Tagungsbericht, Defence Counsel at the International Criminal Tribunals, Berlin, am 25. Januar 2020

von RAin Pia Bruckschen 

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Am 25. Januar 2020 fand auf Einladung des „ICDL Germany e.V.“, einem Zusammenschluss von Strafverteidigern und Wissenschaftlern mit Interesse für das Wirken der internationalen Strafjustiz, die bereits 14. Auflage der Konferenz „Defence Counsel at the International Criminal Tribunals“ in den Räumlichkeiten des Hotels InterContinental in Berlin statt. Die Veranstaltung wurde gefördert von der RAK Berlin, der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN), der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. und der Strafverteidiger Vereinigung Sachsen/Sachsen-Anhalt e.V. Praktiker aus dem In- und Ausland – u.a. aus dem Irak, der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden – fanden sich zur Diskussion und Analyse aktueller Probleme und Entwicklungen in den Verfahren vor den Internationalen Strafgerichtshöfen sowie in deutschen Verfahren mit internationalem Bezug zusammen. Ein intensiver Erfahrungsaustausch praktizierender Juristen sowie die Diskussion erheblicher verfahrensrechtlicher und tatsächlicher Problematiken – neuer oder altbekannter Art – prägten dabei den spannenden Konferenztag in Berlin.

Nach einer Begrüßung durch Dr. Mayeul Hiéramente, Fachanwalt für Strafrecht und Vorstandsmitglied des ICDL Germany e.V., und Frau Isabelle Beaucamp von der DGVN, eröffnete H.E. Judge Van den Wyngaert, die Konferenz mit einem Vortrag zum Thema „Flashbacks and vision of the future of International Criminal Law and Tribunals“. Van den Wyngaert, die derzeit als Richterin an den „Kosovo Specialist Chambers“ in Den Haag tätig ist und zu einer der erfahrensten RichterInnen vor internationalen Gerichten zählt, beschrieb die grundsätzliche Entwicklung der Internationalen Strafjustiz sehr treffend mit den Worten „The times are changing“. Das generelle politische Klima und die Unzufriedenheit von Staaten, die das IStGH-Statut ratifiziert haben sowie auch die Kritik anderer Institutionen und Praktiker auf dem Gebiet an der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag (IStGH) hätten zu einer veränderten Wahrnehmung internationaler Strafverfahren und zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Arbeit der internationalen Strafjustiz geführt. Auch sie selbst mache sich Sorgen um die Zukunft des IStGH und stellte die Frage in den Raum, ob „Licht am Ende des Tunnels“ aktuell noch möglich erschiene. Ihrer Meinung nach sei das Licht aber durchaus greifbar, wenn der IStGHrealistischer und professioneller mit den aktuellen Gegebenheiten und seinen Möglichkeiten umgehen würde.

Im Folgenden gelang Van den Wyngaert ein vergleichender Überblick über die Geschichte internationaler Strafjustiz in der Zeit von Versailles 1918, den Nürnberger Prozessen nach dem 2. Weltkrieg, über die 70er und 80er Jahre bis hin zur Errichtung des IStGH im Jahr 1998.

