von Prof. Dr. Britta Bannenberg
Abstract
Die Aufmerksamkeit für Clans ist zu begrüßen. Wir benötigen in Deutschland aber eine deutlich verbesserte gesellschaftliche Sensibilität für Organisierte Kriminalität (OK) und die vielfältigen kriminellen Gruppierungen und Parallelgesellschaften. Zu fordern sind Strukturermittlungen, Vermögensabschöpfungen und abgestimmte vernetzte Maßnahmen im Rahmen von internationalen Strategien der vier „P“: prevent, pursue, protect and prepare. Eine Einbindung in kriminelle Gruppen und deren Anwachsen muss verhindert werden (Prävention), die Strafverfolgung sowie der Schutz potentieller und tatsächlicher Opfer und Geschädigter muss sichergestellt und letztlich müssen die Entwicklungen der OK verfolgt und ihre Schäden abgemildert werden.
Attention for Clans is important. In Germany we need a better sensitiveness for serious and organized crime with its varied criminal groups. Tackling organized crime needs structured criminal prosecution and a strategic framework with combined measures like four „P“: prevent, pursue, protect and prepare.
I. Kriminelle Clans
Die Aufmerksamkeit für Clans mit dem Schwerpunkt auf arabischen Großfamilien ist ein guter Schritt, um jahrzehntelange gesellschaftliche Versäumnisse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und endlich zu versuchen, die komplexen Problemstellungen zu lösen.[1] Seit 2019 wird das Thema in den Medien und der Fachöffentlichkeit diskutiert.[2] Vor allem in den Bundesländern Berlin, Bremen, NRW und Niedersachsen werden arabische Clans verdächtigt, mit kriminellen Strukturen den Rechtsstaat zu unterwandern. Die Familien bestehen aus zahlreichen Mitgliedern und stammen überwiegend aus denselben Ursprungsregionen. DER SPIEGEL[3] veröffentlichte 2019 eine Titelstory über „Die Macht der Clans“ und konnte sich neben den eigenen aufwändigen Recherchen u.a. auf einen Artikel des damaligen Inspektionsleiters für Organisierte Kriminalität in Berlin, Markus Henninger, berufen, der das Phänomen schon 2002 für die Kriminalistik
beschrieben hatte.[4]
Nicht nur wegen der politischen Brisanz der ethnischen Herkunft der Täter, sondern auch wegen jahrzehntelangen polizeilichen, justiziellen und gesellschaftlichen Versäumnissen konnten diese und andere Phänomene organisierter Kriminalität zum Problem werden. Mittlerweile wird das Thema Clans im Bundeslagebild Organisierte Kriminalität (OK) aufgegriffen: Clans sind demnach kriminell abgeschottete Subkulturen mit einer starken Ausrichtung auf zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstrukturen, einer mangelnden Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration, dem Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen und der Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotentiale.[5] Erfasst wurden im Jahr 2018 insgesamt 45 OK-Verfahren mit 654 Tatverdächtigen, bei denen 24 Gruppierungen mit arabischstämmiger Herkunft dominierten, aber auch andere ethnische Gruppen vertreten waren. Die Bundesländer NRW[6] und Niedersachsen[7] haben Landeslagebilder zur Clankriminalität vorgelegt, die weitere Indizien zur Definition der Clankriminalität aufführen (etwa Ausleben eines stark überhöhten Ehrbegriffs). Diese Lagebilder betrachten nicht nur OK, sondern erfassen darüber hinaus „Ereignisse“ und Ermittlungsverfahren mit einem breiten Spektrum. Die Zahlen vermitteln deshalb andere Größenordnungen (etwa über 2.600 Ereignisse und fast 1.600 Ermittlungsverfahren gegen 1.646 Tatverdächtige in Niedersachsen). Möglich werden phänomenologische Beschreibungen der Aktivitäten der Clanmitglieder und ihre Entwicklung. Dabei kommt es auch zu Ermittlungsverfahren wegen OK, aber es zeigen sich durch die breit gefächerte Betrachtung auch andere Ansatzpunkte für Strukturerkenntnisse und Gegenwirkungsmöglichkeiten, die über OK-Ermittlungen weit hinausgehen. In Berlin engagiert sich der Vorsitzende der CDU Neukölln, Falko Liecke, mit deutlichen Worten und zahlreichen Vorschlägen und Initiativen zur Clankriminalität in Neukölln.[8] Auf der Seite www.clansstoppen.berlin finden sich konkrete Vorschläge zu Gegenmaßnahmen und neue Entwicklungen.
