerade hinsichtlich des Interesses stellt der Autor nachvollziehbar fest, dass interne und externe Organisationen gegenläufige Interessen haben. Die internen Stellen haben in dem Konkurrenzkampf einen deutlichen Vorteil, wenn die nötigen organisatorischen Voraussetzungen bestehen. Für den staatlichen Kontrollansatz ist dies ein Dilemma, das sich auch de lege ferenda letztlich nicht beheben lässt, auch wenn der Autor dafür plädiert, die Voraussetzungen zur Zulässigkeit externen Whistleblowings zu senken.

Abschließend bleibt festzustellen, dass das Vorgehen des Autors fundiert, gründlich, sehr gut abgeleitet und immer zielorientiert ist. Die im Praxisteil wiedergegebenen Zitate aus den geführten Interviews ermöglichen es, die durch den Autor gezogenen Schlüsse konkret nachzuvollziehen. Dadurch werden die Ergebnisse greifbar und die Erkenntnisse zudem unmittelbar für andere Zusammenhänge nutzbar. Erschwert wird der Umgang mit den Interviews dadurch, dass wirklich jede Äußerung der Gesprächsteilnehmer in die schriftliche Wiedergabe einbezogen wird. Unter dem so erreichten Höchstmaß an Authentizität leidet partiell die Lesbarkeit dieser Passagen. Gleichwohl: Die Arbeit ist aufgrund der guten Auffächerung der Relevanzen ein äußerst erkenntnisreicher Beitrag zur Diskussion über das Phänomen des Whistleblowings und den Möglichkeiten seiner Nutzbarmachung durch Unternehmen bzw. den Staat.

Die Arbeit ist trotz ihres hohen wissenschaftlichen Gehaltes und über die durch den Autor unmittelbar behandelte Perspektive hinaus auch für Praktiker von Interesse, weil sie diesen hilft, das Phänomen des Whistleblowing in seiner Mehrdimensionalität zu begreifen, die Akteure und ihre Motive zu verstehen sowie das Stadium objektiv einordnen zu können, um so das eigene situative Verhalten darauf einzustellen. Die in ihrem empirischen Teil enthaltenen Aussagen, die Hinweise auf Ursachen, Ausprägungen und Folgen mangelhaften Führungsverhaltens geben, sind  für  unternehmensintern  verantwortliche  Aufsichtspersonen von Interesse, die sich für diejenigen äußeren Faktoren interessieren, welche für die Meldung von Missständen in Unternehmen und Organisationen von Bedeutung sind.

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