Während man 1918 noch ein erhebliches Problem mit der Immunität von Staatsoberhäuptern gehabt habe, so Van den Wyngaert, sei nunmehr nach dem Römischen Statut selbst eine Verfolgung amtierender Staatsoberhäupter durchsetzbar. Im Rahmen der Nürnberger Prozesse seien die maßgeblichen und bis heute anwendbaren Begriffsbestimmungen in Bezug auf international verfolgbare Verbrechen geschaffen worden, die als eine Art Grundgerüst weiterhin gelten. Dennoch habe der Internationale Militärgerichtshof nur einen eingeschränkten Handlungsspielraum gehabt und sei dem Vorwurf der Einseitigkeit ausgesetzt gewesen. In den 70er und 80er Jahren habe man von internationaler Strafjustiz geträumt, es sei aber weithin undenkbar gewesen, diejenigen, die für schwerste Verbrechen als verantwortlich gehalten wurden, vor ein Gericht zu stellen. Dies habe schließlich zur Schaffung des IStGH geführt, welcher indes mit enormen Herausforderungen zu kämpfen habe, so Van den Wyngaert. So müsse die Staatsanwaltschaft beispielsweise eine selektive Auswahl treffen, in welchen Ländern und Situation sie ermittelnd tätig werde. Auch der tatsächliche Umfang und die Dauer der Verfahren sowie deren Kosten und die Erwartungen der Verletzten seien immer mit in den Blick zu nehmen. Van den Wyngaert betonte aber, dass die Zeit deutlich gezeigt habe, dass nicht ein zynischer Pessimismus angebracht sei, sondern dass es vielmehr nötig sei, eine realistische Diskussion darüber zu führen, in welcher Form ein Beitrag zu einem funktionierenden internationalen Strafsystem geleistet werden könne. Aus Sicht Van den Wyngaerts seien dabei drei Dinge besonders in den Fokus zu nehmen: Zum einen müssten die Erwartungen an den IStGHund die Internationale Strafjustiz angepasst werden und ein gewisser Realismus Einzug halten. Auch die Auswirkungen eines Verfahrens vor dem IStGH auf staatliche oder innerstaatliche Konflikte dürften dabei nicht beschönigt werden. Als zweites bedürfe es einer strikteren Beachtung des Grundsatzes der Komplementarität, welcher der Durchführung nationaler Verfahren den Vorrang vor internationalen Strafverfahren einräumt. Mehrfach machte Van den Wyngaert diesbezüglich deutlich, dass die Zukunft des internationalen Strafrechts ihrer Meinung nach bei den Mitgliedsstaaten läge. Zwar sei es vor einigen nationalen Gerichten eine Herausforderung, ein mit internationalen Strafverfahren vergleichbares Niveau an sog. fair-trial-Rechten des Angeklagten sicherzustellen. Strafverfolgung zu betreiben, sei aber auch eine Pflicht der Staaten. Drittens sei es von enormer Bedeutung, die Arbeit der Mechanismen wie des kürzlich erschaffenen International Impartial and Independent Mechanism (IIIM)[1], des International Public Prosecutor (IPP) oder des United Nations Investigative Team for the Promotion of Accountability for Crimes Committed by Da’esh/ISIL (UNITAD)[2] für eine systematische Sichtung und Klassifizierung von Beweismitteln und Informationen und zur Nutzung in zukünftigen Verfahren (international oder national) in Anspruch zu nehmen. Trotz der deutlichen Defizite, zu denen Van den Wyngaert sich kritisch äußerte, schuf sie im Rahmen ihres Vortrages viel Raum für Verbesserungen und gab insbesondere den deutlichen Anstoß für notwendige Reformen im Bereich des internationalen Strafrechts.

Dr. Caroline Buisman, seit März 2019 Mitglied des „United Nations Investigative Team for the Promotion of Accountability for Crimes Committed by Da’esh/ISIL“ (UNITAD) gab sodann in ihrem Vortrag mit dem Thema „The challenges of a UN investigation mechanism“ einen spannenden Einblick in ihre derzeitige Arbeit für UNITAD im Irak. Der durch Resolution des Sicherheitsrates erschaffene Mechanismus zur Aufklärung der durch den Islamischen Staat (IS) im Irak begangenen Verbrechen mit Sitz in Bagdad, arbeitet seit nunmehr rund 1,5 Jahren unter der Leitung des Special Advisers Karim Khan, QC, selbst ein erfahrener Strafverteidiger.[3] Zwar konzentriere sich der Mechanismus auf Verbrechen, die im Irak begangen wurden, habe aber, so Buisman, gleichzeitig eine globale Funktion. Buisman, die seit Anfang Dezember im Irak lebt und in einem von mittlerweile vier Teams von UNITAD arbeitet, beschäftigt sich vor allem mit Jesiden, die Opfer von Vertreibung, Gewalt und Massentötungen durch den IS geworden sind. Sie machte in ihrem Vortrag deutlich, dass sie die Erfahrungen, die sie als Strafverteidigerin im Rahmen von Ermittlungen zuvor gemacht habe, gelehrt hätten, dass es hierfür eigentlich niemals ideale Bedingungen gebe. Grundsätzlich, so Buisman, brauche man für eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit neben den guten Verbindungen zur Regierung, in deren Staat die Ermittlungen stattfinden, eine gute Kooperation mit internationalen und nationalen Organisationen vor Ort. Im besten Fall könnte man von diesen bereits gesammelte Informationen und Beweise analysieren und ggf. verwerten. Es sei deshalb besonders hilfreich, dass UNITAD sowohl mit der irakischen Regierung als auch mit kurdischen Organisationen kooperiere. Buisman, die vor ihrer Arbeit bei UNITAD vor allem als Strafverteidigerin vor internationalen Strafgerichten tätig gewesen ist, verglich aus der Erfahrung ihres derzeitigen Perspektivwechsels heraus die mit ihrer Tätigkeit verbundenen persönlichen Herausforderungen. Die Arbeit als Mitglied eines Verteidigerteams und ihre jetzige Arbeit würden sich in einem entscheidenden Punkt erheblich unterscheiden, so Buisman. In der Verteidigerrolle habe man vor allem die Aufgabe, möglichst viele Fehler in der Sachverhaltsdarstellung durch die Anklage (case of the prosecution) zu finden. Bei UNITAD müsse sie nun von Grund auf die Informationen und Beweismittel für einen eigenen Fall (case) sammeln, orientiert an dem Mandat von UNITAD. Dabei müsse sie unvoreingenommen an den Sachverhalt herangehen – zu viele Vorabinformationen seien zum Teil hinderlich. Mitglieder der Jesidischen Gemeinschaft, mit welchen UNITAD zusammenarbeite, seien zwar oft bereit ihre Geschichten zu erzählen, allerdings wäre auch ihre Frustration sehr deutlich spürbar.