II. Gefahr durch andere Parallelgesellschaften
Die Clanproblematik darf bei aller berechtigten Aufmerksamkeit nicht zu einem wiederum verengten Blickwinkel führen. Vielfach werden die Bundesländer Berlin, Bremen, NRW und Niedersachsen mit Clans in Verbindung gebracht, weil man vor allem die libanesisch-kurdischen Mhallami im Blick hat und weil typische Clanaktivitäten neuerdings medial breit berichtet werden. Daraus kann bei anderen Bundesländern der falsche Eindruck entstehen (oder verstärkt werden), man habe kein Problem mit Parallelgesellschaften.
Die Organisierte Kriminalität wird wie die Wirtschaftskriminalität kaum verfolgt. Die zu begrüßende Aufmerksamkeit für arabischstämmige Clanfamilien darf den Blick für die Organisierte Kriminalität durch ethnisch geprägte Familienverbände und andere kriminelle Strukturen nicht verstellen. Kriminalitätsphänomene durchlaufen Modewellen und entsprechende mediale Aufmerksamkeit wie andere gesellschaftlich relevante Themen auch. Das Thema Organisierte Kriminalität ist mit den Entwicklungen seit dem 11. September 2001 und der Konzentration auf zunächst islamistischen, mittlerweile auch rechten Terror, seit langem aus dem Blick geraten. Bedenkt man Diskussionen in den 1990er Jahren, die von theoretischen Debatten (Definition OK), der Frage der Existenz und Bedeutung des Phänomens (Mafia oder Netzwerke, russische OK und sizilianische Mafia und anderes) und zahlreicher rechtlicher Debatten (Beweislastumkehr bei der Vermögensabschöpfung, zahlreichen Geldwäschenovellen, gescheiterte und mittlerweile aufgehobene Vermögensstrafe, § 43a StGB a.F.; Verbrechensbekämpfungsgesetz, OrgKG u.a.m.) geprägt war, aber auch die damals zahlreichen nationalen und internationalen Konferenzen[9], Debatten und Dispute, so kam all das mit der Konzentration auf das Thema Terrorismus auf einmal nicht mehr vor.[10] Die Kernthemen der Organisierten Kriminalität sind altbekannt (Rotlichtmilieu, Drogenhandel, organisierte Eigentumskriminalität, Berufskriminalität und gewaltgeprägte Banden, Gangs und Subkulturen). Die Erscheinungsformen ändern sich und gehen mit der Zeit. Insbesondere die Globalisierung mit ihren Schattenseiten für organisiert kriminelles Handeln wird in Deutschland noch nicht ausreichend gesehen.[11] Auch die zunehmende Vielfalt von Straftaten im Internet (Cybercrime im weiten Sinne), die von organisierten Gruppen in der Regel mit internationalen Bezügen mittlerweile phantasievoll ausgebaut werden, stellen Polizei und Justiz vor große Herausforderungen.[12] OK schadet in vielfältiger Weise, die Bevölkerung spürt irgendwann die Folgen. Steuerhinterziehungen, das Anwachsen der illegalen Märkte, auf die Sinn[13] zutreffend hinweist, Geldwäsche in vielfältiger Form, organisierte Eigentumskriminalität, Drogenhandel unterwandern nicht nur die legalen Formen der wirtschaftlichen Betätigung, sondern haben den Nebeneffekt, Parallelgesellschaften zu fördern, die sich vom Rechtsstaat völlig abkoppeln und rechtliche Mechanismen nur dann nutzen, wenn es den eigenen Interessen dient. Wer mit Abschottung in den kriminellen Gruppierungen seine illegalen Erträge in das legale Wirtschaftsleben einschleust, schadet nicht nur denjenigen, die sich an die Gesetze halten. Die Handlungsweisen bauen typischerweise auf der Durchsetzung der eigenen Interessen mit der Androhung von Gewalt (weniger der Gewaltanwendung selbst) auf. Gewalt und Skrupellosigkeit prägen aber die Verhaltensweisen der kriminellen Akteure den Schwächsten gegenüber, wie sich insbesondere in Menschenhandel, Schleusungen, Zwangsprostitution und Drogenhandel zeigt. Europa und insbesondere Deutschland sind dabei als Zielorte wirtschaftlich höchst attraktiv, über die rechtsstaatlichen Regeln setzen sich diese Akteure jedoch (erfolgreich) hinweg.
