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Neuere Entwicklungen in der Kriminalpolitik als Ausdruck der Krise des Liberalismus

von Max Wrobel 

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Abstract
Der Beitrag analysiert aktuelle Phänomene der Kriminalpolitik vor dem Hintergrund der These eines gegenwärtigen antiliberalistischen Umschwungs. Zugrunde gelegt wird – notwendig vergröbernd – das Luhmann’sche Modell funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, in welchem die Kriminalpolitik als ein gesellschaftlicher Funktionsbereich unter vielen verortet ist. Zur Entfaltung der These soll einführend die gesellschaftliche Entwicklung prägnant anhand anderer gesellschaftlicher Funktionsbereiche exemplifiziert werden.

The article analyzes current phenomena in criminal policy in the light of the thesis of a current anti-liberalist turnaround. On the basis – necessarily coarsening – is the Luhmann model of functional differentiation of society, in which crime policy is located as a social functional area among many. In order to unfold the thesis, at first social development should be exemplified using other social functional areas. 

I. Eine essayistische Vorbemerkung

Unerbittlich schreitet die evolutive[1] Entwicklung politischer Ideengeschichte[2] zwischen Liberalismus und Antiliberalismus alternierend voran. Der gegenwärtig in nahezu jeder politisch verfassten Gemeinschaft der Welt[3] diagnostizierte antiliberalistische Umschwung erfasst sämtliche gesellschaftliche Funktionsbereiche. Schlaglichtartig sind hier einleitend die folgenden Bereiche der Politik, Wissenschaft und Kultur zu nennen.

Augenfällig ist zunächst die Etablierung eines (zumeist aber nicht ausschließlich rechts-)populistischen Politikstils, der mittlerweile im parlamentarischen Alltag angekommen ist.[4] Hierfür erwies sich die technologisch hochgerüstete Kommunikationsstruktur des beginnenden 21. Jahrhunderts als Brandbeschleuniger, da sich die aufstrebenden politischen Akteure den algorithmusbasierten – durch ausländische Privatunternehmen bereitgestellten und durch das Geschäftsgeheimnis geschützten – Plattformen bedienen konnten, die ungeahnte Möglichkeiten der Informationsverbreitung und -rezeption eröffneten. Wie sich zeigte, zählte fortan entgegen der herkömmlichen demokratietheoretischen Annahme einer Durchsetzung des besten Arguments nur noch die Verbreitungsrate bzw. -potenz einer Information.[5] Jene lässt sich mithilfe von teils unerwartet drastischen, gerade die deutsche Gesellschaft in ihrem gegenbildlich[6] konstituierenden Selbstverständnis erschütternden Tabubrüchen am besten erreichen, da es nur auf den „Knall-Effekt“ der Meldung ankommt und die von Art. 5 GG determinierte zwischengeschaltete Redaktionsarbeit hierfür überflüssig wird.[7] Wie verschiedentlich gezeigt sind die verbreiteten Ideen[8] nicht neu.[9] Lediglich ihre gesellschaftliche Wirkmacht wird durch die aktuellen Rahmenbedingungen potenziert und sorgt so für eine allgegenwärtige Stimmung der Bedrohung kultureller Identität,[10] die wiederum die Selbstausrichtung der Gesellschaft hin zu antiliberalistischem Gedankengut begünstigt.

Des Weiteren ist auf die Bedeutung der akademischen Geisteswissenschaften als – in seiner gesellschaftlichen Relevanz unterschätztem – Funktionsbereich hinzuweisen. Mit der Entstehung der modernen Sozial- und Politikwissenschaften gaben diese analytischen Textwissenschaften der Gesellschaft erst die Werkzeuge an die Hand, mit denen antiliberalistische Entwicklungen epistemisch erfasst werden können.[11] Wird die Förderung dieser – wie etwa in Brasilien oder China zu beobachten[12] – staatlicherseits zurückgefahren, offenbart sich einmal mehr, dass kritischem Denken nicht in jeder Herrschaftsform eine elementare Stellung zugewiesen ist. Auch hierzulande wird nur allzu oft herablassend auf die Geisteswissenschaften geschaut und damit ihr spezifischer Eigenwert verkannt. Verliert eine Gesellschaft jedoch die Werkzeuge zur Registrierung von Freiheitseinbußen der diese konstituierenden Individuen, verbleibt sie nur noch als formbare Masse,[13] der ein beliebiger (kollektiver) Handlungszweck[14] oktroyiert werden kann.

Ein weiterer betroffener Funktionsbereich ist schließlich die Kunst.[15] Es handelt sich hierbei um denjenigen Funktionsbereich der Gesellschaft, der als Experimentierfeld jedweder menschlichem Bewusstsein entspringenden Idee eine – nur den Grenzen der menschlichen Phantasie und den verfassungsimmanenten Schranken[16] unterliegende – Erweiterung der Denkbarkeit herbeiführen kann. Somit erfüllt sie im Hinblick auf die nicht ausschließlich technologisch sondern vor allem zivilisatorisch-kulturtechnisch zu verstehende Innovationskraft einer Gesellschaft eine unverzichtbare Aufgabe. Das einzelne Kunstwerk ist in der modernen Partizipationsgesellschaft jedoch nicht länger ausschließliche Schöpfung des Künstlers. Vielmehr unterliegt es vielfältigen inhaltlichen (mitunter vom Künstler antizipierten) Modifikationen durch den Rezipienten, wodurch die Erschütterung des bisher Denkbaren seltener und der Künstler selbst unfreier wird. So ist ein Verlust der Fähigkeit zur Differenzierung von Werk und Autor zu verzeichnen.[17] Konkret bedeutet dies: Das Abhängen von als politisch inkorrekt geltenden Werken,[18] die öffentliche Vorverurteilung von Schauspielern und Filmschaffenden und die damit einhergehende Tilgung jener Werke aus dem kollektiven Gedächtnis im Stile einer damnatio memoriae,[19] die Anbiederung an den Netflix-Konsumenten[20] sowie die Abhängigkeit von quantifizierbaren Größen im Musikgeschäft[21] gehen zulasten des provokativen – für die Störung des gesellschaftlichen status quo[22] unersetzlichen – Impetus des Kunstwerks. Auch hier zeigt sich eine wiederum technologisch flankierte Hinwendung zum Antiliberalismus und ein Bedeutungswandel der Kunst hin zum reinen Unterhaltungs- und Konsumobjekt.