Buisman berichtete, dass viele Familienangehörige der Befragten weiterhin verschwunden seien und manche in Gefangenschaft des IS. Um dennoch bestmöglich mit den Menschen arbeiten zu können, sei deshalb eine aufrichtige und ehrliche Kommunikation wichtig. Buisman beleuchtete im Folgenden auch die durchaus innovative Aufgabe von UNITAD, anderen Staaten und deren Justizbehörden Informationen und Beweismittel für nationale Verfahren zur Verfügung zu stellen. Dabei könne es besonders hilfreich sein, dass UNITAD bereits gewisse Informationen vorgefiltert habe. Problematisch sei aber, dass es beispielsweise im Irak noch die Todesstrafe gebe und gerade in den von UNITAD ermittelten Fällen die Terrorismusgesetze Anwendung finden würden. Die Ermittlungsarbeit von UNITAD dürfe selbstverständlich nicht in ein Verfahren münden, welches zu einem Todesurteil führen könnte, weshalb aktuell auf diplomatischem Wege mit irakischen Behörden und der Regierung verhandelt würde. Was die spezifische Ermittlungs- und Zeugenarbeit von UNITAD angehe, würden sie u.a. mit Stimmenwiedererkennung und mit Lichtbildvorlagen arbeiten. Buisman machte jedoch klar, dass dies auch die Gefahr der Voreingenommenheit der Zeugen mit sich bringe, deren Erinnerungsvermögen über die Zeit naturgemäß nachlasse. Es sei bei der Sicherung von Beweisen auch nicht unproblematisch, dass man nicht wisse, in welchem Land letztendlich die Beweismittel genutzt werden würden. Damit wisse man auch nicht, welche Verfahrens- und Beweisregeln Anwendung finden würden. Aufgrund der Befürchtung, dass Beweismittel zerstört bzw. in einem Verfahren nicht mehr verwendbar sein könnten, seien alle UNITAD-Mitarbeiter sehr vorsichtig bei der Sammlung von Beweisen, so Buisman. Auch hier sei man als Verteidiger gut aufgestellt, da man ausreichend Erfahrung damit habe, die Herkunft und Qualität der von Strafverfolgungsbehörden gesammelten Beweismittel in Frage zu stellen und damit auch seine eigene Arbeit kritisch hinterfragen würde. Grundsätzlich, so schlussfolgerte Buisman, sei es bei der gesamten Arbeit von UNITAD und als Teil eines Investigative Teams vor Ort von besonderer Bedeutung, die eigenen Erwartungen realistisch einzuschätzen. Es sollten keine Versprechen gemacht werden, die am Ende nicht gehalten werden könnten. Solche Mechanismen wie UNITAD seien aber möglicherweise die Zukunft der „Internationalen“ Strafgerichtsbarkeit, man könne internationale Expertise vor nationalen Gerichten sinnvoll einbringen. Es ließen sich Netzwerke aufbauen, die effektive und nachhaltige Arbeit leisten könnten. Geplant sei, dass Staaten, die Informationen von UNITAD benötigten, entsprechende Anfragen direkt an UNITAD stellen könnten. Wer darüber hinaus Anfragen an UNITAD richten könne und ob bspw. auch Anklagebehörden oder Strafverteidiger entsprechende Hilfe von UNITAD in Anspruch nehmen könnten, hinge ihrer Ansicht nach u.a. von den nationalen Systemen und strafprozessualen Regeln des jeweiligen Staates ab.