III. Schwierige strafrechtliche Ermittlungen gegen OK
Die Strafverfolgungsbehörden haben typischerweise Schwierigkeiten bei der Ermittlung Organisierter Kriminalität. Das beginnt bei der Definition, den möglichen Kriminalitätsfeldern und der strafrechtlichen Erfassung[14] und setzt sich bei den Ermittlungen fort, weil häufig fragliche Zuständigkeiten und Ressourcen bei bundesländerübergreifenden Straftaten und erst recht bei international agierenden Tätergruppen zu beachten sind. Die Täter agieren verdeckt, sind in legalen und illegalen Geschäftsfeldern unterwegs, um die illegalen Erträge in den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen und ihren Tätigkeiten legale Fassaden zu geben. Man nutzt auch Spezialwissen von Rechtsanwälten, Strafverteidigern und Steuerberatern und hat mit der Begleichung hoher Honorarforderungen keine Schwierigkeiten. Diese Probleme sind dem Phänomen aber typischerweise immanent, weil man es in der Regel mit Tätergruppen und Strukturen zu tun hat, die ihre kriminellen Aktivitäten auf Dauer anlegen oder eben einen Lebensstil pflegen, der per se im Gegensatz zum rechtsstaatlichen Anspruch steht. Interessant und besonders problematisch wird es immer dann, wenn der Rechtsstaat nicht nur „Gegenspieler“ ist (und eben grundsätzlich nur einen gewissen Teil der kriminellen Aktivitäten aufdecken und sanktionieren kann, dies aber immerhin beharrlich versucht), sondern wenn rechtsfreie Räume entstehen, in denen der Rechtsstaat schlicht nicht mehr existiert. Man kann sich fragen, warum es so wenige spezialisierte OK-Dienststellen mit einer ausreichenden Personalausstattung gibt. Auch die Justiz muss sich fragen lassen, wie viele Staatsanwälte in diesen Phänomenbereichen eingesetzt werden und wie es um gemeinsame Ermittlungsgruppen steht, die letztendlich die erfolgversprechenden Strafverfolgungsinstanzen darstellen. Strafkammern mit entsprechenden Kenntnissen und Personalressourcen müssen vorausgesetzt werden. Möglicherweise hat auch die lange Zeit fehlende Sensibilität für diese Kriminalitätsphänomene Auswirkungen auf die Wahrnehmung. Sehen Strafverfolger denn die Anzeichen für organisiert kriminelles Handeln mit einem kriminalistischen Blick oder herrscht angesichts der Personalknappheit Resignation?
Man kann teilweise den Eindruck gewinnen, dass auch der kriminalistische Blick für die Indizien illegaler Aktivitäten verloren gegangen ist. Oder beruhigt man sich mit dem Blick in die Kriminalstatistiken, die jedes Jahr für das Hellfeld sinkende Fallzahlen bei besserer Aufklärungsquote verkünden? Diese nur vermeintliche Senkung der Kriminalität darf nicht täuschen. Diese Kriminalitätsformen von OK und Wirtschaftskriminalität werden in aller Regel nicht durch eine Strafanzeige bekannt, sondern gehören zur sogenannten „Kontrollkriminalität“. Wenn diese nicht eigeninitiativ ermittelt wird, gibt es keine Fälle und keine Tatverdächtigen. Die Erfassungen von Wirtschaftskriminalität und OK sind deshalb von Untererfassung geprägt. Schaut man sich das Lagebild des BKA an, so wurde 2018 mit 535 OK-Verfahren ein Tiefststand in den letzten zehn Jahren mit durchschnittlich 573 OK-Verfahren jährlich erreicht. Gegenüber den Feststellungen von Europol im Bericht SOCTA 2017 (Serious and Organised Crime Threat Assessment) mit steigenden Problemen der schweren und organisierten Kriminalität ist das völlig erwartungswidrig.
