I. Einleitung
Der Bezugsrahmen der Kriminalpolitik ist traditionell die staatliche Gesetzgebung, der primäre Akteur das nationale Parlament. Dies spiegelt sich auch im Programm der zweiten Tagung des Kriminalpolitischen Kreises wider, allerdings mit Ausnahme des mir zugedachten Themas, das den Blick auf die Einflüsse des Unionsrechts auf die deutsche Strafgesetzgebung lenkt und zugleich mit ironischem Unterton danach fragt, ob und in welchem Umfang dem nationalen Gesetzgeber bei der Ausfüllung des unionsrechtlichen Rahmens überhaupt noch kriminalpolitische Spielräume verbleiben. Besonders deutlich hervorgetreten ist der beklagte Verlust an politischer Gestaltungsmacht (und politischem Gestaltungsanspruch) in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Europäischen Haftbefehl, in dem der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele zu Protokoll gab, dass er sich aufgrund der Vorgaben des Unionsrechts bei der Abstimmung über den Gesetzesentwurf „normativ unfrei“ gefühlt habe.[1] Der dagegen gerichtete Appell des BVerfG an den Gesetzgeber, die Umsetzung von Unionsrecht notfalls zu verweigern,[2] ist seit der Eingliederung der strafrechtlichen Zusammenarbeit in den supranationalen Rahmen des Unionsrechts durch den Vertrag von Lissabon keine Option mehr. Das BVerfG hat vielmehr die Kompetenzen der Union, das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu harmonisieren und dem nationalen Gesetzgeber damit verbindliche Vorgaben zur Ausgestaltung von Strafvorschriften zu machen (Art. 83 AEUV), als mit dem Grundgesetz vereinbar anerkannt.[3] Diese Prämisse liegt – ungeachtet aller Kritik an der Übertragung derartiger Zuständigkeiten auf die Union[4] – den folgenden Ausführungen zu Grunde.
Im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit sind Union und Mitgliedstaaten gemeinsam für die Strafgesetzgebung verantwortlich (geteilte Zuständigkeit, Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV): Die Union legt durch Richtlinien Mindestvorgaben zu Straftaten und Strafen fest (Art. 83 Abs. 1, 2 AEUV), die von den Mitgliedstaaten in das innerstaatliche Recht, d.h. in unmittel-bar anwendbare Strafgesetze, umgesetzt werden. Den Anforderungen an eine rationale, rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtete Strafgesetzgebung muss also nunmehr nicht nur der nationale, sondern auch der europäische Gesetzgeber gerecht werden. Letzteres wird daher zu Recht von der European Criminal Policy Initiative (ECPI) eingefordert.[5] Dessen ungeachtet bleibt der nationale Gesetzgebers bei der Ausfüllung der Gestaltungsspielräume, die ihm die Richtlinie bei der Umsetzung in das innerstaatliche Recht belässt, weiterhin für die Wahrung grundlegender Prinzipien der Strafgesetzgebung verantwortlich.
Wie weit diese Spielräume auf nationaler Ebene reichen und infolgedessen eine prinzipiengeleitete Strafgesetzgebung überhaupt zulassen, wird der folgende Beitrag am Beispiel des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH, Art. 103 Abs. 2 GG) untersuchen. Als Bezugsgegenstand dient der Tatbestand des Menschenhandels (§ 232 StGB), der zur Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie[6] mit dem Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels[7] im Oktober 2016 neu gefasst worden ist.
In einem ersten Schritt werden die unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie erläutert; dabei wird auch auf die Frage einzugehen sein, ob und inwieweit die Definition des tatbestandlichen Unrechts grundlegenden Bestimmtheitsanforderungen gerecht wird (II.). In einem zweiten Schritt (III.) wird sodann auf die Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht beleuchtet, um die eingangs aufgeworfene Frage zu beantworten, ob und inwieweit der deutsche Gesetzgeber den Tatbestand des Menschenhandels präziser hätte fassen dürfen (angesichts der unionsrechtlichen Vorgaben) und müssen (mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot).
