von OStA Dieter Kochheim
Beitrag als PDF Version / BGH, Urt. v. 26.4.2017 – 2 StR 247/16*
I. Das Problem: Durchsuchung und Zugriff während laufender verdeckter Ermittlungen
Die Strafprozessordnung lässt zur Aufklärung erheblicher, schwerer und besonders schwerer Formen der Kriminalität verdeckte und auf Dauer angelegte Eingriffsmaßnahmen zu. Ihre wesentlichen Formen sind die längerfristige Observation (§ 163f StPO) sowie der verdeckte Ermittler (§ 110a StPO; erhebliche Kriminalität), die Überwachung der Telekommunikation einschließlich der Quellen-TKÜ (§ 100a StPO n.F.), die laufende Aufzeichnung von Verkehrsdaten (§ 100g Abs. 1 StPO) sowie der kleine Lauschangriff (§ 100f StPO; schwere Kriminalität) und die Onlinedurchsuchung (§ 100b StPO n.F.) sowie der große Lauschangriff (§ 100c StPO; besonders schwere Kriminalität). Ihnen ist gemeinsam, dass sie grundsätzlich dem Richtervorbehalt unterliegen.
Während der laufenden verdeckten Ermittlungen werden immer wieder Erkenntnisse über illegale Transporte oder Absatzhandlungen gewonnen (zum Beispiel Schleusungen, BtM, Zigaretten, gestohlene Fahrzeuge), die zwar zu derselben Tatserie gehören, die Anlass zu der Eingriffsmaßnahme gegeben hat, die aber – besonders wegen der Hinterleute – noch längst nicht aufgeklärt ist. Das Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) zwingt grundsätzlich auch zum Einschreiten wegen des einzelnen Delikts und die Strafverfolgung kann nur ausnahmsweise zurückgestellt werden.[1] Eine Durchsuchung des Transporteurs und seines Kraftfahrzeuges nach Maßgabe der Strafprozessordnung verlangt nach einem gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss und das bedeutet in aller Regel, dass auch die Tatsache der noch laufenden verdeckten Maßnahme als Quelle für den Verdacht gegen den Transporteur offenbart werden müsste. Dabei ist zu beachten, dass die Rechtsprechung zu den Verwertungsverboten besonders die Missachtung des Richtervorbehalts und die schwerwiegenden Verstöße gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens hervorhebt,[2] die die Grenze zur Willkür überschreiten.[3] Mit deutlichen Worten hat der BGH 2011 die Verwertung von Erkenntnissen aus einer Durchsuchung verboten, die unter Umgehung des Richtervorbehalts ausgeführt wurde.[4] In der Praxis hat das zu merkwürdigen Lösungen geführt, wobei zum Beispiel zwar vorsorglich ein Durchsuchungsbeschluss erwirkt, aber zunächst nicht gegenüber dem Betroffenen offenbart wurde, um die im Hintergrund weiter laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden.