IV. Das berechtigte Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger
Bürger merken längst, dass etwas schiefläuft. Die jährlich verkündeten sinkenden offiziellen Hellfeldstatistiken mit scheinbar immer besseren Aufklärungsquoten verfangen nicht. In den eigenen Wohnvierteln und Städten wird bemerkt, dass zahlreiche junge Männer mit Luxusfahrzeugen nicht nur angeben, sondern offen Revier markieren, die Polizei provozieren und dass zahlreiche Familienmitglieder etwa bei Hochzeiten und Feiern von Großfamilien weder Regeln noch Höflichkeit kennen, sondern sich offen provokant und feindselig verhalten. Der Staat greift in der Regel nicht ein. Oder öffentliche Plätze in den Innenstädten, die von lärmenden jungen Männern mit unangemessenen Verhaltensweisen dominiert werden und die von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt gemieden werden. Hier auf eine (bloße) Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls zu verweisen und von den Bürgern Toleranz einzufordern, geht am Thema vorbei. Die Bevölkerung kann in der Regel Drogenhandel und organisierte Straftaten nicht direkt beobachten, sie nimmt Indizien wahr und zieht Schlussfolgerungen. Das mag in dem einen oder anderen Fall unrichtig sein, es verwundert aber doch, dass sich die Bevölkerung fragt, wie sich junge Männer luxuriöse PKW im Wert von 150.000 oder 200.000 Euro leisten können, mit ihrem Verhalten und ihren Regelbrüchen (bis hin zu deutlichen Gefährdungen im Straßenverkehr) provozieren und Polizei und Staatsanwaltschaften das gleiche Verhalten entweder nicht zur Kenntnis nehmen (wollen?) oder uminterpretieren als „Spaß mit einem Mietwagen“.
Schaut man sich die Veränderungen in deutschen Städten und Kommunen an, so dominieren heute Shisha-Bars, Wettbüros und Spielhallen mit Automatenaufstellung und ein entsprechendes Publikum ganze Straßenzüge. Auch fallen andere Unternehmungen wie Barber-Shops, Nagelstudios und Tattoo-Studios sowie gewisse Box-Clubs, Kampfsport- und Fitness-Clubs mit auffälligem Publikum ins Auge. Das Parken über mehrere Plätze mit auffälligen Fahrzeugen, lautes An- und Abfahren, Parken in zweiter Reihe und anderes mehr spricht nicht unbedingt für eine heute rasch unterstellte „Poser- und Tuningszene“ (das kann, muss aber nicht zutreffen und bildet nicht das Kernproblem). Die sehr erhellende Studie von Simon Harding zu „County Lines“ zeigt ein bedrohliches Expandieren des Drogenhandels und kann aufgrund der tiefen Einblicke in die Drogenhandelsszene im Großraum London zu dem Schluss führen, dass diese kleinen Unternehmungen vor allem als Geldwäscheaktivitäten zu deuten sind.[15] Daneben sind Treffpunkte der Milieus zu vermuten, die auch für viele Jugendliche den Gangster-Lifestyle attraktiv machen. Wenn sich bestimmte Gruppen der Gesellschaft nur oberflächlich und verächtlich grinsend an keine oder nur an banale Regeln halten, um ihren Bereicherungs- und Gewaltaktionen mit eigenen Regeln umso nachdrücklicher und ungestörter nachzugehen, dann läuft etwas schief. Hier zeigen nicht nur Clans in manchen Bundesländern, was sie von staatlichen Regeln und Institutionen halten, sondern eben auch viele andere Gruppen, die sich zu gewaltgeprägten Parallelgesellschaften entwickelt haben oder dabei sind, das zu tun.
V. Mafiöse und kriminelle Gruppen
Neben diese im öffentlichen Raum auffälligen Gruppen treten andere, deren Gefahrenpotential nur von Spezialisten gesehen wird. Rockergruppierungen, rockerähnliche Vereinigungen und die jeweiligen Supporterclubs fallen wegen der Kuttenverbote und den fehlenden Motorradkorsos vielleicht nicht mehr so auf, expandieren jedoch in Europa.[16] Gruppen wie kriegserfahrene Tschetschenen, vor denen das BKA nach Angaben des SPIEGEL[17] im Jahr 2019 warnt, weil diese „nordkaukasisch-dominierten OK-Strukturen“ als extrem gewaltbereit[18] auffallen und etwa eine Facebook-Seite der Kampfsportvereinigung „Regime 95“ betreiben, die mit einer Kalaschnikow, die aus einem Geländewagen präsentiert wird, Gewalt propagieren, sollen in mehreren Bundesländern mit Drogenhandel, bandenmäßigem Diebstahl und Erpressung (oft in Zusammenhang mit Inkassoaufträgen) tätig sein. Im Jahr 2016 soll ein Drogenhändler in Berlin-Charlottenburg durch eine Autobombe von Tschetschenen getötet worden sein. Gewaltbereite Tschetschenen fielen vor einigen Wochen auf, weil sie sich mehrtägige Straßenschlachten mit nordafrikanischen Drogenhändlern in Dijon lieferten, zu denen aus ganz Europa Unterstützer anreisten. Die französische Polizei bekam die Lage sehr schwer in den Griff.