II. Die Vorgaben der EU-Richtlinie und ihre Bestimmtheit
Die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels (im Folgenden: EU-Richtlinie) ist die erste Richtlinie zur Strafrechtsangleichung, die auf der Grundlage des Lissabonner Vertrages erlassen worden ist, und ersetzt den entsprechenden Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2002.[8] Die unionsrechtlichen Vorgaben zur Strafbarkeit des Menschenhandels gehen auf völkervertragliche Regelungen gegen den Sklavenhandel zurück, deren Ursprünge sich bis zum Wiener Kongress von 1815 zurückverfolgen lassen.[9] Zentrale Bedeutung hat insoweit die UN-Konvention gegen grenzüberschreitende Kriminalität mit dem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels.[10] Die in Art. 3 des Protokolls enthaltene Definition des Menschenhandels wurde in der EU-Richtlinie (Art. 2) nahezu wortgleich übernommen und nur geringfügig ergänzt (s. dazu sogleich).[11] Der nationale Gesetzgeber hat danach als Menschenhandel folgendes Verhalten unter Strafe zu stellen:
Die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen, einschließlich der Übergabe oder Übernahme der Kontrolle über diese Personen, durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die Kontrolle über eine andere Person hat, zum Zwecke der Ausbeutung (Art. 2 Abs. 1 EU-Richtlinie).
Diese Definition besteht aus drei Unrechtselementen, nämlich der Tathandlung, dem Tatmittel und dem Zweck der Tat:[12]
Als Tathandlungen werden zunächst eine Reihe von Tätigkeiten auf der Nachschub- und Logistikebene genannt, die sämtliche Phasen von der Rekrutierung bis zur Ausbeutung der Opfer erfassen:[13] Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung und Aufnahme von Personen (einschließlich der Übergabe oder Übernahme der Kontrolle über diese Personen).
Zur Ausführung der Tat muss sich der Täter bestimmter Tatmittel bedienen, die es ihm ermöglichen, Kontrolle über das Tatopfer auszuüben: Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit, Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die Kontrolle über eine andere Person hat.
Schließlich muss mit der Tat der Zweck verfolgt werden, das Opfer auszubeuten. Nach Art. 2 Abs. 3 der EU-Richtlinie umfasst der Begriff Ausbeutung die Ausnutzung zur Prostitution oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder erzwungene Dienstleistungen, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Organentnahme. Darüber hinaus werden – über die bisherige völkervertragliche Definition hinaus – auch die Ausnutzung zu Betteltätigkeiten oder Begehung strafbarer Handlungen erfasst.
Sind diese unionsrechtlichen Vorgaben konturlos? Ungeachtet der klaren Struktur der Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts ist einzuräumen, dass die verwendeten Begriffe zum Teil recht vage sind (z.B. Missbrauch von Macht, Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit).[14] Dies gilt auch für die Definition der besonderen Schutzbedürftigkeit, die dann vorliegen soll, wenn das Opfer keine wirkliche oder annehmbare andere Möglichkeit hat, als sich dem Missbrauch zu beugen (Art. 2 Abs. 2 EU-Richtlinie).[15] Mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz wäre dies allerdings nur dann problematisch, wenn man mit den Begründern der European Criminal Policy Initiative davon ausgeht, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Richtlinien an diesen Grundsatz gebunden ist (vgl. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH).[16]
Genau diese Prämisse erscheint indes nicht zweifelsfrei. Art. 83 AEUV ermächtigt zur Festlegung von Mindestvorschriften, d.h. dem nationalen Gesetzgeber bleibt es unbenommen, über diesen strafrechtlichen Mindeststandard hinauszugehen, indem er den Tatbestand weiter fasst.[17] Dementsprechend legt die Richtlinie fest, welche Ausbeutungsformen der nationale Straftatbestand „mindestens“ erfassen muss (Art. 2 Abs. 3 EU-Richtlinie). Soweit der nationale Gesetzgeber sich jedoch auf den unionsrechtlichen Mindeststandard beschränken will, wird die Grenze zwischen straflosem und strafbarem Verhalten im Ausgangspunkt durch Unionsrecht festgelegt. Damit, so könnte man meinen, bleibt der Unionsgesetzgeber in der Pflicht, die entsprechenden Vorgaben für das nationale Strafrecht klar und präzise festzulegen.