II. Polizeirecht und Gemengelage
Das Polizeirecht stellt selbständige Eingriffsbefugnisse zum Anhalten von Kraftfahrzeugen und zur Nachschau in ihrem Innern zur Verfügung, denen gemeinsam ist, dass sie keiner gerichtlichen Anordnung bedürfen. Damit heben sie sich von der strafverfahrensrechtlichen Durchsuchung ab (§§ 102, 103 StPO), die grundsätzlich eine gerichtliche Erlaubnis verlangt, wenn nicht Gefahr im Verzug besteht (§ 105 Abs. 1 StPO). Die wichtigsten polizeirechtlichen Ermächtigungsnormen sind insoweit:
§ 36 Abs. 5 StVO: Die Polizei darf eine „allgemeine“ Verkehrskontrolle durchführen und dabei auch den Innenraum besichtigen. Ihre Einzelheiten regeln die Polizeigesetze der Länder.[5]
§ 2 Abs. 2 Nr. 3 BPolG: Der Bundespolizei ist der „Grenzschutz“ übertragen und damit die Gefahrenabwehr im Bereich von der Landesgrenze und bis zu 30 Kilometern Entfernung im Inland. Das berechtigt sie zur Durchsuchung von Personen und Sachen wenn zum Beispiel der Verdacht besteht, dass die Person Sachen mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen (§§ 43 Abs. 1 Nr. 2, 44 Abs. 1 Nr. 3 BPolG).[6]
§ 10 ZollVG: Die Zollverwaltung ist, ohne zur Strafverfolgung befugt zu sein (§ 1 ZollVG), zur „zollamtlichen Überwachung“ berechtigt. Sie umfasst auch das Anhalten von Fahrzeugen und deren Durchsicht.[7]
Mit der Gemengelage geht die Rechtsprechung zum Strafverfahrensrecht schwerfällig um. Sie ist davon gekennzeichnet, dass das Polizei- und das Strafverfahrensrecht dieselben Eingriffe zulassen, aber unter verschiedenen Verfahrensanforderungen. Wegen des Einsatzes eines polizeirechtlich geführten Lockspitzels hat der BGH bereits 1999 festgestellt, dass er einheitlich an den Regelungen der StPO zu messen sei.[8] Die Erkenntnisse aus polizeirechtlichen Anhalte- und Durchsuchungseingriffe werden vom BGH grundsätzlich als verwertbar angesehen,[9] auch wenn ihre strafprozessrechtlichen Entsprechungen (vor allem die Durchsuchung und die Beschlagnahme; §§ 102, 94 Abs. 2 StPO) dem Richtervorbehalt unterliegen, die für den polizeirechtlichen Primäreingriff nicht vorgesehen sind. Wegen der legendierten Kontrolle hat der 5. Strafsenat im Wege einer beiläufigen Erwägung 2011 beanstandet, dass die Verwertung von polizeirechtlich gewonnenen Erkenntnissen mit Blick auf den in § 105 Abs. 1 StPO geregelten Richtervorbehalt nicht unbedenklich erscheine und die Rechtsgrundlage für ihre Verwertung in den Urteilsgründen … nicht ohne Weiteres nachvollziehbar sei.[10] Dagegen hat der 3. Strafsenat die Verwertung von Beweismitteln, die aus einer rein polizeirechtlichen Eingriffsmaßnahme ohne richterlichen Beschluss stammten, als zulässig im Sinne von § 161 Abs. 2 angesehen.[11]
III. Die Lösung des BGH
Alle früheren Entscheidungen zum Thema waren eher „nicht tragend“, also beiläufig (obiter dictum). In ausführlicher Weise hat sich jetzt der 2. Strafsenat mit dem Thema aufgrund einer ausdrücklichen Verfahrensrüge beschäftigt und die Verwertung von Erkenntnissen im Strafverfahren, die durch eine legendierte Kontrolle gewonnen wurden, als zulässig angesehen.[12] Er sieht im Ergebnis keine Probleme beim Richtervorbehalt, sondern besonders wegen der Grundsätze des fairen Verfahrens, die im einschlägigen Zusammenhang nur das Strafverfahrensrecht betreffen.