Die Ausbreitung der abgeschotteten ´Ndrangheta in Deutschland wird im Lagebild 2018 des BKA thematisiert und in einer Abhandlung von Schraven/Meuser und Löer[19] aufgezeigt. Den empirischen Blick für die Ausweitung dieser Mafia-Gruppierung in Deutschland öffnet aber ein Beitrag von Bedetti und Dalponte, die gestützt auf umfangreiche Auswertung italienischer Strafverfahren Art und Ausmaße der Aktivitäten darlegen.[20]
Auf den Aspekt, dass „Flüchtlinge als Handlanger krimineller Clans“ eingesetzt werden, weist nicht nur Duran[21] hin. Der SOCTA 2017 zeigt genauso wie das Lagebild OK 2018, dass man die vielschichtige Problematik sieht. So erfasste das BKA in 87 der insgesamt 535 OK-Verfahren Zuwanderer als Tatverdächtige vor allem im Zusammenhang mit Rauschgifthandel und-schmuggel.[22] Im Europol-Bericht SOCTA 2017 wird die geopolitische Situation mit den durch die Kriegshandlungen in Syrien und Libyen ausgelösten Migrationsbewegungen als erheblicher Risikofaktor gerade für schwere organisierte Kriminalität gesehen, weil sich kriminelle Schleusergruppen im Menschenhandel betätigen, der Waffenhandel zunimmt und Drogenhandel entlang der Fluchtrouten deutlich mehr Drogen nach Europa gelangen lässt. Die Sicherheitslage in Europa werde dadurch erheblich beeinflusst.[23]
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der aktuell problematischen Entwicklungen in Deutschland. Es fehlt vor allem an angemessener Strafverfolgung dieser kriminellen Gruppen.
VI. Autoritätsverlust und Gewalt gegen Polizei- und Einsatzkräfte
Polizei-, Einsatz- und Rettungskräfte geraten dagegen selbst unter Druck. Die gewalttätigen Angriffe auf Polizeibeamte haben längst ein Ausmaß erreicht, das mit einer vermeintlichen gestiegenen Anzeigequote nicht in Einklang zu bringen ist. Hier wird ein massiver Autoritätsverlust deutlich, der sich in zahlreichen Beleidigungen und Abwertungen, aber auch in körperlicher Gewalt äußert. Das Problem ist vielschichtig und es muss beunruhigen, dass sich Teile der Bevölkerung vorschnell mit der Täterseite solidarisieren. Rettungskräfte und Notärzte können heute mit Erfahrungen von gewalttätigen Übergriffen aufwarten, die noch vor zehn Jahren in dieser Dimension nicht vorstellbar gewesen wären. Zudem kommt es zu zahlreichen Rettungseinsätzen, die in manchen Städten bzw. Stadtteilen routinemäßig von Einsatzfahrzeugen der Polizei begleitet werden (müssen).
VII. Moderne Datenanalysesysteme der Polizei und fehlende Strukturermittlungen
In vielen Bundesländern sind seit einigen Jahren Datenanalysesysteme im Einsatz (oder sind in der Entwicklung), deren Möglichkeiten der Verknüpfung äußerst umfangreicher polizeieigener Datenbestände faszinierend und vielversprechend sind. Diese Systeme sind für ihre Anwendungszwecke begrenzt, sollen aber teilweise gerade die OK-Ermittlungen unterstützen. Wenn jedoch die Ursprungsermittlungen in den OK-Dezernaten dürftig sind, weil Strukturermittlungen fehlen, nützen die technischen Möglichkeiten nichts.
VIII. Was ist zu tun?
Es bedarf zunächst der (erneuten) Sensibilität der Strafverfolgungsbehörden für das Thema Organisierte Kriminalität. OK muss bundesweit und im Hinblick auf die globalen Täterverflechtungen auch international ernsthaft verfolgt werden. Dabei ist nicht nur auf Strafverfolgung zu setzen. Rechtliche und praktische Möglichkeiten müssen neben präventiven Maßnahmen ausgelotet und umgesetzt werden.
Hier soll nicht auf die vielen Einzelvorschläge im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen Clans eingegangen werden, diese wären einer speziellen Betrachtung im Detail zu unterziehen. Die Politik der „Nadelstiche“, die gemeinsame Ermittlungen auch gegen Ordnungsverstöße und kleinere Straftaten vorsieht, steht aber zu langwierigen Ermittlungen gegen schwere Straftaten der organisiert kriminellen Gruppen nicht im Widerspruch, weil sich zwei Effekte zeigen könnten: Man stört die kriminellen Geschäfte und man beginnt, die Kriminalitätsstrukturen zu verstehen.