Durch diese Vorgaben des Bestimmtheitsgebot gerät der Unionsgesetzgeber indes in einen Zielkonflikt, denn die Beschränkung der in Art. 83 AEUV vorgesehenen Harmonisierungskompetenz auf das Instrument der Richtlinie soll gewährleisten, dass den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben substantielle Spielräume verbleiben.[18] Dieser Umsetzungsspielraum ist notwendig, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die neuen Strafvorschriften in die bestehende Strafrechtsordnung einzufügen, ohne dass Wertungswidersprüche und Inkohärenzen entstehen. Mit der Beschränkung der unionsrechtlichen Vorgaben auf das zur Angleichung unbedingt erforderliche Maß trägt der Unionsgesetzgeber den vertraglichen Schranken für die Kompetenzausübung Rechnung, die sich aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit ergeben (Art. 5 Abs. 4 EUV).[19]
Unbestimmte Begriffe und vage Formulierungen in den unionsrechtlichen Vorgaben mögen daher unter dem Aspekt mangelnder Bestimmtheit kritikwürdig sein, sind aber zugleich mit Blick auf die Wahrung von Umsetzungsspielräumen des nationalen Gesetzgebers zu begrüßen. Bei der Ausfüllung dieser Spielräume ist der nationale Gesetzgeber dann freilich gehalten, die Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes zu beachten.
Exemplarisch: Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten eine erhöhte Strafe vorsehen, wenn dem Opfer durch die Tat ein besonders schwerer Schaden zugefügt wurde (Art. 4 Abs. 2 lit. d EUV). Der deutsche Gesetzgeber hat diese recht ungenaue Vorgabe[20] durch eine Qualifikation umgesetzt, indem er den „besonders schweren Schaden“ durch den Begriff der schweren körperlichen Misshandlung präzisiert hat, der seinerseits an den Begriff der schweren Gesundheitsschädigung (vgl. § 221 Abs. 1 StGB) anknüpft.[21] Dem nationalen Gesetzgeber wird es auf diese Weise ermöglicht, an andere, bereits bestehende Qualifikationen zu anderen Tatbeständen anzuknüpfen. Auf diese Weise wird zweierlei gewährleistet, nämlich einerseits die Kohärenz der nationalen Strafrechtsordnung, andererseits ein höheres Maß an Rechtssicherheit, da die Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung der Qualifikation an ein bestehendes Begriffsverständnis anknüpfen kann.
Nun mag man dagegen einwenden, dass jede Präzisierung durch den nationalen Gesetzgeber das Risiko birgt, die unionsrechtlichen Vorgaben zu verfehlen (z.B. indem in dem oben genannten Beispiel finanzielle Schäden nicht erfasst werden).[22] Im Ergebnis liefe dieser Einwand indes auf eine Forderung nach maximaler Bestimmtheit hinaus, die dem nationalen Gesetzgeber jeden Spielraum bei der Ausgestaltung der betreffenden Strafvorschrift nähme. Das Ziel, den Mitgliedstaaten solche Spielräume zu belassen, ist jedoch in der vertraglichen Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten verankert. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH) gilt insoweit nicht absolut, sondern der Unionsgesetzgeber muss zugleich das kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 4 EUV) beachten.
Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Kritik an der Vagheit der unionsrechtlichen Begriffe „Missbrauch von Macht“ und „Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit“. Natürlich lassen sich diese Begriffe über Definitionen präzisieren, indem etwa die Kriterien angegeben werden, auf denen die Machtstellung des Täters bzw. die Schutzbedürftigkeit (besser: Hilflosigkeit) des Opfers beruht (Alter, Krankheit, wirtschaftliche Not).[23] Es ist jedoch mit Blick auf die vertragliche Kompetenzordnung grundsätzlich legitim, wenn der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten insoweit Umsetzungsspielräume eröffnet und es damit dem nationalen Gesetzgeber überlässt, diese Begriffe zu präzisieren.[24]
Damit ergibt sich als Zwischenfazit eine erste Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Soweit die unionsrechtlichen Vorgaben unbestimmte Begriffe enthalten, ist der nationale Gesetzgeber keineswegs gehalten, diese zu übernehmen, sondern vielmehr im Rahmen der Umsetzung zu einer Präzisierung dieser Begriffe berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet. Der Tatbestand des Menschenhandels ist schon aus diesem Grund nicht „dank EU-Vorgaben“ konturenlos.
III. Die Konturlosigkeit des § 232 StGB
Damit stellt sich die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber seiner Verantwortung gerecht geworden ist, die unionsrechtlichen Vorgaben in dem Tatbestand des Menschenhandels in einer Weise zu präzisieren, die den Vorgaben des Bestimmtheitsgebotes entspricht.