1. Der Ausgangsfall
Im Kraftfahrzeug des Angeklagten wurden im August 2015 nach dem Überqueren der niederländisch-deutschen Grenze bei einer polizeilichen Personen- und Fahrzeugkontrolle insgesamt 9 Päckchen mit knapp 8 Kilogramm Kokain gefunden. Er hatte das Rauschgift im Auftrag des gesondert Verfolgten B., der sich währenddessen in Marokko aufhielt, in den Niederlanden übernommen und über die Grenze gebracht (E Rn. 3). Schon im April 2015 hatte eine Vertrauensperson Hinweise auf eine marokkanische Personengruppe gegeben, die in großem Stil mit Drogen handele (E Rn. 5). Nach weiteren verdeckten Ermittlungen wurden der Angeklagte und der Hintermann B. identifiziert. Die Ermittlungsbehörden in Frankfurt am Main erwirkten Beschlüsse zur Überwachung der Telekommunikation und zur Observation unter dem Einsatz technischer Mittel (Peilsender; § 100h Abs. 1 Nr. 2 StPO). Dadurch erlangten sie die Kenntnisse davon, dass die Einfuhr geplant war, über ihre Einzelheiten und darüber, dass sich der Angeklagte in den Niederlanden wieder auf den Rückweg machte (E Rn. 5, 6).[13] Um ihre Ermittlungen gegen B. nicht zu gefährden entschlossen sich die Ermittlungsbeamten dazu, den Angeklagten einer sogenannten legendierten Kontrolle durch Beamte der Verkehrspolizei zu unterziehen (E Rn. 6). Dazu wurde – einer gängigen Praxis folgend – kein Durchsuchungsbeschluss erwirkt. Am Tag des Zugriffs fand zunächst eine gemeinsame Besprechung mit zwei Beamten von der Autobahnpolizei Wiesbaden, der Kriminalpolizei aus Frankfurt und dem Leiter des Observationsteams statt. Der Streife wurde neben der Beschreibung und dem Kennzeichen des Fahrzeugs des Angeklagten mitgeteilt, dass es um das Auffinden professionell verbauten Rauschgifts gehe (E Rn. 7). Aus Anlass einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 10 Stundenkilometer stoppte die Streifenpolizei das Fahrzeug des Angeklagten, eröffneten ihm den Verdacht einer Ordnungswidrigkeit und fragte ihn, ob er verbotene Gegenstände bei sich führe, was dieser verneinte (E Rn. 8). Unter dem Einsatz weiterer Polizeibeamter und eines BtM-Spürhundes wurde das Rauschgift schließlich entdeckt und der Angeklagte festgenommen (E Rn. 8).[14] Die Beamten der Verkehrspolizei fertigten auf der Dienststelle einen Bericht, in dem sie Hinweise auf die Ermittlungen der Kriminalpolizei Frankfurt am Main unterließen, wodurch der Eindruck entstand, es habe sich um eine zufällige Verkehrskontrolle gehandelt (E Rn. 9). Auf die verdeckten Ermittlungen wurden weder der Angeklagte während seiner verantwortlichen Vernehmung noch der Haftrichter in Limburg an der Lahn hingewiesen, der gegen den Angeklagten einen Haftbefehl erließ (E Rn. 10, 11). Etwa zwei Wochen später reiste auch der Hintermann B. in das Bundesgebiet ein und wurde seinerseits festgenommen. Erst danach unterrichtete die Polizei aus Frankfurt am Main ihre Kollegen in Limburg von den Einzelheiten der verdeckten Ermittlungen und der legendierten Kontrolle durch einen Vermerk. Diesen Vermerk gab die Polizei an die Staatsanwaltschaft weiter und die Staatsanwaltschaft unterrichtete den Verteidiger des Angeklagten tags darauf durch Übersendung per Fax (E Rn. 11).
2. Rechtsfragen
Bei seiner Argumentation hält sich der BGH an das Schema, das das BVerfG zum hypothetischen Ersatzeingriff und dem sogenannten Doppeltürmodell entwickelt hat.[15] Er fragt zunächst nach der polizeirechtlichen Zulässigkeit der Eingriffsmaßnahme und dann nach der Verwertbarkeit im Strafverfahren, ohne allerdings nach der polizeirechtlichen Zulässigkeit der Informationsweitergabe zu fragen; diese ergibt sich aus § 22 Abs. 1 HSOG.
a) Polizeirechtliche Zulässigkeit
Die polizeirechtliche Eingriffsmaßnahme diente keinen verkehrsbezogenen Zielen, sondern allein dem Auffinden und der Sicherstellung der im Fahrzeug vermuteten Betäubungsmittel. Deshalb liefert das Straßenverkehrsrecht keine einschlägige Ermächtigungsgrundlage für das Anhalten und Durchsuchen, sondern allein das Polizeirecht des Landes Hessen, hier der § 37 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 HSOG (E Rn. 15, 16). Danach dürfen Sachen durchsucht werden, die von einer Person mitgeführt werden, hinsichtlich der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Gegenstände mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen (E Rn. 17). Vergleichbare Vorschriften dürften alle Polizeigesetze der Bundesländer enthalten; in Niedersachsen sind das zum Beispiel die §§ 22, 23 und 26 Nds. SOG. Die wegen Art. 13 GG strengeren Voraussetzungen für die Durchsuchung von Wohnungen … gelten für eine Fahrzeugdurchsuchung nicht (E Rn. 17).