Man sollte darüber nachdenken, ob nach dem Vorbild der Europol-Analyse SOCTA entwickelte nationale Strategien wie etwa diejenige des Home Office gemeinsam mit der National Crime Agency: „Tackling serious and organised crime“ vom 28.6.2019[24] ein Vorbild für Deutschland darstellen könnten. Hier wird die nationale Lage mit wichtigen Fakten dargestellt und eine Strategie vorgeschlagen, die nicht nur die Strafverfolgung betont, sondern die vier „P“: prevent, pursue, protect und prepare. Gegenüber einer Erfassung der OK in Lagebildern besteht der Vorteil in einer Analyse, die Hintergründe der OK erläutert, fortschreibt und auf den Prüfstand stellt und nicht nur die polizeilichen Ermittlungen abbildet.
Neben der internationalen Ausrichtung müssen die Strafverfolgungsbehörden die personellen Ressourcen in den Kommunen und Städten Deutschlands erhöhen bzw. die Notwendigkeit einfordern.
Die Gesellschaft muss sich der Gefahren „schwerer und organisierter Kriminalität“ bewusster werden und zivilgesellschaftliche Initiativen gründen, unterstützen und ausbauen. Organisierte Kriminalität geht alle an, weil die Schäden alle treffen und der Rechtsstaat ausgehöhlt und in Frage gestellt wird.
Konkret sind die Polizei- und Justizbehörden aufgefordert, abgestimmte rechtliche Maßnahmen zur Verfolgung und Zurückdrängung von OK durchzuführen, was eine verbesserte Personalausstattung und entsprechende Schulungen bedeutet.[25] Unbedingt erforderlich sind Strukturermittlungen und eine konsequente Strafverfolgung. Empfindliche Freiheitsstrafen für die Drahtzieher der organisierten Netzwerke sind dabei eine wichtige Konsequenz, vor allem muss der OK jedoch in ihrer Hauptzielrichtung begegnet werden: Bei der Entziehung der finanziellen Erträge.
Organisierte Kriminalität ist Kontrollkriminalität. Nur die Polizei aufzufordern, bei der Verfolgung der organisierten Kriminalität tätig zu werden, wie es häufig undifferenziert geschieht, reicht bei weitem nicht aus. Diese Kriminalitätsphänomene fordern auch auf Seiten der Staatsanwaltschaften Schwerpunktsetzungen, Entschlossenheit, ausreichend finanzielle Ressourcen, Geduld und eine Behördenleitung, die die Strafverfolgung mit Nachdruck unterstützt. Und ohne ausreichendes Personal in den Strafkammern kann die Justiz ihrer Aufgabe nicht gerecht werden.
Somit ist die Forderung nach ausreichend qualifiziertem Personal bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten mit einer langandauernden Zuständigkeit in den Dezernaten unabdingbar, um Erfahrungswissen und Handlungsroutinen zu erlangen. Ermittlungen mit hohem personellen Einsatz und Durchsuchungsmaßnahmen in mehreren Objekten müssen auch justiziell erfolgreich umgesetzt werden. Typischerweise erstrecken sich diese Ermittlungsverfahren über einen langen Zeitraum und sind schwer zu bündeln. Ohne zeitnahe Anklagen und Verurteilungen sind Verfahrenseinstellungen und Verständigungen mit deutlicher Reduktion der Vorwürfe und Sanktionen zu erwarten. Erfolgreich gegen organisiert kriminelle Taten können Ermittlungen deshalb nur dann sein, wenn das Entdeckungs- und Verurteilungsrisiko steigt und insbesondere der finanzielle Erfolg aus den Straftaten entzogen werden kann. Die Reform der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 könnte die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden verbessern. Die Reform des § 129 Abs. 2 StGB ist ein erster Schritt. Letztlich wird aber immer nur das entschlossene und abgestimmte Vorgehen, das dauerhaft gegen diese Art von Kriminalität gerichtet ist, erfolgreich sein.[26] Im Jahr 2019 verwundert es sehr, dass abgestimmte Ermittlungen über die Grenzen von Bundesländern oder koordinierte internationale Ermittlungen bei Organisierter Kriminalität immer noch nicht selbstverständlich sind.