Im Anschluss hieran, ermöglichte Simon Meisenberg, derzeit Chef de Cabinet und Senior Legal Officer an den Kosovo Specialist Chambers[4] in Den Haag, in seinem Vortrag „The Kosovo Specialist Chambers: Expectations and Accomplishments“ einen erhellenden Überblick über die neuerlich errichteten Kosovo Specialist Chambers mit Sitz in Den Haag.

Die Kosovo Specialist Chambers bestehen aus zwei separaten und unabhängigen Institutionen: den Kammern (Specialist Chambers – SC) und der Staatsanwaltschaft (Specialist Prosecutor’s Office – SPO). SC und SPO sind dem Justizsystems des Kosovo nachgebildet und die vier Instanzen sind dem kosovarischen Gerichtssystem angepasst: Basic Court, Court of Appeals, Supreme Court und  Constitutional Court. Das Constitutional Court ist zuständig für Individualbeschwerden. Richter könnten auch Rechtsfragen an dieses Gericht richten. SC und SPO finden ihre Rechtsgrundlage in einer Verfassungsänderung und einem neuen Gesetz (Art. 162 der Verfassung des Kosovo [August 2015] sowie dem Gesetz „Law on Specialist Chambers and Specialist Prosecutor’s Office“ [August 2015]). Diese wurden von der Versammlung des Kosovo adoptiert. Sie sind vorübergehender Natur und ihr Mandat ist die Sicherstellung eines sicheren, unabhängigen, unparteiischen, fairen und effizienten Strafverfahrens in Bezug auf Vorwürfe grenzüberschreitender und internationaler Straftaten, die während und im Nachgang des Konflikts im Kosovo begangen wurden und die in Zusammenhang stehen mit den Taten, die im Council of Europe Parliamentary Assembly Report Doc 12462 of 7 January 2011 enthalten sind sowie Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen der Special Investigative Task Force (SITF) gewesen sind. Gegenstand der Verfahren sollen also Verbrechen sein, die von natürlichen Personen zwischen dem 1.1.1998 und dem 31.12.2000 auf dem Staatsgebiet des Kosovo begonnen oder begangen („commenced or committed“) wurden, vgl. Art. 7, 8 und 9 (1) SC-Law. Das Gesetz sieht die Durchführung der Verfahren außerhalb des Kosovo vor, weshalb die Kammern ihren Sitz in Den Haag (Niederlande) haben, und mit internationalen Richtern, Staatsanwälten und Mitarbeitern besetzt werden. Meisenberg berichtete, dass es im Januar 2020 noch keinen Fall (case) gebe, der vor den Kammern zur Anklage gebracht wurde. Seitdem sind jedoch am 24.2.2020 Anklageschriften einem Vorverfahrensrichter vorgelegt worden, der derzeit die Zulassung zur Hauptverhandlung prüft.  Zuletzt machte Meisenberg noch auf den enormen Fortschritt in den Vorschriften innerhalb des Regelwerkes der SC aufmerksam. Es sei versucht worden, aus guten und schlechten Erfahrungen der anderen internationalen Tribunale zu lernen. So seien in den im Juli 2017 in Kraft getretenen „Rules of Procedure and Evidence“, die sich an den Regelungen kosovarischer Strafverfahren anlehnen, z.B. gewisse Fristen für die Richter kodifiziert.  Sie müssen über Beschwerden innerhalb von 7 Tagen entscheiden. Wird diese Frist nicht eingehalten, muss das Court of Appeal darüber entscheiden. Im Vergleich zu den sonst kaum vorhandenen Fristenregelungen in den Regelwerken der internationalen Gerichte, sei dies ein wichtiger Schritt, so Meisenberg.