II. Entwicklungstendenzen der Kriminalpolitik

Die vorstehende Skizze dieser Entwicklung von – für die liberal-rechtsstaatliche Verfasstheit einer Gesellschaft elementaren – Funktionsbereichen soll hier genügen, um aufzuzeigen, dass wir uns gegenwärtig in einem antiliberalistischen Umschwung befinden. Vorab ist festzuhalten, dass im Folgenden eine historisierende Makroperspektive eingenommen wird, die den Verlauf der Gesetzgebungsaktivitäten als Endpunkt der kriminalpolitischen Aushandlungen innerhalb der jeweiligen zeitgeschichtlichen Situation versteht, um so bestimmte übergreifende Entwicklungslinien oder Phänomene beschreiben zu können. Ein Augenmerk liegt insbesondere auf dem Zusammenhang von materiellem und formellem Strafrecht.

1. Materielle und prozessuale Expansion

Im Schrifttum wird eine Ausweitung des materiellen Strafbereichs ungefähr ab Ende des 20. Jahrhunderts konstatiert – wobei die Einschätzungen der Anfänge dieser Entwicklung vom Ende der 70er-Jahre bis zu den 90er-Jahren differieren.[23] Als Kennzeichen dieser Tendenz gelten auf materieller Ebene die Expansion des Nebenstrafrechts,[24] d. h. eine Flankierung herkömmlich außerstrafrechtlicher Regelungsbereiche durch Strafnormen und eine zunehmende Vorfeldkriminalisierung – insb. die Häufung abstrakter Gefährdungsdelikte im Staatsschutzstrafrecht.[25] Hinzu tritt eine Ausweitung staatlicher Eingriffsbefugnisse auf formeller Ebene.[26] Letztere geht mit der hier als prozessuale Expansion bezeichneten Erweiterung der Kataloge von Telekommunikationsüberwachung sowie der „Lauschangriffe“ (§§ 100a, 100c, 100f StPO) und neuerdings der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der Online-Durchsuchung (§§ 100a Abs. 1 S. 2, 3, 100b StPO)[27] – durch die genannten Deliktsarten einher. Es drängt sich dabei der Verdacht auf, dass die originär der Straftatverfolgung dienenden Eingriffsbefugnisse der StPO zu Quellen eines „Beifangs“ werden, der Tatsachenerkenntnisse enthält, die wiederum für die Straftatvorbeugung genutzt werden können.[28] Dabei ergibt sich die (polizeiliche) Gefahrenprognose erst anlässlich des auf diese Vorfeld-Tatbestände gerichteten Anfangsverdachts und der hierdurch initiierten Strafverfolgungsmaßnahmen. Dies stimmt einerseits aufgrund der Verwässerung der rechtssystematischen Bereiche Gefahrenabwehr/Strafverfolgung und damit der Einhaltung der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung,[29] andererseits aber auch aufgrund eines Gefälles hinsichtlich der jeweiligen staatlichen Eingriffsschwellen (niedrigschwelliger – weil ggf. sogar eine Anscheinsgefahr beinhaltender – polizeirechtlicher Gefahrenbegriff im Kontrast zum strengeren strafprozessualen Anfangsverdacht) nachdenklich. Die Erweiterung des materiellen Strafbereichs erweist sich so lediglich als Mittel zum Zweck der Gefahrenabwehr und die Bedeutung des Strafrechts als Negativabbild der Freiheitsräume des Einzelnen[30] verliert gegenüber einem – niemals gesättigten – Sicherheitshunger an Relevanz. Eine solche Gesetzestechnik erweist sich als deutliches Kennzeichen der oben genannten Selbstausrichtung der Gesellschaft hin zum Antiliberalismus, die ein diffuses Gefühl benötigter Sicherheit höher bewertet als individuelle Freiheit. Stattdessen werden hausgemachte Gefährdungen für die innere Sicherheit, die durchaus bestehen,[31] auf (nach je eigener Definition) „Externe“ projiziert, um daraus dann politisches Kapital zu schlagen. Dies wiederum trägt zum Klima der Identitätsbedrohung im oben genannten Sinne bei und drängt die politisch Verantwortlichen dazu (vor-)schnelle, vermeintliche[32] Abhilfe zu schaffen.