Die gebotenen Anhaltspunkte, die die Eingriffsnorm fordert, sieht der BGH sowohl in den Informationen, die die Streifenpolizei von ihren Kollegen aus Frankfurt am Main erhalten hatten, als auch darin, dass der Drogenspürhund angeschlagen hatte (E Rn. 18). Das ist beachtlich. Gerade die zugelieferten Informationen aus Frankfurt sollten dem Verdächtigen nicht offenbart werden und der Einsatz des Spürhundes erfolgte erst, nachdem der Verdächtige aufgrund einer straßenverkehrsrechtlichen Eingriffsmaßnahme angehalten worden war. Hier klafft eine gewisse Lücke in der Argumentation des BGH. Sinnvoll wäre es gewesen, so zu argumentieren: Die verdeckt ermittelnden Beamten aus Frankfurt durften ihre Erkenntnisse an die Kollegen der Autobahnpolizei aus Wiesbaden weitergeben (§ 481 StPO). Einen Anhalteverdacht mussten sie eigenverantwortlich herleiten und das war die (geringe) Geschwindigkeitsüberschreitung des Angeklagten. Erst nach der Anhaltung durften sie die Informationen aus Frankfurt für die Bewertung der gefahrenrechtlichen Sicherstellungsvermutung nutzen und danach den Spürhund einsetzen, der die Spurenlage abrundete. Das verkürzt der BGH, indem er die Suche und Sicherstellung des Rauschgifts als unabdingbar für den verfolgten Zweck der Sicherstellung als gefahrenabwehrende Maßnahme bezeichnet (E Rn. 18).
b) Gleicher Rang für Prävention und Repression
Bei der Fahrzeugdurchsuchung (handelte es sich) um eine sogenannte doppelfunktionale Maßnahme, bei der die Polizei mit jeweils selbständiger präventiver und repressiver Zielsetzung tätig wurde (E Rn. 20). Eine solche „echte“ doppelfunktionale Maßnahme grenzt das Gericht von solchen Maßnahmen ab, die nur deswegen auch präventiven Charakter besitzen, weil durch die Strafverfolgung ein entsprechender unselbständiger Nebeneffekt erzielt wird, etwa dass der Betroffene durch Festnahme an der Fortsetzung seiner strafbaren Handlung faktisch gehindert wird. In einem solchen Fall der „Prävention durch Repression“ ist das polizeiliche Vorgehen schon nach seiner alleinigen Zwecksetzung ausschließlich strafprozessualer Natur (E Rn. 20).
Nach einer umfassenden Darstellung des Meinungsstandes (E Rn. 21 bis 24) stellt der Senat fest, dass weder ein allgemeiner Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt ein solcher des Gefahrenabwehrrechts gegenüber der Strafprozessordnung bestehe (E Rn. 25). Insbesondere bei sogenannten Gemengelagen, in denen die Polizei sowohl repressiv als auch präventiv agieren kann und will, bleiben strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen grundsätzlich nebeneinander anwendbar (E Rn. 25), weil beide Staatsaufgaben – Gefahrenabwehr und Strafverfolgung – gleichrangig seien (E Rn. 27), keine – auch nur konkurrierende – Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestehe und auch das Bundesrecht im Übrigen keine Vorschriften enthalte, die die gefahrenabwehrrechtliche Prävention verdrängen könnte (E Rn. 29). Das gelte ausdrücklich auch für das Legalitätsprinzip: Solange der repressive Zugriff zeitlich nur hinausgeschoben und nicht ganz oder teilweise unterlassen wird, ist Raum für kriminalstrategisches Vorgehen (E Rn. 31). Hinzu kommt, dass eine starre Verweisung auf die Strafprozessordnung … es den Gefahrenabwehrbehörden unmöglich machen (würde), adäquat und flexibel auf neue, häufig nicht vorhersehbare Gefahrenlagen zu reagieren (E Rn. 30). Der Senat verweist insofern auf die Ermittlungen gegen den Terrorismus und die gebotenen Maßnahmen bei Geiselnahmen.