Thomas Koll, Strafverteidiger in Aachen, bot den Konferenzteilnehmern in seinem Vortrag „Defending an ISIS-Suspect before a German court“ einen plastischen Einblick in die sogenannten „Rückkehrer-Verfahren“ vermeintlicher IS-Kämpfer oder Unterstützer und mit derartigen Verfahren verbundene Besonderheiten. Eine Hürde sei unter anderem, dass viele Kämpfer nicht nach Deutschland zurückgekehrt seien und auch nicht zurückkehren würden, somit für die Verteidiger unerreichbar seien, aber theoretisch als Entlastungszeugen in Frage kämen. Lediglich Bundeskriminalamt (BKA) und Nachrichtendienste hätten die Möglichkeiten, Personen im Ausland, insbesondere in Krisengebieten, zu befragen. Wenn hierbei Material gesammelt würde, das die Tatvorwürfe gegen einen Angeklagten stützen würde, so würde dieses zeitnah ins Verfahren eingeführt werden können. Im umgekehrten Fall sei dies hingegen leider kaum gängige noch realistische Praxis. Ein besonderes Augenmerk legte Koll zudem auf die problematischen gesetzlichen Regelungen in Bezug auf die Kommunikation des Verteidigers mit seinem Mandanten und der grundsätzlichen Behandlung eines Angeklagten in Prozessen wegen des Tatvorwurfs der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Viele der Bestimmungen stammten noch aus den Zeiten der RAF. Der Angeklagte sitze beispielsweise immer abgeschirmt hinter Glas, ob es sich um ein Treffen mit seinem Verteidiger handele oder um eine mündliche Verhandlung im Gerichtssaal. Auch würde die Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant umfassend kontrolliert. Jedes Schreiben des Verteidigers an seinen inhaftierten Mandanten werde von einem sogenannten Kontrollrichter gelesen werden, der sog. Lese- und Kontrollrechte hat und ggf. auch Dokumente an die Staatsanwaltschaft weiterleiten könne. Zwar sei der entsprechende Kontrollrichter nicht der für das Hauptverfahren zuständige Richter. Käme es jedoch zu Vorfällen innerhalb der JVA, wäre der Kontrollrichter, der auch den Schriftverkehr mit dem Verteidiger kontrolliert, auch der Richter am Amtsgericht, der über den Vorfall entscheiden würde. Zwar dürfe er Erkenntnisse oder Tatsachen aus den Kontrollen in diesen Verfahren nicht verwerten. Ob sich der jeweilige Richter aber vollkommen unbeeinflusst von etwaigen Erkenntnissen aus der Postkontrolle mit den Vorfällen befassen würde, sei zumindest fraglich. Die Zielrichtung derart weitreichender Eingriffe in das Verhältnis des Verteidigers mit seinem Mandanten stamme ebenfalls noch aus der Zeit der RAF, in welcher man vielen Verteidigern misstraut habe und vermutet habe, sie seien ebenfalls Teil der in den Blick genommenen Vereinigung. Solche Gesetze seien mittlerweile deutlich überholt, so Koll.