Neben dem in der Strafrechtswissenschaft nahezu einhellig anerkannten, wenn auch unter verschiedensten Begrifflichkeiten firmierenden[33] – „Präventionsparadigma“[34], soll an dieser Stelle noch ein Punkt aus dem aktuellen Gesetz der Regierungskoalition zur „Modernisierung des Strafverfahrens“[35] Erwähnung finden. Die Erweiterung der DNA-Analyse nach § 81e StPO n.F. Diese geplante prozessuale Expansion manifestiert sich in der – naturwissenschaftlich bereits möglichen,[36] das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) jedoch nachhaltig tangierenden Option, neben dem Geschlecht nun auch die Merkmale Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe und Alter[37] zum grundsätzlich legitimen Zweck der Eingrenzung des Beschuldigtenkreises ermitteln zu können. Nachgerade bezeichnend ist die Begründung mit der Formel von der „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“[38] im Entwurf des Gesetzes, dessen normative Haltlosigkeit bereits 1982 von Hassemer nachgewiesen wurde.[39] Jene Formel kommt immer dann zum Einsatz, wenn es um die Beschränkung von individuellen Beschuldigtenrechten zugunsten öffentlicher Strafverfolgungsinteressen geht, also eine ungleiche Abwägungslage im Rahmen des Interessenausgleichs im Einzelfall geschaffen werden soll.[40] Wenn die Entwurfsbegründung auf die Verhältnismäßigkeit als Korrektiv der zu schaffenden Befugnisse abstellt,[41] ist dies angesichts der Unwucht, für die das Funktionsfähigkeits-Argument sorgt, nichts weiter als ein Lippenbekenntnis. Kern der Kritikwürdigkeit des Vorhabens sind jedoch – neben der handwerklichen Schwäche einer solch lakonischen Begründung – zwei grundsätzliche Einwände: Zum einen ist der kriminalistische Mehrwert der Erweiterung zweifelhaft. Dies hängt zunächst hinsichtlich der „Reinheit“ des konkret am Tatort aufzufindenden Materials, mit dessen von zwar im Labor bestehenden, davon jedoch notwendig abweichenden (Ideal-)Bedingungen zusammen, sodass die zur Begründung angeführten Labor-Werte (wie bereits die herkömmliche Bestimmung des Geschlechts de lege lata gezeigt hat[42]) Idealwerte sind, die in der Realität nicht erreichbar sein werden. Hierdurch werden letztlich überzogene Erwartungen erzeugt. Zu sehen ist außerdem, dass die Bestimmung phänotypischer Merkmale mitnichten stets eindeutig möglich ist, beispielsweise nach blauer Augenfarbe einerseits und brauner Augenfarbe andererseits.[43] Vielmehr ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Mischfarben – wie etwa eine grau-grüne Augenfarbe – bereits eine viel niedrigere Wahrscheinlichkeit der korrekten Zuordnung ermöglichen und dass das äußere Erscheinungsbild gerade heutzutage einem steten Wandel unterliegt.[44] Neben diesen praktischen Problemen hält das Vorhaben aber auch einer Folgenabschätzung für die tägliche (medial vermittelte) Praxis nicht stand: Die Suggestionskraft ist im Falle einer – gleich ob geplanten oder „geleakten“ – öffentlichen Verlautbarung von DNA-Untersuchungsergebnissen seitens der Ermittlungsbehörden, ob der vermeintlich wissenschaftlich unfehlbaren Methodik,[45] als – gegenüber dem in der Entwurfsbegründungen gezogenen Vergleich zu Zeugenaussagen oder Videoaufzeichnungen – ungleich höher einzustufen. Im Kontext des hiesig einzunehmenden Blickwinkels ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Manipulationsanfälligkeit gerade von Straf(prozess)rechtsnormen[46] immer ein mitzudenkender, hypothetischer Umstand bei der Bereitstellung weiterer Instrumentarien darstellen muss. Zeichnet sich die liberal-rechtsstaatliche Demokratie doch gerade dadurch aus, dass sie nicht die „Wahrheit um jeden Preis“[47] ermittelt, sondern sich ganz bewusst Selbstbeschränkungen auferlegt, um im Falle eines autoritären Machtwechsels nicht schon alle Instrumente für rassistische Öffentlichkeitsarbeit bereit zu halten. Auch hierbei wird wiederum deutlich, dass es nicht die aufstrebenden Antiliberalisten sind, die die genannte Selbstausrichtung der Gesellschaft bewirken, sondern die demokratisch legitimierte parlamentarische Mitte, die mehr als Getriebene denn als Gestaltende erscheint.[48]

2. Symbolisches Strafrecht und Medienöffentlichkeit

Für die Erörterung der folgenden Entwicklungslinie soll ein kurzer Exkurs in die Foucault’sche Theorie der Gouvernementalität[49] gemacht werden: Diese Interpretation moderner Herrschaftstechnik sieht in der Aufrechterhaltung eines permanenten Zustands der (ökonomischen wie sozialen) Unsicherheit und dessen Verbindung mit der Gewährleistung (äußerlich) staatsfreier Handlungssphären des Individuums einen Zustand der Produktivität, in welchem jeder zum „Unternehmer seiner selbst“ werde.[50] In dieser Sichtweise ist die moderne „Risikogesellschaft“[51] eine wichtige Nährlösung, die nie vollends ausgetrocknet werden darf und die zugestandenen Freiheitssphären gehen nur so weit, wie es die internalisierte Selbstdisziplinierung der Individuen erlaubt. Vor diesem Panorama moderner Herrschaftstechnik scheint die Einordnung des – ebenfalls bereits weitgehend konsentierten – Trends zur „symbolischen Strafgesetzgebung“[52] als ein probates Mittel, um die medial vermittelte Öffentlichkeit in ihrem Sicherheitsstreben oberflächlich zu befrieden, nicht jedoch tatsächlich auf Verhinderung des inkriminierten Verhalten zielende Gesetzgebung, zu betreiben. All dies hängt eng mit medial überpräsenten weil oft spektakulären Einzelfällen zusammen, die dann zum Anlass genommen werden, eine abstrakt-generelle (!) Regelung zu schaffen. Beispiele hierfür gibt es zuhauf: Die Verschärfung des Sexualstrafrechts nach den Vorfällen der „Kölner Silvesternacht“,[53] die Schaffung des § 217 StGB n.F.[54] als Reaktion auf die Berichterstattung zu Sterbehilfeorganisationen[55] sowie die grundsätzlich sinnvolle, wenn auch nicht ausreichende Einführung des § 315d StGB n.F. Aber auch in die andere Richtung zeigen dies punktuelle Entkriminalisierungen[56] – wie etwa die Abschaffung des § 103 StGB durch die „Causa Böhmermann[57] oder die (rein kosmetische) Korrektur des § 219a StGB anlässlich des Falles der Ärztin Hänel.[58] Die Liste ließe sich fortsetzen. Worauf es ankommt ist jedoch, dass das Strafrecht in Zeiten des antiliberalistischen Abschwungs nicht länger darauf zielt, konkret einem als strafwürdig erkannten Verhalten beizukommen, sondern die mediale Vermittlung der vermeintlichen Handlungsfähigkeit von Gubernative wie Legislative den höchsten Stellenwert besitzt, um den Forderungen einer – niemals der realen öffentlichen Meinung entsprechenden – medial vermittelten Öffentlichkeit zu entsprechen. Das Problem liegt hier also in der epistemischen Erfassung eines rein fiktiven – gar illusionären – „einheitlichen Volkswillen“ durch die Gesetzgebungsorgane.