Beim Vorgehen gegen Clans und organisiert kriminelle Gruppen ist der Aspekt der Gefahren körperlicher Angriffe nicht zu unterschätzen. Es erfordert nicht nur Mut, sondern auch einer qualifizierten Ausbildung, um brutal demonstriertem Machtgehabe solcher Tätergruppen entgegenzutreten.[27] Diese Risiken tragen vor allem Polizeibeamte. Hinzu kommt der Aspekt, dass schon eine normale Verkehrskontrolle rasch das Anwachsen einer ethnisch geprägten Personengruppe, die vom Clan herbeigerufen wird, zur Folge haben kann. Zwei Polizeibeamte stehen so möglicherweise unerwartet 50 bis 100 Personen gegenüber, die aggressiv versuchen, die Kontrollmaßnahme zu verhindern.
Wie bei Amok- und Terrorlagen ist beim Einsatz gegen organisiert kriminelle Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft eine hohe Eigengefährdung gegeben. Es geht aber auch darum, entschlossenes Vorgehen in Maßnahmen umzusetzen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Spezialeinsatzkräfte (SEK) sind für solche Lagen grundsätzlich qualifiziert, Schutz- und Bereitschaftspolizisten nur in sehr geringer Weise. Wer sich in der Szene bewegt, muss sich auf eine gewaltverherrlichende, menschenverachtende und sexistische Sprache und massive Drohungen einstellen. Die Drohung, weniger die Tat selbst, ist vielfach das Herrschaftsmittel der Clans. Polizisten werden direkt eingeschüchtert, bis hin zu Morddrohungen. Bei vielen Beamten zeigt dies Wirkung, zumal der Rückhalt in der eigenen Behörde oft zu wünschen übrig lässt. Beruhigendes Auftreten ist im Milieu der Clanstrukturen nur selten zielführend. Deeskalationsversuche werden in der Gedankenwelt der brutalen Gewalt regelmäßig als Schwäche wahrgenommen. Angemessene Wertschätzung des Gegenübers und respektvolles Auftreten ist die Basis jeglicher Polizeikultur. Respekt und Wertschätzung sind allerdings keine Einbahnstraße. Auch Mitarbeiter von Ordnungsämtern und Sozialbehörden müssen auf konflikthafte Begegnungen vorbereitet werden, wenn ein verstärktes Vorgehen gegen Ordnungsverstöße aus den Reihen der Clans erfolgen soll. Wer diese Trainings durchführen soll, ist völlig offen. Die Polizei kann das aufgrund der aktuellen Personalsituation nicht leisten. Ein Ausbau qualifizierter Fortbildungen und Trainings durch NGO´s wäre ein erster Schritt.
Schlagwortartig lassen sich die Forderungen bündeln:
- Verbesserte Strafverfolgung; abgestimmte rechtliche Maßnahmen zur Verfolgung und Zurückdrängung von OK
- Gemeinsame Ermittlungsgruppen
- Keine Verengung der Diskussion auf kriminelle Verhaltensweisen von Familienclans, sondern Strukturermittlungen in den OK-Milieus in ganz Deutschland
- Beachtung des Problems mehrfach kriminell auffälliger Zuwanderer und die Attraktivität subkultureller OK-Gruppen
- Prävention darf nicht als Worthülse und als Rechtfertigung für weitgehend unterbleibende Strafverfolgung benutzt werden. Integration, wirksame und problemorientierte kriminalpräventive Maßnahmen, Sensibilität für die komplexen Probleme bedeuten erheblichen Aufwand, Kosten, aber am Ende Nutzen für die Gesellschaft.
- Ausbau empirischer Forschung zu OK.[28]
Die Universitäten und damit den eigenen Verantwortungsbereich kann man nicht ausnehmen: Man muss die jungen Juristinnen und Juristen mit einer Neigung zu Strafrecht und Kriminologie nachhaltig auf die wichtige Thematik aufmerksam machen, Sensibilität schaffen sowie die Ausbildung verbessern. Wenn junge Juristen in den Staatsdienst eintreten und Geldwäsche, OK und kriminelle Vereinigungen nur aus Krimis kennen, ist in der Juristenausbildung etwas versäumt worden.
[1] Ghadban, Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr, 2018; LKA NRW, Clankriminalität – Lagebild NRW 2018, abrufbar unter: https://lka.polizei.nrw.de (zuletzt abgerufen am 15.7.2020); LKA Niedersachsen, Lagebild Clankriminalität, Kriminelle Clanstrukturen in Niedersachsen 2019; BT-Drs. 19/11105 v. 25.6.2019, Antrag der Abgeordneten Konstantin Kuhle u.a. sowie der Fraktion der FDP, Clankriminalität effektiv bekämpfen.