Chris Gosnell, Co-Counsel von Bosco Ntaganda in dessen Verfahren vor dem IStGH[5], hielt einen Vortrag zum Thema „A Defence Perspective on Disclosure in ICC Proceedings“. Hierin brachte er seinen Zuhörern die weitreichende Problematik der Weitergabe von Beweismaterial und Dokumenten („disclosure“) von der Staatsanwaltschaft an die Verteidigung unter besonderer Berücksichtigung der übermäßigen Anonymisierung von Dokumenten näher. Insbesondere würden viele Beweismittel erst sehr spät an die Verteidiger übersandt und dies zudem in derart anonymisierter Form, dass die Verteidiger kaum etwas damit anfangen könnten. Es würden beispielsweise nicht nur die Namen von Zeugen geschwärzt, sondern auch alle Informationen, die irgendwie über die Identität der Zeugen Aufschluss geben könnten. Damit seien in vielen Fällen aber auch alle substantiellen Informationen geschwärzt, sodass kaum ein Aussagewert oder Ermittlungsansatz für die Verteidigung übrigbliebe. Eine sehr verzögerte Übersendung der Protokolle von Zeugenvernehmungen reduziere zwar zum Teil das Risiko der Gefährdung von Zeugen und Opfern, allerdings seien die Grundsätze eines fairen Verfahrens in Gefahr, verletzt zu werden.[6] So gäbe es beispielsweise häufig sogenannte „ex parte“-Korrespondenz zwischen dem Gericht und der Staatsanwaltschaft. Das bedeutet, dass Anträge gestellt werden, zu denen die andere Partei (hier die Verteidigung) nicht Stellung nehmen kann, von der sie zumeist noch nicht einmal Kenntnis hat. Das mittlerweile beim IStGH weit verbreitete Schwärzen von Verfahrensunterlagen sei zudem extrem zeit- und resourcenintensiv. Dieses ausufernden „Zensieren“ von Beweismaterial und das Zurückhalten von entlastendem Material, so Gosnell, seien absolut kontraproduktiv, wenn es doch um die entscheidende Frage gehe, ob die Angaben des jeweiligen Zeugen glaubhaft seien      oder nicht. Die Staatsanwaltschaft sei eigentlich verpflichtet jedes be- und entlastende Material an die Verteidiger weiterzuleiten, unter Berücksichtigung der in den Rules of Procedure and Evidence kodifizierten und durch die Rechtsprechung untermauerten Ausnahmen. Gosnell endete mit einem vergleichenden Überblick über die Verfahren des ICTY und des ICC. Dabei seien die Verfahren vor dem ICTY seiner Ansicht nach weitaus stringenter geführt und die Prinzipien des fair trial grundlegender beachtet worden, als in den Verfahren vor dem IStGH. Seiner Ansicht nach müssten die Umsetzung der Verfahrensvorschriften und die Prozessführung beim IStGH mittlerweile weiterentwickelt sein, als es tatsächlich der Fall ist.

Marion Carrin, Strafverteidigerin und Mitglied des Verteidigerteams des Angeklagten Charles Blé Goudé am IStGH[7], erläuterte in ihrem Vortrag mit dem Titel „Confirmation of Charges: a Trial before the Trial?“ in sehr anschaulicher Art und Weise den ungeklärten Charakter der Verfahrensstufe der sogenannten Confirmation of Charges am IStGH.[8] In einem Verfahren vor dem IStGH wird der Beschuldigte erst nach der Confirmation of Charges zum Angeklagten. Die Verfahrensnatur der sogenannten Confirmation of Charges sei jedoch nicht einfach zu verstehen, so Carrin. Es solle insbesondere kein sogenanntes Vorverfahren (Pre-trial) sein – also kein „Mini“-Verfahren vor dem Hauptverfahren. Die Kammer solle die Beweismittel deshalb auch nicht derart würdigen, wie sie es im Hauptverfahren tun würde. Selbst wenn Beweismittel teilweise widersprüchlich seien, könne eine Anklage grundsätzlich zugelassen werden. Zum Teil würde der Vortrag der Staatsanwalt im confirmation of charges hearing, einer Hauptverhandung, aber auch einem Plädoyer gleichkommen. Hintergrund der Confirmation of Charges sei, dass dieser Verfahrensabschnitt eine Art Filter sei, um nicht jede Anklage in ein langwieriges Verfahren münden zu lassen, so Carrin. Zugelassen werden sollten nur die Anklagen, die dem Anspruch des „substancial grounds to believe[9] gerecht würden, dass also aufgrund substantieller Gründe anzunehmen sei, dass der Verdächtige die in der Anklageschrift enthaltenen Taten begangen habe. Was aber in diesem Stadium des Verfahrens besonders verwunderlich sei, ist laut Carrin die Möglichkeit des Gerichtes, diese Entscheidung erst einmal zu vertagen. Dieses Mittel werde ihrer Ansicht nach vor allem dafür genutzt, den Anklägern zu verdeutlichen, dass sie zusätzliche Beweismittel beibringen müssten oder dass die bereits vorgebrachten Beweismittel noch nicht ausreichend/überzeugend strukturiert seien. Hierdurch würde der Staatsanwaltschaft ermöglicht, im Vorhinein bereits eine Voreinschätzung des Gerichtes zu erhalten. Im Anschluss hieran hätte die Verteidigung einen Monat Zeit, um die Anklageschrift zu prüfen. Sie enthielte dann, so Carrin, die Sachverhaltsschilderung, deren rechtliche Würdigung und Ausführungen zur individuellen Verantwortlichkeit des Beschuldigten. Um sich hierauf adäquat vorzubereiten, d.h. seinen eigenen Fall (case) bzw. die Verteidigung gegen die Tatvorwürfe vorzubereiten und (Gegen-)Beweise zu ermitteln, sei ein Monat wenig Zeit. Die Aufgabe der Verteidigung sei es, die Anklage in Frage zu stellen und Fehler und Lücken aufzuzeigen – und dies obwohl das Hauptverfahren noch nicht eröffnet sei. Damit werde der Anklagebehörde genau vor Augen geführt – diesmal von Seiten der Verteidigung – in welchen Punkten die Anklageschrift angreifbar sein könnte, wo Fehler gemacht wurden und wo nachgebessert werden müsse. Somit würde die Verteidigungsstrategie noch vor der Hauptverhandlung offengelegt. Die Anklagebehörde hätte zum Teil bereits Jahre jahrelang ermittelt, während der Verteidigung seit der Beiordnung der Rechtsanwälte kaum Zeit zur Vorbereitung bliebe. Wie genau die beste Strategie der Verteidigung in der Phase der Confirmation of charges sei, komme deshalb immer auf die Einzelsituation an. Alles in allem, so schlussfolgerte Carrin, könne man nicht wirklich darauf vorbereitet sein, welcher Situation man als Verteidiger während der Confirmation of chargesausgesetzt sei und welche Strategie zur Vertretung der Rechte und Interessen des Mandanten letztendlich am zielführendsten sei.