3. Ökonomisierung

Betroffen von einer funktionsbereichsübergreifenden Ökonomisierung ist in erster Linie das Prozessrecht. Hierzu gehören sodann nicht lediglich Praktiken wie der sog. „schmutzige deal“ entgegen § 257c StPO, der seinerseits lediglich die Legalisierung einer fest eingeschriebenen Praxis der Strafverfolgung bedeutete.[59] Hierhin gehört auch eine Umdeutung des Beschleunigungsgrundsatzes nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK: Diese subjektiv-rechtliche Gewährleistung – welche dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in temporärer Hinsicht entspricht – ist in seiner normativen Verankerung in der EMRK (lediglich) darauf gerichtet, dem Einzelnen einen einklagbaren Ausgleich zu verschaffen, wenn sich die Belastung des Strafverfahrens nicht in sachangemessenen Grenzen halten, was nicht zuletzt auch durch den sog. besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (Art. 5 Abs. 3 S. 1 EMRK) deutlich wird. Diese menschenrechtlich fundierte, in seiner kodifizierten Ausgestaltung rein subjektiv-rechtliche Gewährleistung wird in der nationalen Rechtsprechung – angeführt durch das BVerfG in einer unheilvollen Allianz mit der bereits erwähnten „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“[60] – von der geschriebenen Norm abgelöst und zu einem öffentlichen Interesse an verfahrensökonomischem Vorgehen im Bereich der Strafrechtspflege, die auf verknappte Ressourcen reagiert.[61] Dies führt de facto zu einer Verkürzung von Beschuldigtenrechten zugunsten des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung aufgrund von – durch Versäumnisse der öffentlichen Hand eingetretenen – Ressourcenmängeln. In Verbindung mit einem „integralen“ Rechtsstaatsverständnis[62] (dem das BVerfG ohne Grundlage im geltenden Verfassungsrecht seine Interpretation des Beschleunigungsgedankens entlehnt) und einer ordnungspolitischen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs[63] im rechtspolitischen Alltag verselbständigt sich so ein leider unscharfer Begriff[64] in sein Gegenteil. Aus dem Problem knapper Ressourcen speisen sich dann auch aktuelle Vorschläge wie die von Thomas De Maizière nach einer Halbierung der derzeitigen Bürokratie, was jedoch mit einer erhöhten Einflussnahme der Exekutive auf die Judikative einhergeht und damit nichts Geringeres als die Relativierung des grundgesetzlichen Gewaltenteilungsmodells bedeutet.[65] Wo wird diese stete Ökonomisierung Halt machen? Woran genau hapert es bei der Bereitstellung von Geldern für die Länder zur Bereitstellung von Planstellen bei der Justiz? Um im Bild der oben (Fn. 40) genannten „abschüssigen Bahn“ zu bleiben: Dem Rechtssystem aus guten Gründen nicht immanente Leitprinzipien sollten um seiner funktionsbedingten Eigenständigkeit willen nicht (begrifflichen) Einzug in die Rechtsidee erhalten, fungiert das Recht doch gerade als Primat, an dem sich alle anderen gesellschaftlichen Funktionsbereiche zu messen haben. Füllt man den Rechtsbegriff mit derart fremden Zwecksetzungen wie etwa der Ökonomisierung, kann es diese Funktion nicht mehr adäquat wahrnehmen. Diese Funktion besteht unter Geltung des grundgesetzlichen (einzig als „summativ“[66] ableitbaren) Rechtsstaatsprinzips jedoch gerade in der Gewährleistung von gewissen rechtlich garantierten Standards, die dem Einzelnen volle Entfaltungsmöglichkeiten – und zwar im Falle einer strafrechtlichen Beschuldigung in Form wirksamer Verteidigungsrechte[67] – zu gewähren hat. Richtet sich die Strafrechtspflege ausschließlich auf effektives Bestrafen aus, verliert sie ihre machtkontrollierende und damit freiheitssichernde Funktion.

4. Europäische Kriminalpolitik?

Durch Globalisierung und Verflechtung von Volkswirtschaften bedingte Erscheinungsformen von Kriminalität – etwa im Bereich von Wirtschafts- und Steuerstraftaten, aber auch im Terrorstrafrecht – machen eine konzertierte Antwort erforderlich. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der rein nationalstaatliche Aktionsradius für die in seinem Herrschaftsgebiet auftretende schwerere Kriminalität oftmals viel zu begrenzt ist, um eine effektive Ahndung sicherzustellen. Es finden sich daher auf europäischer Ebene folgerichtig viele Ansatzpunkte einer genuin europarechtlichen Kriminalpolitik zum Schutze etwa der Finanzinteressen des europäischen Binnenmarktes.[68] Dementsprechend liegt mittlerweile eine Verordnung zur „Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft“ mit dem genannten Betätigungsfeld und ein korrespondierender Referentenentwurf des BMJV vor.[69] Die EU-Gesetzgebung ist – gestützt auf Art. 83 Abs. 1 AEUV – zudem bereits auf materieller Ebene dazu übergegangen, nationale Strafnormen zu überzeichnen wie etwa mit der RL (EU) 2017/541 bezüglich der Absenkung der subjektiven Anforderungen des § 129a StGB anschaulich geworden ist.[70] Die bereits im nationalen Recht kritisierte Technik der Vorfeldkriminalisierung und Versubjektivierung des Strafrechts erfährt so eine Verstärkung, die mit Anwendungsvorrang beziehungsweise im Falle der Richtlinie einer Umsetzungspflicht[71] ausgestattet ist, jedoch hinsichtlich ihrer demokratischen Rückkopplung als problematisch erscheint.[72] In diesem Spannungsfeld zwischen notwendig gemeinsamer Kriminalpolitik bei gleichzeitiger Wahrung mitgliedsstaatlicher rechtskultureller Besonderheiten gerade im Bereich des Strafrechts[73] sollte sich nun die vorsichtige Harmonisierung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts[74] bewegen. Hier lauern exakt dieselben Gefahren wie die bereits oben beschriebenen, die durch die heutzutage technologisch hochgerüstete algorithmenbasierte Kommunikationsstrukur potenziert werden. Der Unterschied zur nationalen Rechtsordnung ist hier jedoch die partielle Überantwortung von Souveränität, welche ein erhöhtes Vertrauen[75] in die Arbeit der EU – beziehungsweise der sie konstituierenden, mitgliedsstaatlichen Verantwortlichen – auf diesem sensiblen Gebiet nötig macht. Dieses Vertrauen darf keinesfalls enttäuscht werden, soll die derzeit wahrnehmbare, für ein friedliches Zusammenleben in Europa unmittelbar relevante, europaskeptische Fliehkraft nicht noch weiter zunehmen. Der gerade in Europa grassierende Antiliberalismus speist sich zu einem großen Teil aus ebendiesem EU-Skeptizismus.