c) Verwertbarkeit im Strafverfahren
Die Verwertungsermächtigung im Strafverfahren folgt aus § 161 Abs. 2 StPO (E Rn. 37, 38). Bei der Einführung dieser Vorschrift habe sich der Gesetzgeber an der Lehre vom hypothetischen Ersatzeingriff orientiert[16] und sich für eine Lösung nach rein materiellen Gesichtspunkten entschieden. Damit kommt es bei der „Umwidmung“ von auf präventiv-polizeilicher Rechtsgrundlage erlangter Daten nach § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO gerade nicht darauf an, ob die formellen Anordnungsvoraussetzungen nach der Strafprozessordnung, wie hier etwa das Vorliegen einer richterlichen Durchsuchungsanordnung, gewahrt worden sind (E Rn. 38). Ausschlaggebend sei nur, ob die Eingriffsmaßnahme nach dem Polizeirecht zulässig war und die Schwellengleichheit gewahrt ist. Damit ist gemeint, dass die Eingriffsmaßnahme auch nach dem Strafverfahrensrecht zulässig gewesen wäre. Dass das Polizeirecht insoweit keinen Richtervorbehalt vorsehe, sei unbeachtlich. Entscheidend ist, dass ein Ermittlungsrichter bei hypothetischer Betrachtung einen entsprechenden richterlichen Durchsuchungsbeschluss auf strafprozessualer Grundlage zweifelsfrei erlassen hätte (E Rn. 40). Eine rechtsmissbräuchliche Umgehung des Richtervorbehalts bestehe ebenfalls nicht, solange eine Gefahrenabwehr tatsächlich bezweckt und nicht nur vorgeschoben werde, weil eine vergleichbare Maßnahme nach der Strafprozessordnung nicht möglich wäre (E Rn. 41).
d) Schweigen über verdeckte Ermittlungen im Hintergrund
Eine staatliche Pflicht, gegenüber dem Angeklagten strafprozessual tätig zu werden, und ihm gegenüber damit zwangsläufig sämtliche Ermittlungsergebnisse zu offenbaren, bestand aus rechtlichen Gründen (…) nicht (E Rn. 42). Bei seiner ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten nach § 163a Abs. 4 S. 1 StPO zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird. Dabei muss der Tatvorwurf … dem Beschuldigten in groben Zügen so weit erläutert werden, dass er sich sachgerecht verteidigen kann, jedoch nicht so weit, dass die Aufklärung des Sachverhalts und damit die Effektivität der Strafverfolgung darunter leiden (E Rn. 47). Der Vernehmungsbeamte habe einen Beurteilungsspielraum. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach die Tat und nicht die Beweismittel zu eröffnen sind sowie aus § 147 Abs. 2 StPO, wonach Akteneinsicht versagt werden kann, soweit dies den Untersuchungszweck gefährdet (E Rn. 47).
Der Senat diskutiert die Frage nach der möglicherweise unvollständigen Belehrung besonders unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens – ob sie überhaupt das Aussageverhalten des Beschuldigten beeinflusst hat und damit ein Verwertungsverbot begründen könnte – und verneint dies, weil der Angeklagte noch bis in die Hauptverhandlung hinein geschwiegen hat und noch vor der Anklageerhebung über die verdeckten Ermittlungen im Hintergrund informiert worden war (E Rn. 49). Allerdings sei die unvollständige Unterrichtung der Polizei des Zugriffs und des Richters, der den Haftbefehl erließ, im Hinblick auf den Fair-trial-Grundsatz und das Gebot der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit nicht unbedenklich (Rn. 53). Jedenfalls der Ermittlungsrichter müsse den Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehen können, denn es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen (E Rn. 53). Es sei die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, für die Aktenvollständigkeit zu sorgen und das verlange, dass sie über etwaige Hintergründe von polizeilichen Ermittlungen bzw. präventiver Maßnahmen nicht im Unklaren gelassen werden darf. Nur dann ist ein faires rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet (E Rn. 53).