Anders als die vorherige Konzeption, folgt die seit dem vergangenen Jahr geltende Fassung im Ausgangspunkt der völker- bzw. unionsrechtlichen Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts.[25] Die Umsetzung der drei Elemente (Tathandlung, Tatmittel, Tatzweck) variiert dabei allerdings erheblich.
In Bezug auf die Tathandlung werden die unionsrechtlichen Vorgaben nahezu wörtlich übernommen („anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt“). Die Übernahme oder Übergabe der Kontrolle wird nicht eigens erwähnt, aber der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, dass diese von den anderen Handlungen (Weitergabe, Aufnahme) bereits erfasst werden;[26] auch die Richtlinie legt nahe, dass die selbstständige Erwähnung vor allem eine klarstellende Funktion hat („einschließlich“). Die Tathandlungen werden insoweit hinreichend bestimmt beschrieben.
Bei den Tatmitteln wird der Überblick dadurch erschwert, dass der deutsche Gesetzgeber diese zum Teil in § 232 Abs. 1, zum Teil in § 232 Abs. 2 StGB erfasst hat, da er bestimmten Tatmitteln einen höheren Unrechtsgehalt beigemessen hat.[27] Zusammenfassend ergibt sich dabei folgendes Bild:[28]
Tatmittel nach Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 2011/36 |
Tatmittel nach § 232 StGB |
Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung |
Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel (Abs. 2 Nr. 1) |
Entführung |
Entführen (Abs. 2 Nr. 2) |
Betrug, Täuschung |
List (Abs. 2 Nr. 1) |
Missbrauch von Macht, Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit |
|
Erlangung der Kontrolle (durch Gewährung von Zahlungen oder Vorteilen) |
Sich-Bemächtigen (Abs. 2 Nr. 2) |
Übertragung der Kontrolle (durch Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen) |
Vorschub-Leisten der Bemächtigung durch Dritte (Abs. 2 Nr. 2) |
Der Gesetzgeber orientiert sich auch insoweit eng an den unionsrechtlichen Vorgaben, präzisiert diese allerdings weiter, indem er sinngemäß auf entsprechende Tathandlungen in den Delikten zum Schutz der Freiheit Bezug nimmt (§§ 234 ff. StGB).
Von besonderem Interesse ist insoweit die Umsetzung der als zu unbestimmt kritisierten Tatmittel (Missbrauch von Macht, Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit). Der Gesetzgeber fasst diese beiden Tatmittel zusammen, was insofern plausibel erscheint, als Macht und Schutzbedürftigkeit denselben Sachverhalt aus der unterschiedlichen Perspektive von Täter und Opfer darstellen: Es ist regelmäßig die besondere Hilflosigkeit des Opfers, die dem Täter eine entsprechende Machtposition verleiht.[29] Mit der Umsetzung hat der Gesetzgeber dieses Tatmittel konturiert, indem er Kriterien angibt, auf denen die besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers beruhen muss (persönliche oder wirtschaftliche Zwangslage, auslandsspezifische Hilflosigkeit, Alter unter 21 Jahren). Im Schrifttum ist insoweit die Sorge geäußert worden, dass die unionsrechtlichen Vorgaben mit dieser Konkretisierung recht eng gefasst worden seien und es daher unter Umständen einer richtlinienkonformen Auslegung bedürfe.[30] Diese Kritik lässt erkennen, dass das Umsetzungsgesetz jedenfalls in höherem Maße bestimmt ist als die unionsrechtliche Unrechtsbeschreibung. Zudem kann die Rechtsanwendung auch insoweit auf einem weitgehend entwickelten Begriffsverständnis aufbauen. Ein grundlegendes Defizit an Bestimmtheit ist daher nicht auszumachen.
Damit bleibt als drittes Unrechtselement der Tatzweck (Ausbeutung). Die Umsetzung lehnt sich auch insoweit sehr eng an die unionsrechtlichen Vorgaben an.