5. Migration und Kriminalität

Der fast nicht zu überschätzende Stellenwert medialer Vermittlung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Kriminalität und zugleich der hierauf wiederum lediglich reagierenden politischen Verlautbarungen (also genuine Kriminalpolitik) lässt sich ausgezeichnet an dem stark emotionsgeladenen, vielfach hergestellten[76] Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität studieren: Zum einen geht in der Diskussion oftmals die Mannigfaltigkeit der Phänomenologie von „der Migration“ und „der Kriminalität“ verloren[77] – unter letztere fällt schließlich auch die Begehung von Sonderdelikten, die nur von Ausländern verwirklicht werden können.[78] Zum anderen ist bereits etwa der Begriff „Migrantenkriminalität“ analytisch eher untauglich, weil sozialpsychologisch besehen „die Anderen“ immer einheitlicher erscheinen als die eigene Gruppe.[79] Hinzuweisen ist zudem auf den sog. Anzeige- und Tatverdachtseffekt,[80] der die Anzeigebereitschaft beschreibt, die bei – als nicht zur Eigengruppe gehörig – wahrgenommenen präsumtiven Tätern erhöht ist.[81] Bemerkenswert ist zudem, dass die kriminologischen Forschung eine Überrepräsentanz von Jugendlichen aus Einwandererfamilien (die Kinder der sog. „foreign born“) bei – generell selteneren – Gewaltdelikten und Mehrfachtäterschaft mit der Kompensation von Anerkennungsdefiziten assoziiert.[82] Damit unmittelbar zusammenhängend ist zu konstatieren, dass die kriminogenen Folgen einer aus Abschreckungsgedanken fließenden, migrationspolitisch forcierten Beschränkung von Integrationsmöglichkeiten viel zu wenig beleuchtet werden.[83] Diesbezüglich wird man von einem Teufelskreis sprechen können. All dies hat jedenfalls Einfluss auf die Aussagekraft etwa von medial vielfach rezipierten polizeilichen Kriminalitätsstatistiken und damit auch auf das weiter oben angesprochene allgegenwärtige Klima der kulturellen Identitätsbedrohung – wie auch immer man eine solche überhaupt definieren mag. Die Instrumentalisierung dieses Klimas entlädt sich sodann – gänzlich unbeeindruckt von derartigen „Spitzfindigkeiten“ in einem seit 2015 zu verzeichnenden, deutlichen Anstieg rechtsextremer Gewalttaten.[84] Diese Enthemmung ist eines der deutlichsten Zeichen des antiliberalistischen Potentials in der deutschen Gesellschaft.

III. Fazit

Materielle wie prozessuale Expansion, symbolisches Strafrecht, die Ökonomisierung des Prozessrechts, EU-Skeptizismus und die – all diese Phänomene flankierende – verzerrte Abbildung der tatsächlichen Situation durch die beschleunigte, kontextlose Wahrnehmung durch die algorithmenbasierte Informationsrezeption des demokratischen Souveräns und die auf gleichem Wege zurückgespiegelte Wahrnehmung des entsprechenden „Willens“ dieses Souveräns durch die temporären Inhaber demokratischer Legitimation, erzeugen ein ständiges Klima der Unsicherheit. Dieses Klima ist zwar ein Stück weit – gouvernementalistisch besehen – nicht gänzlich unerwünscht und noch dazu mit dem Freiheitsgedanken notwendig verbunden. Die gegenwärtigen (technologischen Kommunikations-)Rahmenbedingungen sind jedoch, belässt man sie unreflektiert als selbstverständlich und macht das Implizite nie explizit, dazu geeignet, dass die liberale Rechtsstaatlichkeit zum Feigenblatt einer „Sicherheitsverwaltungsordnung“ verkommt, worunter die hauchdünne Decke der Zivilisation den letzten Schutz vor dem Rückfall in menschliche Abgründe bedeutet. Die genutzte Rede von der Selbstausrichtung der Gesellschaft hin zu antiliberalistischem Gedankengut ist deshalb von so großer Bedeutung, weil sich jene nicht bereits in einem autoritär-totalitären Herrschaftssystem befindet – wie so manche Diskussion um angeblich fehlende Meinungsfreiheit unterstellen wollte.[85] Vielmehr ist seit ungefähr 70 Jahren ein weltweit als erstrebenswert anerkanntes System von rechtlichen Freiheitsgarantien im spannungsreichen Ausgleich zu sozialen Gewährleistungen weitgehend verwirklicht,[86] das es zu erhalten und nicht zu beseitigen gilt. Wenig hilfreich ist hierbei eine verbreitete hoheitliche Missachtung von Gerichtsentscheidungen.[87] Ebenso steht es mit der Verfassungstreue bei Funktionseliten wie Polizei, Staatsanwaltschaft oder Richterschaft, die nicht durchweg gewährleistet scheint. Hier besteht also dringender Handlungsbedarf, der jedoch – wie auch andernorts – zumindest punktuell von der Kriminalpolitik in die Bildungspolitik  verlagert  werden  sollte.  Zusätzlich    sollte   darüber nachgedacht werden de lege ferenda (womöglich gar strafrechtliche) Sicherungsmechanismen zu etablieren, die auch demokratisch legitimierten Verantwortungsträgern Leitplanken ziehen können müssen. Dies gilt zumindest in Bezug auf die Beachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung. Parallel hierzu müsste – auf prozessualer Ebene – freilich die Möglichkeit des politischen (Einzelfall-)Weisungsrechts gegenüber der Staatsanwaltschaft (§§ 146, 147 GVG) abgeschafft werden.[88] Vorrangiges Mittel ist jedoch selbstverständlich die Abwahl jener, die das Primat des Rechts nicht beachten. Letzten Endes wird es gesellschaftlich darauf ankommen, an einem – um die Universalität von Menschenwürde und -rechten eingeschränkten – Werterelativismus festzuhalten und nicht die Interessen der eigenen gesellschaftlichen Gruppe absolut zu stellen.