Die Folgen daraus müssten anhand des Einzelfalls entschieden werden. In dem vorliegenden Fall sei der Angeklagte jedenfalls frühzeitig genug unterrichtet worden, um als Kronzeuge gemäß § 31 BtMG in den Genuss der Strafmilderung oder der Straflosigkeit kommen zu können, und das Gericht habe bei der Bemessung des Strafrahmens berücksichtigen können, dass der Zugriff aufgrund einer polizeilichen Observation erfolgte (E Rn. 55).[17]
IV. Ergebnisse: Voraussetzungen für die legendierte Kontrolle
Der Entscheidung des BGH zur legendierten Kontrolle ist zuzustimmen und sie schafft einen Rahmen, mit dem die Strafverfolgungspraxis umzugehen lernen wird.
1. Informationen aus dem verdeckt geführten Verfahren
Nicht erörtert hat der BGH, ob die verdachtsbegründenden Anhaltspunkte aus dem verdeckt geführten Verfahren überhaupt an die Streifenpolizei weitergegeben durften. Die erforderliche Ermächtigung ergibt sich aus § 481 StPO.
2. Rechtmäßigkeit der polizeirechtlichen Eingriffsmaßnahme
Der Beamte, der über eine Eingriffsmaßnahme zu entscheiden hat, muss diese aus eigener Verantwortung treffen. Wenn er sie aus Gründen der Gefahrenabwehr als gerechtfertigt erachtet, ist das polizeirechtliche Verfahren einzuhalten. Verlangt es, anders als das Strafverfahrensrecht, keinen Richtervorbehalt, dann scheitert die strafverfahrensrechtliche „Zweitverwertung“ daran nicht. Die Anknüpfung an eine polizeirechtlich zulässige Eingriffsentscheidung und die Grundsätze, die der BGH wegen der doppelfunktionalen Maßnahmen ausführt, verhindert gleichzeitig alle Hilfskonstruktionen, die zu einer Überdehnung der Zulässigkeit von Zufallsfunden (§ 108 StPO) führen könnten und deshalb unzulässig sind.
Problematisch und erörterungsbedürftig habe ich die offene Dienstbesprechung empfunden, die zwischen den verdeckt ermittelnden Beamten und ihren Kollegen von der Streifenpolizei stattgefunden hat. Die Streifenpolizisten wurden dadurch bösgläubig gemacht und ihre polizeirechtlich begründete Eingriffsentscheidung wurde dadurch jedenfalls motiviert. Der BGH sieht das aber nur als die Übermittlung von Anhaltspunkten an (deshalb mein Hinweis auf § 481 StPO), die die Streifenpolizisten in ihre Eingriffsentscheidung aufnehmen durften. Maßgeblich ist somit der Entscheidungshorizont der eingreifenden Beamten. Solange es sich um eine „echte“ – und nicht nur vorgetäuschte – doppelfunktionale Ermittlungsmaßnahme handelt, muss das Strafverfahrensrecht sie akzeptieren.
3. Rechtmäßigkeit der Verwertung im Strafverfahren
Maßgeblich sind nur die Voraussetzungen des hypothetischen Ersatzeingriffs, der sich am Zeitpunkt und in der Situation bei der Einführung in das Strafverfahren orientiert. Unter verfassungsrechtlicher Betrachtung handelt es sich um einen neuen und weiteren Grundrechtseingriff, der genauso gerechtfertigt sein muss wie der Ersteingriff.[18] Der BGH hat den Maßstab dafür präzisiert: Maßgeblich sind nur die Rechtmäßigkeit des Ersteingriffs und die Schwellengleichheit, also die grundsätzliche Zulässigkeit der Eingriffsmaßnahme nach den Verfahrensregeln des Strafverfahrens.
4. Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit
Die Grenzen der Aktenintegrität lässt der BGH offen[19] und das eröffnet neue Streite in der strafrechtlichen Hauptverhandlung. Schon 1994 hat das BVerfG entschieden, dass jedenfalls in Haftsachen dem Verteidiger alle Informationen zugänglich sein müssen, die auch das über die Haft entscheidende Gericht hat.[20] Andererseits dürfen dem Verteidiger – mit gewissen Ausnahmen – Informationen aus den Akten solange vorenthalten werden, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind (§ 147 Abs. 2 StPO[21]).
Nach den Grundsätzen der kriminalistischen List, dürfen Strafverfolger während der noch laufenden Ermittlungen Tatsachen verschweigen, aber nicht lügen.[22] Insoweit greift die besondere (Gesamt-) Verantwortung der Staatsanwaltschaft für die Rechtmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens.[23] Sie muss während noch laufender verdeckter Ermittlungen darüber entscheiden, ob bestimmte Informationen offenbart werden dürfen oder nicht. Dabei versteht es sich von selbst, dass jedenfalls im Zusammenhang mit Entscheidungen über die Untersuchungshaft keine Informationen verschwiegen werden dürfen, die den Tatverdacht nachhaltig in Frage stellen oder den Schuldgehalt deutlich mildern, weil dadurch der von § 112 StPO verlangte dringende Tatverdacht entfallen würde. Bei belastenden oder den Tatvorwurf womöglich erweiternden Informationen wird man um eine Prüfung im Einzelfall nicht herumkommen.
5. Lehren für das Strafverfahrensrecht
Der Meinungsstreit um die Verwertungsverbote im Strafverfahren, die unklaren Umrisse der Grundsätze des fairen Verfahrens und besonders wegen der legendierten Kontrolle haben in der Vergangenheit eine große Unsicherheit für die Ermittlungspraxis ausgelöst. Die Entscheidung des 2. Strafsenats liefert noch keine vollständige Lösung, ist aber richtungsweisend und deshalb sehr zu begrüßen.
Sie nimmt die anderen Verfahrensordnungen und ihre Voraussetzungen für Eingriffsmaßnahmen zunächst einmal ernst. Die einschlägige Verfahrensordnung bestimmt, ob eine Maßnahme gerechtfertigt und zulässig ist, ohne dass auf Hilfskonstruktionen nach dem Vorbild der Sicherstellung von Zufallsfunden zurückgegriffen werden muss. Ausschlaggebend sind die Grundsätze für die doppelfunktionale Maßnahme. Sie greift, wenn das Polizeirecht die Durchsuchung und Sicherstellung allein schon dann zulässt, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sicherstellungsfähige Gegenstände vorhanden sind. Ganz ähnlich hat sich der BGH auch zu den Erkenntnissen geäußert, die im Wege der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen gewonnen werden:[24] Die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung im ausländischen Recht steht grundsätzlich nicht in Frage. Nur ihre Verwertung im nationalen Recht muss sich den dafür geltenden Bestimmungen beugen. Das gilt jetzt auch für die anderen nationalen Verfahrensordnungen im Polizei- und dem Recht der Nachrichtendienste.[25]
Die Entscheidung des BGH zur legendierten Kontrolle hat eine ganz wesentliche Wirkung: Der Ermittler, der sich an ihr orientiert und sie in ihren aufgezeigten Grenzen anwendet, fällt keine willkürliche Entscheidung, die zu einem Beweisverwertungsverbot führen könnte.
* BGH, KriPoZ 2017, 257. Alle zitierten Gerichtsentscheidungen sind von den obersten Gerichten selber oder in amtlichen Quellen veröffentlicht worden. Zum Zeitpunkt der Niederschrift waren die neuen Vorschriften zur Quellen-TKÜ (§ 100a Abs. 1 S. 2 StPO n.F.) und zur Onlinedurchsuchung (§ 100b StPO n.F.) noch im Gesetzgebungsverfahren. Im Folgenden wird die besprochene Entscheidung nur noch als „E“ mit der betreffenden Randziffer zitiert.
[1] Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren – RiStBV, Anlage D, Teil A, Nr. II. 2.6. S. E Rn. 31.