Tatzweck nach Art. 2 Abs. 3 Richtlinie 2011/36 |
Tatzweck nach § 232 StGB |
Prostitution, sexuelle Ausbeutung |
Prostitution, Vornahme/Duldung sexueller Handlungen (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a) |
Zwangsarbeit, erzwungene Dienstleistungen |
Schuldknechtschaft und entsprechende / ähnliche Verhältnisse (Abs. 1 S. 1 Nr. 2) Ausbeuterische Beschäftigung (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, Abs. 1 S. 2) |
Betteltätigkeiten |
Ausübung der Bettelei (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. c) |
Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken |
Sklaverei und entsprechende / ähnliche Verhältnisse (Abs. 1 S. 1 Nr. 2) |
Leibeigenschaft |
Leibeigenschaft und entsprechende / ähnliche Verhältnisse (Abs. 1 S. 1 Nr. 2) |
Ausnutzung strafbarer Handlungen |
Begehung von mit Strafe bedrohten Handlungen (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. d) |
Organentnahme |
Entnahme von Organen (Abs. 1 S. 1 Nr. 3) |
Der einzige Punkt, in dem der deutsche Gesetzgeber von der unionsrechtlichen Definition abweicht, betrifft die Ausbeutung im Wege der Zwangsarbeit. An die Stelle des unions- bzw. völkerrechtlichen Begriffs („forced labour or services“) tritt in weiten Teilen die ausbeuterische Beschäftigung und damit ein Konzept, das weit über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgeht.
Eine ausbeuterische Beschäftigung liegt vor, wenn die Beschäftigung aus rücksichtslosem Gewinnstreben zu Arbeitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitnehmer stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen (§ 232 Abs. 1 S. 2 StGB).
Das auffällige Missverhältnis ist dem Tatbestand des Wuchers (§ 291 StGB) entlehnt.[31] Diese Bezugnahme trägt jedoch nur bedingt zu einer Konturierung des tatbestandlichen Unrechts bei.[32] So stellt sich bereits die Frage, ob die Kriterien des § 291 StGB (eines Vermögensdelikts) sinnvollerweise auf einen Tatbestand angewandt werden können, der vor Zwang zur Erbringung von Arbeitsleistung schützen soll.[33] Ausweislich der Gesetzesmaterialien will der Gesetzgeber selbst nicht an der im Rahmen des Wuchertatbestandes entwickelten Auslegung festhalten, wonach ein auffälliges Missverhältnis bei Zahlung von weniger als 66 % des Tariflohns anzunehmen ist, sondern ein auffälliges Missverhältnis erst ab einer Unterschreitung des Mindestlohns um mindestens 50 % annehmen,[34] ohne dass ein Grund für diese Abweichung angegeben wird.[35]
Weitere Unsicherheiten ergeben sich daraus, dass die Feststellung einer ausbeuterischen Beschäftigung eine „Gesamtbetrachtung“ erfordert, bei der alle Aspekte des Beschäftigungsverhältnisses zu berücksichtigen sind. Bedeutsam sind u.a. die wöchentliche und tägliche Arbeitszeit, Ruhe- und Pausenzeiten, freie Tage, Urlaubsansprüche, Provisionen, die Gewährung anderer geldwerter Leistungen durch den Arbeitgeber, z. B. von freier Kost und Logis, mögliche unzulässige Lohnkürzungen oder „Strafen“ des Arbeitgebers und sonstige Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz, einschließlich der Einhaltung anerkannter Regeln des Arbeitsschutzes.[36] Ungeachtet der strengeren Anforderungen an das auffällige Missverhältnis (s. oben zur Unterschreitung des Mindestlohns) trägt der Tatbestand trägt damit – wie bereits das entsprechende Merkmal in § 233 StGB a.F. – die Gefahr einer nahezu uferlosen Anwendung in sich.[37]
Schließlich setzt ein ausbeuterisches Verhältnis noch ein „rücksichtsloses Gewinnstreben“ voraus. Mit diesem Merkmal wollte der Gesetzgeber Konstellationen ausschließen, in denen der Täter aus einer persönlichen Notlage heraus handelt.[38] Ob dem Merkmal damit eine sinnvolle Funktion zugewiesen werden kann, wird jedoch mit der (rhetorischen) Frage nach dem „rücksichtsvollen Ausbeuter“ zu Recht bezweifelt.[39]
Die Feststellung eines ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisses ergibt sich damit aus einer Gesamtwürdigung objektiver und subjektiver Umstände, die im Gesetz nur ansatzweise beschrieben sind und deren Inhalt und Gewicht weitgehend unklar bleiben; das Ergebnis der Prüfung ist daher für den Normadressaten kaum vorhersehbar.