 

[1]           Der Begriff findet sich bei Vesting, Rechtstheorie, 2. Aufl. (2015), S. 149 ff.
[2]           Betrachtet man das Recht als geronnene Politik, betrifft dies zugleich die jüngere (Straf-)Rechtsgeschichte. Der Begriff des Liberalismus wird hier im Sinne der politischen Ideengeschichte – freilich stark verkürzt – als aufklärerische Strömung verstanden, welche dem Individuum unabdingbare Freiheitsräume gegenüber dem Kollektiv gewährleisten will und nicht im Sinne einer allgemeinen Wirtschaftsliberalität, die unter den Bedingungen der Globalisierung wohl eher in die entgegengesetzte Richtung weist.
[3]           Eine Ausnahme scheint z. B. Portugal zu sein, auch wenn sich die andernorts durchlaufene Entwicklung hier bereits andeutet, https://www.deutschlandfunk.de/kein-rechtspopulismus-warum-portugal-den-rechten-trotzt.922.de.html?dram:article_id=442885 (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[4]           Schönberger/Schönberger, JZ 2018, 105 ff.
[5]           Verwiesen sei hierbei auf das Modell der Mem-Theorie Richard Dawkins, vgl. sekundär auf die Digitalmoderne bezogen bei Ebner, Radikalisierungsmaschinen, 2019, S. 114.
[6]           Vgl. die Formulierung des BVerfG im „Wunsiedel-“ Beschl. v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 65.
[7]           Vgl. Donald Trumps‘ – auf die Vorzüge des Nachrichtendienstes Twitter bezogene – Wahlkampf-Aussage: „we just skip ‘em“; Zu den Implikationen von Verfassungsrecht (Art. 5 Abs. 1 GG) und Medienkonvergenz Paulus/Nölscher, ZUM 2017, S. 177 (178f.).
[8]           Hierzu gehören etwa unverhohlener Geschichtsrevisionismus und Menschenfeindlichkeit.
[9]           Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht – Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre (1975); Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht (2004); Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht (2019); Wrobel, GRZ 2019, 83 ff.
[10]        Lilla, https://www.zeit.de/2018/03/mark-lilla-identitaetspolitik-interview (zuletzt abgerufen am 20.12.19); Fukuyama, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet (2019), über die Bedeutung der heutigen „Identitäts-Politik“.
[11]        S. nur die Auseinandersetzung von Gabriel und Gumbrecht in der NZZ (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[12]        Zu Brasilien: Schulze, https://www.forschung-und-lehre.de/politik/bolsonaro-setzt-hochschulen-unter-druck-2008/ (zuletzt abgerufen am 4.2.20); Zu China: s.o. (Fn. 11).
[13]        Zur Steuerbarkeit der Masse im Kontext der Massenpsychologie s. grundlegend: Le Bon, Massenpsychologie (1895). Auch wenn es sich hierbei um eine – nach heutigen sozialwissenschaftlichen Maßstäben – eher dürftig empirisch untermauerte Arbeit handelt, finden sich in ihr interessante Ansätze, die auch für die moderne Sozialpsychologie einen Ausgangspunkt bilden (können).
[14]        Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 2016 (dt. Erstausg. v. 1947), S. 6 f., 177 ff.
[15]        Rautenberg, Wie frei ist die Kunst?, 2018.
[16]        BVerfGE 67, 213 (228); 119, 1 (23).
[17]        Dies ist aktuell ersichtlich am Fall des Literaturnobelpreisträger Peter Handke.
[18]        Rautenberg (Fn. 15), S. 23 ff., 52.
[19]        S. nur die Fälle Allen, Polanski, Spacey.
[20]        S. die Black-Mirror Folge „Bandersnatch“, welche dem Zuschauer die Entscheidung über den Verlauf der Dramaturgie überlässt. Zudem die Phänomene immer wieder neu aufgelegter Spinn-Off’s, Pre- und Sequels sowie der Niedergang des Kinos, welche eng mit einer Kommodifizierung von Kunst und ihrer ökonomisch notwendigen Quantifizierbarkeit zusammenhängen.
[21]        S. Viral-Charts bei Spotify, welche den o. g. Vorrang der Quantifizierbarkeit vor Qualität plastisch werden lassen.
[22]        Zur Bedeutung des „Störenfrieds“ in der Demokratie, Thomä, puer robustus, 2016.
[23]        Singelnstein, KJ 2011, 7 spricht von einer Entwicklung ab Ende der 70er Jahre; Heinrich, KriPoZ 2017, 4 vom Ende der 90er Jahre. Letzterer weist zutreffend darauf hin, dass es zumindest liberalistische „Lichtblicke“ wie die Abschaffung des § 175 StGB a.F. (Unzucht zwischen Männern) im Jahre 1973 gab, wodurch aber eher die Einordnung Singelnsteins bekräftigt werden dürfte.
[24]        Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, 4. Aufl. (2013), vor § 1 Rn. 332; Singelnstein KJ 2011, 7 (9).
[25]        Arnold, HRRS 2006, 303 (310); Heinrich, KriPoZ 2017, 4 (5); Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, vor § 1 Rn. 260, 343.
[26]        Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GSZ 2017, 7 (10 f.).
[27]        Vgl. BGBl. I 2017, Nr. 58 vom 23.8.2017 – „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Gestaltung des Strafverfahrens“, Art. 1 Nr. 2; eingehend Singelnstein/Derin, NJW 2017, 2646 ff.
[28]        Weißer, ZStW 2009, 131 (153); Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy, GSZ 2017, 7 (11).
[29]        Mitsch, NJW 2015, 209 (211) weist darauf hin, dass die Gesetzgebungszuständigkeit für die Gefahrenabwehr bei den Ländern liegt. Damit ist die „Gefahr“ formeller Verfassungswidrigkeit derartiger Vorschriften angesprochen, vgl. den Grundsatz aus Art. 70 GG.
[30]        Singelnstein, KJ 2011, 7 (9).
