Editorial

 

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Am 9. November 2018 trafen sich die Mitglieder des Kriminalpolitischen Kreises auf Einladung von Professor Cornelius Prittwitz an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. zu ihrer Jahrestagung. Unter dem Titel „Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik“ beschäftigte sich der Kreis mit dem Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft als (kritische) Begleiterin der Strafgesetzgebung. Für die großzügige finanzielle Förderung der Tagung danken die Organisatoren und Teilnehmer dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.

Der erste Teil der Tagung diente der Selbstreflexion: Welchen Einfluss haben politische Einstellungen und nebenberufliches Engagement auf die eigenen wissenschaftlichen Positionen?

Nicht nur stark ethisch gefärbte kriminalpolitische Fragen – etwa zur Strafbarkeit von Sterbehilfe oder zum Schwangerschaftsabbruch – werden durch allgemeine politische Überzeugungen geprägt; auch scheinbar rein rechtsdogmatische Ansichten können von einer grundlegenden Einstellung – etwa: liberal oder konservativ, punitiv oder eher permissiv – beeinflusst sein. In der Diskussion nach einem einführenden Referat von Prittwitz herrschte im Kreis weitgehend Einigkeit, dass sich politische Ansichten und strafrechtliche Positionen in der Person des Strafrechtswissenschaftlers nicht klar trennen lassen. Für die Arbeit der Strafrechtswissenschaft ist dieser – an sich triviale – Befund nicht unwichtig. Einerseits erleichtert er einen offenen Umgang mit Ansichten, die von der je eigenen abweichen: Akzeptiert man den Einfluss von Vorprägungen und Vorverständnissen, so erweist sich die eigene Auffassung nicht als alternativlos, und andere Meinungen lassen sich von ihren Prämissen her verstehen und einordnen. Andererseits sollten VertreterInnen der Strafrechtswissenschaft, wenn sie den Gesetzgeber kritisieren, stets offenlegen, ob Hintergrund ihrer Kritik tatsächlich normative und rechtsdogmatische Erwägungen oder in Wahrheit kriminalpolitische Überzeugungen sind. Große Sensibilität ist im Bereich der Kriminologie geboten, da im Umgang mit Daten und Statistiken in besonderer Weise der Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Zugleich berührt die Auseinandersetzung mit Phänomenen der Kriminalität nicht selten heikle oder stark politisch besetzte Themen (etwa Ausländerkriminalität, Resozialisierung oder Jugendstrafrecht). Im Bereich der empirischen Forschung dürfen politische Überzeugungen weder bei der Formulierung von Forschungsfragen noch bei der Interpretation der Ergebnisse eine Rolle spielen.

Der Kreis sprach, im Anschluss an ein Referat von Professor Hans Kudlich (Erlangen-Nürnberg), auch über die Gefahren einer Beeinflussung strafrechtswissenschaftlicher Publikationen durch Verteidigungs- oder Gutachtertätigkeit. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass auf solchen Tätigkeiten beruhende Veröffentlichungen nicht zu beanstanden sind, wenn sie einen wissenschaftlichen Mehrwert bieten. Die Wissenschaftsethik gebietet es jedoch, deutlich auf den Hintergrund des Beitrages hinzuweisen. Zudem sollte das Wissen um die eigene Parteilichkeit zu Zurückhaltung in der Formulierung der vertretenen Position Anlass geben. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, in welchem Umfang eine nebenberufliche Verteidigungs- oder Gutachtertätigkeit rechtlich und ethisch vertretbar ist. Der Kreis hat sich vorgenommen, über die Einführung (und mögliche Regelungsinhalte) eines diesbezüglichen Code of Conduct für Wissenschaftler zu diskutieren.