[2] BVerfG, Beschl. v. 15.10.2009 – 2 BvR 2438/08, Rn. 7
[3] BVerfG, Beschl. v. 9.11.2010 – 2 BvR 2101/09, Rn. 50.
[4] BGH, Beschl. v. 30.8.2011 – 3 StR 210/11, Rn. 8.
[5] In der besprochenen Entscheidung stützt der BGH die Eingriffsbefugnis nicht auf die StVO, sondern nur auf die polizeirechtlichen Vorschriften im Landesrecht (E Rn. 16 bis 18).
[6] Die Eingriffsbefugnisse der Bundespolizei lassen deshalb nach Maßgabe der besprochenen Entscheidung die legendierte Kontrolle zu.
[7] Die besprochene Entscheidung sieht in § 10 ZollVG ebenfalls eine „echte“ doppelfunktionale Maßnahme, die als gefahrenabwehrrechtlicher Eingriff neben einem strafverfahrensrechtlichen Eingriff gewählt werden darf (E Rn. 28).
[8] BGH, Urt. v. 18.11.1999 – 1 StR 221/99, Rn. 52., s. E Rn. 34.
[9] BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – 5 StR 173/13, Rn. 5.
[10] BGH, Beschl. v. 21.7.2011 – 5 StR 32/11, Rn. 20., s. E Rn. 35.
[11] BGH, Beschl. v 8.12.2015 – 3 StR 406/15, S. 2 f., s. E Rn. 36.
[12] BGH, Urt. v. 26.4.2017 – 2 StR 247/16 (= E).
[13] Die polizeiliche Zusammenarbeit mit den Behörden in den Niederlanden scheiterte ausweislich der Urteilsgründe. Warum die Nachrichten vom Peilsender dennoch genutzt werden konnten, verschweigt die Entscheidung.
[14] Jeder erfahrene Strafverteidiger weiß nach diesem Personaleinsatz, dass es sich um eine legendierte Kontrolle handelte.
[15] BVerfG, Beschl. v. 24.1.2012 – 1 BvR 1299/05, Rn. 123; zur Zweckänderung im Strafverfahrensrecht selber: BGH, Urt. v. 27.11.2008 – 3 StR 342/08, Rn. 13.
[16] Verweis auf BT-Drs. vom 27.6.2007 – 16/5846, S. 64.
[17] Strafrahmenverschiebung und -milderung nach BGH, Beschl. v. 12.1.2000 – 5 StR 587/99, Rn. 3.
[18] BGH, Urt. v. 27.11.2008 – 3 StR 342/08, Rn. 13.
[19] Grundlegend: BGH, Beschl. v. 15.10.2010 – 5 StR 119/10, Rn. 10.
[20] BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994 – BvR 777/94.
[21] Zur Zulässigkeit: BVerfG, Beschl. v. 15.1.2004 – 2 BvR 1895/03, Rn. 2.
[22] BGH, Beschl. v. 24.8.1988 – 3 StR 129/88; BGH, Urt. v. 11.2.2010 – 4 StR 436/09, Rn. 11.
[23] BVerfG, Urt. v. 12.4.2005 – 2 BvR 581/01, Rn. 62; BGH, Beschl. v. 23.8.2011 – 1 StR 153/11, Rn. 18; BGH, Beschl. v. 27.5.2009 – 1 StR 99/09.
[24] BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 1 StR 310/12, Leitsätze.
[25] Es besteht eine gewisse Parallelität zur strafverfahrensrechtlichen Behandlung von Sperrerklärungen. Das erkennende Gericht muss zwar alle zumutbaren Anstrengungen für eine vollbeweisliche Beweisaufnahme unternehmen. Scheitert es dabei, bleibt ihm nichts anderes übrig als die fragwürdigen Erkenntnisse (Zeuge vom Hörensagen, behördliche Mitteilung ohne Offenbarung der Quelle oder ihres Zustandekommens) im Rahmen der gebotenen Gesamtschau zu bewerten; BGH, Beschl. v. 3.5.2017 – 3 StR 498/16, Rn. 13, 14.