[31]        Hierauf wird unter II. 5 zurückzukommen sein. Bereits jetzt ist jedoch zur Klarstellung darauf hinzuweisen, dass mit „hausgemacht“ einerseits ein sich geradezu bahnbrechender Anstieg rechtsextremer Gewalttaten, andererseits die signifikant hohe Zahl westlicher Staatsangehöriger unter Tätern islamistischer Provenienz von – etwa in Europa stattfindenden – Gewalttaten gemeint ist. Nicht ignoriert werden soll hierbei die – gleichsam zu missbilligende – linksextreme Gewalt sowie Straftaten von Ausländern im deutschen Territorium. Der Hebel für eine, gesellschaftlicher Verrohung entgegensteuernde Politik sollte jedoch innerhalb des eigenen Aktionsradius ansetzen und nicht versuchen Verantwortung zu externalisieren.
[32]        Hierzu sogleich unter 2.
[33]        Gebräuchlich sind Präventions-, Gefährdungs- oder gar (ein hier deskriptiv gemeintes) Feindstrafrecht. Weiterhin Gefährderrecht, s.o. (Fn. 28), S. 7.
[34]        Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, vor § 1 Rn. 347.
[35]        BGBl. I 2019, Nr. 46 vom 10.12.2019.
[36]        Zum Ganzen Zöller/Thörnich, ZIS 2017, 331 ff.
[37]        Bayern möchte sogar um die „biogeographische Herkunft“ erweitern, vgl. Rath, GSZ 2018, 67 (68).
[38]     BT-Drs. 19/14747, S. 43.
[39]        Hassemer, StV 1982, 275 ff.; dagegen Landau, NStZ 2007, 121 ff.
[40]        Dallmeyer, HRRS 2009, 429 (433): „Die Bedeutung der ‚Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ reduziert sich […] letztlich darauf, dass alles, was die Bestrafung von Straftaten durch Strafjustizsysteme jenseits der gegebenen Regeln des Systems beeinträchtigt, von Übel ist, weil die Strafjustizsysteme nun einmal etabliert wurden, um Straftaten gemäß den Regeln des Systems zu bestrafen.“ Die Formel verhält sich also zu den Rechten des Einzelnen wie die „Sicherheit“ zur „Freiheit“: Es ist ein verbaler Eröffnungsschachzug für das Betreten einer abschüssigen Bahn, die nur eine Richtung kennt.
[41]        BT-Drs. 19/14747, S. 21, 26, 27, 42.
[42]        Uwer (Berichterstatter), Stellungnahme der Strafverteidigervereinigung zur geplanten Einführung der sog. „erweiterten DNA-Analyse“ zu Fahndungszwecken, S. 1. Unter Bezugnahme auf Pfaffelhuber, Hohe Wahrscheinlichkeiten?“ in: Freispruch Nr. 11 (2017), S. 18.
[43]        Rath, GSZ 2018, 67 (69) weist auf den in der Diskussion oft übersehenen Unterschied zwischen „Wahrscheinlichkeitsaussagen“ und „Feststellungen“ hin.
[44]        Uwer, (ebda.) S. 3.
[45]        Dies ist mitnichten der Fall. Vgl. Uwer, S. 2 ff., der auf den sehr bedeutsamen Umstand hinweist, dass ein kriminalistischer Mehrwert nur dann zu erzielen ist, wenn das – auf Minderheiten fokussierende – Diskriminierungspotenzial der geplanten Regelung voll ausgeschöpft wird (S. 4). I.V.m. den derzeitigen Bedingungen medialer Berichterstattung erscheint das Vorhaben daher vor dem, dem Demokratieprinzip entspringenden, Minderheitenschutz-Gedanken schlicht als verantwortungslos.
[46]        Gemeint sind (öffentlich bekannt gewordene) Vorgänge wie etwa bei der Staatsanwaltschaft Gera und dem Ermittlungsverfahren gegen das Zentrum für politische Schönheit wegen § 129 StGB, https://www.tagesspiegel.de/politik/wir-nannten-ihn-nur-den-jura-nazi-ein-staatsanwalt-aus-gera-und-seine-naehe-zur-afd/2420249.html (zuletzt abgerufen am 20.12.19) sowie die Einordnung des Wahlkampfslogans „Migration tötet!“ als nicht volksverhetzend – entgegen der überwiegenden hierzu bereits existierenden Rspr. – mit fragwürdiger Begründung seitens des VG Gießen (§ 130 StGB), https://www.lto.de/recht/justiz/j/vg-giessen-4-k-2279-19-gi-npd-wahl-plakat-migration-toetet-invasion-nicht-volksverhetzend-widerstandsrecht/ (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[47]        BGHSt 14, 358 (365).
[48]        Hierzu Speit, Die Entkultivierung des Bürgertums, 2019.
[49]        Foucault, Überwachen und Strafen, 1976; eine überzeugende Interpretation vor diesem Hintergrund lieferte bereits Singelnstein, KJ 2011, 7 ff.
[50]    Singelnstein, KJ 2011, 7 (8).
[51]        Hierzu Hilgendorf, NStZ 1993, 10 ff.
[52]        Pars proto soll hier wiederum der Verweis auf Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, vor § 1 Rn. 345 genügen; s.a. auf das Terrorstrafrecht bezugnehmend Zöller, GA 2016, 90 (107).
[53]        https://www.deutschlandfunk.de/das-neue-sexualstrafrecht-nein-heisst-nein.724.de.html?dram:article_id=400280 (zuletzt abgerufen am 20.12.19)
[54]        Krit. hierzu Duttge, NJW 2016, 120 ff.; Die Norm wurde zwischenzeitlich vom BVerfG für mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig erklärt, vgl. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, in diesem Heft S. 108 ff.
[55]        Sog. Lex Kusch, https://www.zeit.de/2019/27/roger-kusch-sterbehilfe-assistierter-suizid-verein (zuletzt abgerufen am 20.12.19)
[56]        Beulke, in: FS Neumann, 2017, S. 519 ff.
[57]        Auch zur (fehlenden) Bedeutung von Sachverständigenanhörungen im Gesetzgebungsverfahren, Heinze https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/hate-speech-hass-kriminalitaet-netz-188-stgb-kommunalpolitiker-boehmermann/ (zuletzt abgerufen am 20.12.19); Allgemein zur Rolle der Strafrechtswissenschaft, welche sich für die Kriminalpolitik funktionalisieren lasse krit. Kölbel, NK 2019, 249 (251 ff.).