[2] Schwerpunktheft Kriminalistik 5/2019.
[3] DER SPIEGEL: „Die Macht der Clans“ v. 16.2.2019: „Arabische Familienbanden haben den Staat lange verhöhnt – jetzt schlägt er zurück“.
[4] Henninger, Kriminalistik 12/2002, 714-729; 5/2019, 282 ff. im Neuabdruck.
[5] BKA, Lagebild OK 2018, S. 28.
[6] LKA NRW, Clankriminalität – Lagebild NRW 2018.
[7] LKA Niedersachsen, Lagebild Clankriminalität, Kriminelle Strukturen in Niedersachsen
[8] Liecke, der kriminalist 5/2020, 20-26.
[9] Beispielhaft BKA-Arbeitstagung 1996; Mayerhofer/Jehle, Organisierte Kriminalität, 1996, zur Tagung der Kriminologischen Gesellschaft (damals noch Neue Kriminologische Gesellschaft) 1995 in Wien.
[10] Fijnaut/Paoli zeigten sich in ihrem umfangreichen Werk: „Organised Crime in Europe“ aus dem Jahr 2004 noch optimistisch, dass der 11. September und das Thema Terror die OK-Thematik nicht völlig von der kriminalpolitischen Agenda verdrängen werde und meinten, empirische Forschung zu OK werde international vorangetrieben werden. Sie sollten sich irren.
[11] Umfassend mit vielen Anregungen Sinn, Organisierte Kriminalität 3.0., 2016; ders., Wirtschaftsmacht Organisierte Kriminalität, Illegale Märkte und Illegaler Handel, 2018.
[12] Europol, IOCTA (Internet Organised Crime Threat Assessment) 2019.
[13] Sinn, Wirtschaftsmacht Organisierte Kriminalität, Illegale Märkte und Illegaler Handel.
[14] Zu der Problematik des § 129 StGB siehe umfassend Sinn, Organisierte Kriminalität 3.0. Auch nach der Reform des § 129 Abs. 2 StGB dürften die Probleme grundsätzlich fortbestehen.
[15] Harding, County Lines, Exploitation and Drug Dealing Among Urban Street Gangs, Bristol University Press 2020.
[16] Bannenberg/Schmidt, Kriminalistik 10/2019, 563-573. Zu den Entwicklungen in Europa auch mit Aspekten der Gegenwirkung und Prävention umfassend Maxson/Esbensen (Eds.), Gang Transitions and Transformations in an International Context, 2016, mit einem Blick auf die Entwicklung der Eurogang Forschergruppe.
[17] Lehberger, DER SPIEGEL v. 9.5.2019: Organisierte Kriminalität – BKA warnt vor Tschetschenen-Mafia.
[18] Im Lagebild OK des BKA werden für 2018 acht Verfahren gegen tschetschenisch dominierte OK-Gruppierungen aufgeführt, wobei die Tatverdächtigen „eine überdurchschnittlich hohe Eskalations- und Gewaltbereitschaft“ aufwiesen, Lagebild 2018, S. 26.
[19] Schraven/Meuser/Löer, Mafia in Deutschland, 2017.
[20] Bedetti/Dalponte, in: Allum/Gilmour (Eds.), Handbook of Organised Crime and Politics, 2018, S. 50-71.
[21] Duran, Kriminalistik 2/2020, 86-88.
[22] BKA, Lagebild OK 2018, S. 35 f.
[23] SOCTA 2017, S. 24, 34 ff., 52 ff.
[24] Abrufbar unter: www.nao.org.uk (Report des National Audit Office: Tackling serious and organised crime, 2019).
[25] So schon Schmidt/Bannenberg, Kriminalistik 6/2019, 339-345; die folgenden Vorschläge zur Verbesserung des Vorgehens gegen OK finden sich weitgehend schon dort S. 344 f.
[26] Vorbild könnten hier Zentralstellen gegen Internetkriminalität wie etwa die ZIT in Hessen sein, die bei der Generalstaatsanwaltschaft angesiedelt ist.
[27] Siehe zu einigen Aspekten Schmidt/Bannenberg, Kriminalistik 2/2020, 67-73.
[28] Siehe dazu von Lampe/Knickmeier, Organisierte Kriminalität. Die aktuelle Forschung in Deutschland. Schriftenreihe Forschungsforum Öffentliche Sicherheit Nr. 24, 2018.