Für einen Kreis, der seine Aufgabe in der kritischen Begleitung von Gesetzgebungspolitik sieht, besteht eine wesentliche Herausforderung darin, Maßstäbe zu entwickeln, anhand derer das Gelingen oder Misslingen legislatorischer Bemühungen (oder deren Ausbleiben) bestimmt werden soll. Mit dieser Frage setzten sich Professor Wolfgang Mitsch (Potsdam) sowie in einem gemeinsamen Beitrag die Professoren Michael Kubiciel (Augsburg) und Thomas Weigend (Köln) auseinander. Mitsch (in diesem Heft S. 29 ff.) verteidigte für den Bereich der Gesetzgebungskritik den Wert des Rechtsgutsbegriffs, den er als im Kern individualschützend interpretierte. Kubiciel und Weigend (in diesem Heft S. 35 ff.) sahen das Potential des Rechtsgutskonzepts dagegen als eher gering an. Sie schlugen als alternative Gesichtspunkte die Fragen vor, ob ein Gesetzgebungsvorhaben der bestehenden „inneren Grammatik“ des Strafrechts gerecht wird und ob es den Freiheits(grund)rechten des potentiellen Täters genügend Spielraum belässt.

In einem weiteren Panel wurde über die Perspektiven von straf- und strafverfahrensrechtlichen Reformen in der laufenden Legislaturperiode diskutiert. Ministerialdirigent Dr. Matthias Korte (BMJV) gab einen instruktiven Überblick über die nach dem Koalitionsvertrag auf den Agenda der nächsten Jahre stehenden Reformprojekte, wie beispielsweise eine Verstärkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Verbänden sowie eine Regelung zu unternehmensinternen Ermittlungen und zur Verwendung der durch sie gewonnenen Informationen. Er wies außerdem auf die wichtigen Wechselbeziehungen zwischen Gesetzgebungsinitiativen der EU und der nationalen Reformpolitik hin. Korte kritisierte, dass Äußerungen aus der Strafrechtswissenschaft häufig erst nach dem Inkrafttreten von Gesetzen erfolgten und sich dann auf den (oft vergeblichen) Versuch konzentrierten, die Verfassungswidrigkeit der Gesetzgebung darzutun. Er regte an, dass sich die Strafrechtswissenschaft möglichst frühzeitig mit Vorschlägen und Stellungnahmen in das Gesetzgebungsverfahren – auch auf europäischer Ebene – einbringen sollte.

Beispielhaft behandelten Professorin Susanne Beck (Hannover) die Pläne für eine Überarbeitung des Cyber-Strafrechts und Professor Karsten Altenhain (Düsseldorf) mögliche Veränderungen im Strafverfahrensrecht (in diesem Heft S. 41 ff.). Altenhain monierte, dass die ins Auge gefassten Änderungen (z.B. Erweiterung der Möglichkeiten des Gerichts, Ablehnungs- und Beweisanträge zurückzuweisen bzw. zurückzustellen; Ausdehnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO) hauptsächlich auf Anstöße aus der richterlichen Praxis reagierten und kein Gesamtkonzept einer Modernisierung des Strafverfahrens erkennen ließen. Professorin Anja Schiemann (DHPol Münster) referierte über Sachgebiete, die der Reform bedürfen, aber aus dem Blickfeld der Bundesregierung geraten zu sein scheinen, wie etwa die Lösung der Probleme uneinbringlicher Geldstrafen und der Ersatzfreiheitsstrafe, die Streichung des Tatbestandes der Beförderungserschleichung und die gebotene Neuformulierung der §§ 20 und 211 StGB (in diesem Heft S. 47 ff.).

Die lebhaften Diskussionen unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen machten die Brisanz der in den Referaten angesprochenen  grundsätzlichen Fragen  für  das Unternehmen einer konstruktiven Begleitung der Kriminalpolitik deutlich. Der Kriminalpolitische Kreis greift einige der aktuellen Politikfelder in Arbeitsgemeinschaften (etwa zum Allgemeinen Teil, zur Digitalisierung, zum Medizinstrafrecht und zum Strafprozessrecht) auf, in denen konkrete Vorschläge zur Gesetzgebung entwickelt werden sollen. Auf seiner nächsten Tagung im November 2019 in Berlin wird er sich mit dem Einfluss empirisch-kriminologischer Erkenntnisse auf die Kriminalpolitik beschäftigen.

Prof. Dr. Elisa Hoven, Universität Leipzig
Prof. Dr. Thomas Weigend, Universität zu Köln

 

 

 

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