Als Zwischenfazit ist daher auch mit Blick auf die Neufassung des § 232 StGB festzuhalten, dass ein Mangel an Bestimmtheit nicht auf die unionsrechtlichen Vorgaben, sondern auf die Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen ist, den Tatbestand des Menschenhandels auf ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse zu erstrecken.
IV. Ergebnis und Schlussbetrachtung
Die im Titel dieses Beitrags enthaltene These, dass die Unbestimmtheit des § 232 StGB den Vorgaben des Unionsgesetzgebers zu verdanken ist, ist nach alledem nicht begründet. Soweit sich der Wortlaut des § 232 StGB eng an den unionsrechtlichen Vorgaben orientiert, gibt er in puncto Bestimmtheit kaum Anlass zu Kritik (s. oben zu Tathandlungen, Tatmittel und Tatzweck). Demgegenüber wird der neue Tatbestand – wie auch die Vorläuferfassung – vor allem dort wegen seiner Unbestimmtheit kritisiert, wo der deutsche Gesetzgeber über die unionsrechtlichen Pflichten hinausgegangen ist (s. oben zur ausbeuterischen Beschäftigung).
Darüber hinaus begegnet die Ausgangsthese auch grundsätzlichen Bedenken: Soweit die EU-Richtlinie Vorgaben enthält, die vage und unbestimmt sind, steht es dem deutschen Gesetzgeber nicht an, diese in stiller Demut hinzunehmen und möglichst wortlautgetreu („eins zu eins“) in das deutsche Recht umzusetzen. Mit Blick auf die vertragliche Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten und die Eigenheiten der Richtlinie als Instrument der Strafrechtsangleichung ist es vielmehr Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, die ihm auf diese Weise eröffneten Spielräume in eigener Verantwortung auszufüllen und in Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben Strafgesetze zu erlassen, die dem Bestimmtheitsgebot hinreichend Rechnung tragen.[40]
Dies entspricht auch der individualschützenden Funktion des Bestimmtheitsgebotes: Anders als der Unionsgesetzgeber, der über Richtlinien nur punktuell auf die Strafgesetzgebung einwirkt, kann der nationale Gesetzgeber an Begriffe und Rechtsnormen anknüpfen, die in der nationalen Strafrechtsordnung und ihrer strafrechtlichen Dogmatik fest verankert sind und damit Orientierung für die Auslegung und Anwendung des harmonisierten Strafrechts bieten können. Daraus ergibt sich eine reduzierte Bindung des Unionsgesetzgebers an das Bestimmtheitsgebot, der bei dem Erlass von Richtlinien zur Strafrechtsangleichung eine praktische Konkordanz zwischen Bestimmtheitsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH) und der Rücksicht auf die Kompetenz des nationalen Strafgesetzgebers (Art. 5 Abs. 4 EUV) herzustellen hat.
Die Europäische Kriminalpolitik liegt damit in der gemeinsamen Verantwortung des unionalen und des nationalen Strafgesetzgebers. Ungeachtet der Verbindlichkeit der nach Art. 83 AEUV erlassenen Richtlinien sollte der deutsche Gesetzgeber daher genau prüfen, welche Umsetzungsspielräume ihm verbleiben. Die Vagheit sekundärrechtlicher Vorgaben stellt ihn keineswegs von der Bindung an den Bestimmtheitsgrundsatz frei.
[1] Zitiert nach Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht (2006), S. 247.
[2] BVerfGE 113, 273 (301).
[3] BVerfGE 123, 267 (369 ff., 406 ff.).
[4] S. zuletzt Noltenius, Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts, 2017, S. 344 ff.
[5] Asp/Bitzilekis/Bogdan/Elholm/Foffani/Frände/Fuchs/Kaiafa-Gbandi/Leblois-Happe/Nieto/Martín/Prittwitz/Satzger/Symeonidou-Kastanidou/Zerbes, European Criminal Policy Initiative (ECPI) Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, 697 ff.
[6] Richtlinie 2011/36/EU v. 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, ABl. EU L 101/1.
[7] Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels v. 11.10.2016, BGBl. I 2016, S. 2452.
[8] Rahmenbeschluss 2002/629/JI v. 19.7.2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels, ABl. EU L 203/1.
[9] Eingehend zur historischen Entwicklung Knospe, ZESAR 2017, 69 (70 ff.).