[58]        https://www.sueddeutsche.de/politik/abtreibung-219a-gesetzentwu
rf-bundestag-1.4339500 (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[59]        Duttge, in: FS Böttcher, 2007, S. 53 ff.
[60]        BVerfGE 33, 367; 64, 108; 35, 185; BVerfG, NStZ 1987, 276; NJW 2009, 1469 (1474).
[61]        Zum Ganzen: Roxin, GA 2010, 425 ff.; Tepperwien, ZStW 2009, 1 ff.; Degener, in: FS Dencker, S. 23 ff.; Duttge, in: FS Karras, S. 423 ff.; Fezer, in: FS Widmaier, S. 177 ff.; Grünwald, JZ 1975, 767 ff.; Kudlich, Gutachten C zum 68. DJT; Landau, in: FS Hassemer, S. 1073 ff.; Paeffgen, GA 2014, 275 ff.; Riehle, KJ 1980, 316 ff.
[62]        Laue, GA 2005, 648 (650 ff.).
[63]    Pichl, https://www.lto.de/recht/justiz/j/rechtsstaat-sicherheit-gewalt
monopol-polizei-begriff-bedeutung/ (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[64]        S. die Wortbedeutung von „Beschleunigung“ als Zunahme an Geschwindigkeit, gegenüber der Zweckrichtung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (in welchen von Beschleunigung nicht einmal die Rede ist) als Entscheidung in sachangemessener Zeit, hierzu eingehend Degener, in: FS Dencker, S. 23 ff.
[65]        De Maizière, https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/
von-allem-die-haelfte-thomas-de-maiziere-ueber-den-handel-1644
7612.html?premium=0x4d9f29ad561a1a269ca9a8415afc2955&G
EPC=s5; Vor dem Hintergrund von Art. 97 Abs. 1 GG daher zu Recht krit.: Kowalski, https://verfassungsblog.de/packt-die-exekutive-den-rechtsstaat/ (zuletzt abgerufen jeweils am 20.12.19).
[66]        Laue, GA 2005, 648 (650 ff.).
[67]        S. etwa Art. 103, 104 GG.
[68]        Dieser bildet seit jeher den dominierenden Fluchtpunkt aller unionsrechtlichen Bemühungen, vgl. EuGH, st. Rspr. seit den berühmten Fällen „Dassonville“, „Keck“, „Cassis-de-Dijon“ u.v.m.
[69]        ABl. EU L 283/1, S. 1 ff., Verordnung (EU) 2017/1939; Referentenentwurf-EUStA, https://kripoz.de/wp-content/uploads/2019/10/RefE_EUStA.pdf (zuletzt abgerufen am 4.2.20); s.a. Art. 86 Abs. 1 AEUV; eingehend Satzger, NStZ 2013, 206 ff.
[70]        54. Strafrechtsänderungsgesetz, BGBl. I 2017, Nr. 48 v. 21.7.2017, S. 2440.
[71]        Art. 288 Abs. 3 AEUV.
[72]        BVerfGE 129, 300 (336 f., 341).
[73]        BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 -, Rn. 252 ff.; s. bereits Weigend, ZStW 1983, 774 ff.
[74]        Art. 3 Abs. 2 EUV.
[75]        In den Worten von BVerfGE 123, 267 (Ls. 2a): „Integrationsverantwortung“; Art. 23 GG n.F., IntVG.
[76]        Walburg, JSt 2019, 102 skizziert die öffentliche Wahrnehmung in diesem Bereich treffend. Zugleich weist er zu Recht auf die Unzulänglichkeit einer schlichten Darstellung des Ausländeranteils in Kriminalitätsstatistiken hin. Interessante Einblicke in die Situation im Mittelmeeranreiner- und Transitland Italien und die Reaktion des Gesetzgebers liefert Bettels, ZStW 2010, 723 ff.
[77]        Walburg, JSt 2019, 102.
[78]        Vgl. z.B. die Strafvorschrift des § 95 AufenthG (str. wohl nur für Abs. 2 Nr. 2), vertiefend Heinrich, ZAR 2005, 309 (310).
[79]        Walburg, JSt 2019, 102 (103).
[80]        Vgl. https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/76639/auslaenderkriminalitaet?p=all (zuletzt abgerufen am 20.12.19)
[81]        Walburg, JSt 2019, 102 (104).
[82]        Gewalt ist dann eine Reaktion auf mangelnde Anerkennung im Aufnahmeland zur Erreichung von Anerkennung durch die eigene peer group, vgl. Walburg, JSt 2019, 102 (106).
[83]        Walburg, JSt 2019, 102 (106), bezugnehmend auf Rohe, M., Jaraba, M.: Paralleljustiz. Eine Studie im Auftrag des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz,  2015.
[84]        Vgl. Krieg/Kliem, MschKrim 2019, 135 (136). der Rekordwert lag demnach 2016 bei 23.555 rechts motivierter Straftaten. Ein nur unwesentlicher Rückgang ist 2017 auf 20.520 erfolgt (Zahlen von Bundesministerium des Innern, Bau und Heimat: Politisch Motivierte Kriminalität. Straftaten nach Deliktsbereichen 2016 und 2017).
[85]        Es handelt sich hierbei um eine staatlicherseits zu gewährleistende Garantie. Die Debatte drehte sich aber um das ganz andere Feld einer „verrohte Debattenkultur“ (gerade im Netz) und diente daher ersichtlich dazu, staatlich unzweifelhaft gewährleistete Standards als nicht vorhanden infrage zu stellen.
[86]    Grundlegend Böckenförde, in: FS Arnd, 1969, S. 53 (66 ff.).
[87]        Frappierend war insofern der Erlass eines – sonst nur im Steuerrecht beheimateten – Nichtanwendungsbeschluss durch das Ressort von Bundesminister Jens Spahnhinsichtlich BVerwG Urt. v. 2.3.2017, Az. 3 C 19.15, https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitsminister-ignoriert-urteil-jens-spahn-verhindert-sterbehilfe/24010180.
html (zuletzt abgerufen am 20.12.19); Der Fall Wetzlar weist in dieselbe Richtung https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-wetzlar-npd-versammlung-stadthalle-verbot-widersetzt/ (zuletzt abgerufen am 20.12.19).
[88]        EuGH, NJW 2019, 2145 (Leitsätze); Zu den materiell-strafrechtlichen Friktionen, denen der Staatsanwalt durch das Weisungsrecht allgemein ausgesetzt ist, Dallmeyer, in: FS Neumann, 2017, S. 1287 ff.

 

 

 

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