Den sehr vielseitigen Konferenztag beendete Natalie von Wistinghausen, Strafverteidigerin in nationalen und internationalen Strafverfahren in Berlin und Den Haag (u.a. Co-Verteidigerin beim Special Tribunal for Lebanon in dem Verfahren The Prosecutor vs. Ayyash et. al[10] im Verteidigerteam für den Angeklagten Hussein Hassan Oneissi) und ebenfalls Vorstandsmitglied des ICDL Germany e.V., in ihrem Vortrag „Representing a Yesidi survivor in a German ISIS-trial“ mit einem spannenden Einblick in ihre Arbeit in einem aktuell laufenden IS-Strafverfahren gegen eine deutsche Staatsangehörige, in welchem sie die Nebenklägerin, eine überlebende Jesidin, vor dem Oberlandesgericht in München vertritt. Der Anklageschrift zufolge soll die Angeklagte mit 24 Jahren nach Syrien und später in den Irak gereist sein. Sie habe sich zuvor über einen längeren Zeitraum immer stärker dem Islam zugewandt und sich im Laufe der Jahre radikalisiert. In Syrien habe sie einen irakischen IS-Kämpfer geheiratet und habe die hisbah, die sogenannte Moral- bzw. Religionspolizei, aktiv unterstützt. Im Jahr 2015 hätten sie und ihr Ehemann, Sklavinnen gehalten – die überlebende Jesidin, die von Wistinghausen nun im Rahmen der Nebenklage vertritt, und ihre Tochter. Das damals 5-jährige Kind der Sklavin habe eines Tages bestraft werden sollen, woraufhin der Ehemann der Angeklagten das Kind bei 45 Grad in der sengenden Sonne von Fallujah im Hof des Hauses angekettet haben soll und verdursten ließ. Die Angeklagte soll dies mit angesehen und nichts unternommen haben, um das Kind zu retten. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland habe die Angeklagte entschieden, wieder nach Syrien auszureisen. Bei der Person, die ihr zur Ausreise verhelfen sollte, handelte sich jedoch um eine Vertrauensperson eines ausländischen Geheimdienstes, der im Rahmen vertraulicher Gespräche von ihren Erfahrungen in Syrien, der Unterstützung der hisbah und des IS sowie von der Situation mit dem Kind, welches ums Leben kam, erfuhr. Diese Gespräche wurden aufgezeichnet und die Angeklagte, als sie sich mit der Vertrauensperson in einem Auto auf dem Weg gen Süden befand, festgenommen. Ihr werden die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Mord durch Unterlassen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Nach Anklageerhebung durch den Generalbundesanwalt, der für die Ermittlung von Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) zuständig ist, erfuhr – so von Wistinghausen – von diesem Verfahren auch eine Mitarbeiterin der NGO Yazda im Irak, die sich mit dem Schicksal der Jesiden befasst und u.a. Befragungen von Überlebenden durchführt, die ggf. als Beweismittel in Strafverfahren gegen vermeintliche IS-Mitglieder eingeführt werden können, aber auch zur Dokumentation der systematischen Angriffe gegen die Jesiden gesichert werden. Diese Mitarbeiterin von Yazda konnte sich an eine jesidische Frau erinnern, die genau diese Geschichte über den Tod ihres 5-jährigen Kindes erzählt hatte. Die jesidische Mutter und Überlebende habe sich nun als Nebenklägerin dem Verfahren vor dem OLG München angeschlossen. Aufgrund der Angaben der Nebenklägerin habe der Generalbundesanwalt auch die Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der Tatvorwürfe gegen die Angeklagte mit aufnehmen wollen, obwohl diese ursprünglich nicht Teil der Anklageschrift gewesen waren. Dies ist durch einen entsprechenden Antrag des Generalbundesanwalts vom Senat des OLG München positiv beschieden worden. Vor einem internationalen Gericht hätte ein solcher Antrag nach Einschätzung von von Wistinghausen für extensiven Schriftverkehr und zahlreiche Stellungnahmen der Parteien gesorgt und wäre ein heikles und umstrittenes Thema gewesen. Der irakische Ehemann der Angeklagten ist mittlerweile in Griechenland festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden. Ab dem 24. April 2020 wird er sich vor dem OLG Frankfurt am Main u.a. wegen des Tatvorwurfs des Mordes des Kindes, aber auch wegen Völkermordes zu verantworten haben. Die Mandantin von von Wistinghausen hat sich auch diesem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen. Solche Strafverfahren, so von Wistinghausen, könnten in Zukunft häufiger vor deutschen Oberlandesgerichten verhandelt werden.