[10] Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels v. 15.11.2000 (BGBl. II 2005, S. 995); s. auch das Europarats-Übereinkommen gegen Menschenhandel v. 16.5.2005 (SEV Nr. 197).
[11] S. auch den Verweis auf das Zusatzprotokoll und das Europarats-Übereinkommen (jeweils Fn. 10) in Erwägungsgrund (9) der Richtlinie.
[12] Erläuternder Bericht zum Europarats-Übereinkommen gegen Menschenhandel, Rn. 74 ff.; McClean, Transnational Organized Crime – A Commentary on the UN Convention and its Protocols, 2007, S. 323; Pintaske, Das Palermo-Übereinkommen und sein Einfluss auf das deutsche Strafrecht, 2014, S. 281 ff.
[13] Renzikowski, Strafvorschriften gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution de lege lata und de lege ferenda, 2014, S. 7.
[14] Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (114); s. auch die allgemeine Kritik von Corral-Maraver, EuCLR 2017, 123 (136 f.).
[15] Satzger/Zimmermann/Langheld, a.a.O.; vgl. dagegen ECPI, ZIS 2009, 697 (703).
[16] ECPI, ZIS 2009, 697 (698); dezidiert Satzger, in: Böse (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 41 ff.
[17] Zumindest in Bezug auf den hier thematischen Art. 83 Abs. 1 AEUV ist dies allgemein anerkannt, s. insoweit Böse, in: ders. (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 4 Rn. 13 m.w.N.
[18] S. auch ECPI, ZIS 2009, 697 (698).
[19] S. allgemein F. Meyer, Strafrechtsgenese in Internationalen Organisationen, 2012, S. 355 m.w.N.; s. insoweit zur Harmonisierung von Strafen und Strafrahmen: Generalanwalt Mazak, Schlussanträge v. 28.6.2007, in: EuGH Rs. C- 440/05, Slg. 2007, I-9097 Rn. 106 ff.
[20] S. die entsprechende Kritik von Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (115).
[21] S. insoweit BT-Drs. 18/9095, S. 31.
[22] Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (115); Satzger, in: Böse (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 61.
[23] S. insoweit die Vorschläge bei Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (118).
[24] S. auch zu ausdrücklich eingeräumten Umsetzungsspielräumen: Satzger, in: Böse (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 61; s. auch ECPI, ZIS 2009, 697 (698).
[25] S. insoweit Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK-StGB, 5. Aufl. (2017), vor § 232 Rn. 1, § 232 Rn. 2 f.; Renzikowski, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 232 Rn. 29 ff.
[26] BT-Drs. 18/9095, S. 23 f.
[27] BT-Drs. 18/9095, S. 26.
[28] S. insoweit BT-Drs. 18/9095, S. 24 f., 30.
[29] S. dagegen die Kritik an der fehlenden Umsetzung des Elements „Missbrauch von Macht“: Bürger, ZIS 2017, 169 (176).
[30] Eisele, Schriftliche Stellungnahme, Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 8.6.2016, S. 5 f.; Petzsche, KJ 50 (2017), 236 (241).
[31] BT-Drs. 18/9095, S. 27 f.
[32] Vgl. dagegen die grundsätzlich positive Stellungnahme zu § 232 Abs. 1 S. 2 StGB bei Bürger, ZIS 2017, 169 (175).
[33] Vgl. die entsprechende Kritik am wirtschaftlichen Konzept der Ausbeutung in § 232 StGB: Renzikowski, Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 8.6.2016, S. 6.
[34] BT-Drs. 18/9095, S. 28.
[35] Kritisch auch Petzsche, KJ 50 (2017), 236 (242); Renzikowski (Fn. 33), S. 9.
[36] BT-Drs. 18/9095, S. 28.
[37] S. bereits die Kritik von Eydner, NStZ 2006, 10 (11, 13).
[38] BT-Drs. 18/9095, S. 28.
[39] Renzikowski (Fn 33), S. 10; s. auch Petzsche, KJ 50 (2017), 236 (242).
[40] Diese Spielräume sind enger, soweit der nationale Gesetzgeber über eine Richtlinie nach Art. 83 Abs. 2 AEUV zur Kriminalisierung von Verstößen gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verpflichtet wird. Das Unionsrecht kann insoweit allerdings auch eine strafbarkeitsbegrenzende Wirkung entfalten, s. zum Kapitalmarktstrafrecht Böse, wistra 2018 (im Erscheinen).