 

 

[1]      Mehr Informationen zum IIIM unter: https://iiim.un.org.
[2]      Mehr Informationen zu UNITAD unter: https://www.unitad.un.org.
[3]      Siehe den 3. Bericht des Special Advisers Karim Khan QC vom 13.11.2019 unter: http://uniraq.com/images/SGReports/S_2019_878_E.pdf (zuletzt abgerufen am 29.4.2020).
[4]      Mehr Informationen zu den Kosovo Specialist Chambers unter: https://www.scp-ks.org/en.
[5]      Zum Verfahren gegen Mr. Bosco Ntaganda siehe: https://www.icc-cpi.int/drc/ntaganda (zuletzt abgerufen am 29.4.2020).
[6]      Siehe auch die Ausführungen von Kai Ambos zu: Confidential Investigations (Article 54 (3) (E) ICC Statute) vs. Disclosure Obligations: The Lubanga Case and National Law, New Criminal Law Review, Vol. 12, No. 4, Herbst 2009, S. 543 ff., abrufbar unter: https://www.legal-tools.org/doc/c76c63/pdf/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2020).
[7]      Zum Verfahren gegen Mr. Charles Blé Goudé siehe: https://www.icc-cpi.int/cdi/gbagbo-goude (zuletzt abgerufen am 29.4.2020).
[8]      Für mehr Informationen und eine kritische Auseinandersetzung siehe auch: The Confirmation of Charges Process at the International Criminal Court: A Critical Assessment and Recommendations for Change, College of Law Washington, October 2015, abrufbar unter: https://www.wcl.american.edu/impact/initiatives-programs/warcrimes/our-projects/icc-legal-analysis-and-education-project/reports/report-19-the-confirmation-of-charges-process-at-the-icc-a-critical-assessment-and-recommendations-for-change/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2020); siehe zudem: Protokoll zum Vortrag von Mr. Enrique Carnero Rojo, vom 5.9.2017 zu Art. 61 Rome Statute – „Confirmation of Charges before Trial“ unter: https://www.legal-tools.org/doc/8e430d/pdf/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2020).
[9]      Siehe auch: War Crimes Research Office, Investigative Management, Strategies, and Techniques of the International Criminal Court’s Office of the Prosecutor (2012), 9. The burden of proof during the ICC confirmation of charges stage is ‘substantial grounds to believe’; siehe dazu: Rome Statute of the International Criminal Court, UN Doc.A/CONF.183/9 (1998), Art. 61(7)
[10]     Mehr Informationen zu diesem Verfahren am STL abrufbar unter: https://www.stl-tsl.org/en/the-cases/stl-11-01 (zuletzt abgerufen am 31.1.2019).

 

 

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