von Engin Turhan, LL.M. (Istanbul)
Abstract
Eines der aktuellen Themen des Bundestages ist, wie in den letzten Jahren üblich, die Veränderung von einigen Vorschriften im 13. Abschnitt des StGB. Vergleichbar mit der „Nein heißt Nein!“-Änderung des § 177 StGB und der Einfügung des § 184i StGB von 2016 erkannte der Staat die Reaktionen der Gesellschaft an. Dieses Mal ist hauptsächlich eine Änderung im Rahmen des sexuellen Missbrauchs von Kindern geplant, die auch die Überschriften der aktuellen §§ 176 bis 176b StGB betrifft. Damit wird beabsichtigt, den „bagatellisierten“ Missbrauchsbegriff aufzugeben, und eine neue Überschrift zu fassen: „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder“. Wie äquivalent ist jedoch der im Gesetzentwurf vorgeschlagene Begriff der „sexualisierte[n] Gewalt“ – vom Besonderen zum Allgemeinen – zum § 176 StGB, zu den anderen Missbrauchstatbeständen, der Systematik des 13. Abschnitts des StGB und dem „Gewaltbegriff“ im Rahmen des bisherigen herrschenden Verständnisses im Strafrecht? Sollten Gewalt und andere Zwangsmittel in die Vorschriften des sexuellen Missbrauchs eingebunden sein? Gibt es in diesem Sinne einen Mangel in den Vorschriften und wie könnte dieser behoben werden? Das sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden.
One of the issues on the Bundestag’s agenda right now, as it has been common in recent years, is the change in the regulations on sexual crimes. Comparable with the “No means no!”-change in 2016 or the inclusion of the Art. 184i in the German Criminal Code (StGB), the state has paid attention to the reactions in the community. This time, a change is planned mainly within the regulation on the crime of child sexual abuse which concerns the titles of the current Art. 176 to 176b StGB. The intention is to give up the “trivialized” term of abuse and to have a new title: “Sexualized Violence of Children”. How equivalent, however, is the proposed new term „sexualized violence“ – from the specific to the general – to the Art. 176 StGB, to the other regulations on sexual abuse, the systematic of the Section 13 of the StGB and the „term of violence“ due to the current understanding in criminal law? Should violence and other means of coercion be included in the regulations of sexual abuse? Is there a lack in the regulations in this sense and how could this be remedied? These are the questions that will be answered in this article.
I. Problemstellung
In letzter Zeit wurde in den Medien über zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs berichtet. Es herrschte große mediale Aufmerksamkeit, die zu wachsender Empörung der Öffentlichkeit führte.[1] Rasch wurde vom Gesetzgeber verlangt, den sexuellen Missbrauch von Kindern neu zu regeln, insbesondere die Strafrahmen anzuheben. Nach kurzer Zeit fand diese Forderung den Zuspruch mehrerer politischer Parteien und auch der Bundesregierung,[2] die am 1.7.2020 im Rahmen des „Reformpakets zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ einen Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz veröffentlichte.[3] Dieser Entwurf wurde am 21.10.2020 von der Bundesregierung beschlossen[4] und am 27.10.2020 von den Fraktionen CDU/CSU und SPD übernommen.[5] Es folgte eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am 7.12.2020, zu der mehrere Sachverständige eingeladen wurden. Bei ihnen stieß der Entwurf, einschließlich der Änderung der Terminologie, größtenteils auf Widerstand.[6]
Der Entwurf sieht als wichtigste Neuerungen 1. die Aufspaltung des aktuellen § 176 StGB in drei Paragraphen (§ 176 bis § 176b StGB-E), 2. die Neuregelung der Versuchsstrafbarkeit von § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB (bei irriger Annahme, dass die eigentlich erwachsene Person, auf die eingewirkt wurde, ein Kind war – § 176a Abs. 3 StGB‑E),[7] 3. die Streichung des § 176 Abs. 3 StGB zu besonders schweren Fällen, 4. die Annahme des geringen Altersunterschieds als Grund für Absehen von Strafe[8] (§ 176 Abs. 2 StGB-E) und 5. die Anhebung der Strafrahmen vor.[9] Darüber hinaus ist die Änderung des Tatbestandes der Kinderpornographie sowie einiger Regelungen der StPO, des GVG und des BZRG vorgesehen.[10]
Wenngleich inhaltlich für die §§ 176-176b StGB keine grundsätzlichen Veränderungen geplant sind, lässt sich mit Blick auf die sprachlichen Änderungen, die der Gesetzentwurf vorsieht, etwas anderes vermuten. Denn der neue Entwurf verzichtet gänzlich auf den Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ und beabsichtigt die Neueinführung des Begriffs der „sexualisierten Gewalt“. Der Entwurf greift somit die schon seit einiger Zeit bestehende Kritik auf, beim Begriff des „Missbrauchs“ handele es sich um eine Fehlbezeichnung, da dieser suggerieren würde, es gäbe neben verbotenem Missbrauch auch einen legalen Gebrauch von Kindern,[11] was den eigentlichen Unrechtsgehalt der Taten bagatellisiere.[12] Die Wahl des Begriffs der sexualisierten Gewalt hingegen sei eindeutiger und bilde das Unrecht der Tat besser ab – so jedenfalls der Gedanke aus dem BMJV.[13]
Vor diesem Hintergrund soll der Beitrag das Für und Wider um die sprachliche und begriffliche Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit des Entwurfs beleuchten. Die Bedeutung dieses – auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Aspekts – liegt darin, dass hieran beispielhaft gezeigt werden kann, wie sprachliche Veränderung zur Verwässerung rechtlicher Begriffe, zur Inkohärenz zwischen Gesetzesüberschrift und Norminhalt sowie Problemen bei der Normauslegung führen kann.[14]
Ergänzend dazu wird der Gesetzentwurf als Gelegenheit genutzt, den Standort von Gewalt und anderen willensbeugenden/-brechenden Merkmalen in §§ 176, 176a StGB zu hinterfragen. Es erfolgt ein Rechtsvergleich mit dem türkischen StGB und ein Vorschlag zur Implementierung dieser Merkmale de lege ferenda.
II. Formulierung der Überschrift und Begriffswahl
1. Wörtliche Geeignetheit der Verwendung der Präposition „gegen“ in der Überschrift
Bereits die im Entwurf gewählte Verwendung der Präposition (Sexualisierte Gewalt) gegen (Kinder), in der Überschrift, wird dem Norminhalt des § 176 StGB nicht gerecht und ist daher unpassend und z.T. irreführend. In der Überschrift sollte quasi „die Richtung der sexuellen Handlung“ nicht vorgeschrieben werden. Denn mit dieser Formulierung werden in erster Linie Handlungen des Täters am Kind, nicht jedoch Handlungen vom Kind selbst assoziiert. Gerade letztere Handlungen werden indes von § 176 StGB umfasst, weil die Vorschrift auch von einem Kind am Täter vorgenommene Handlungen einschließt (bspw. „oder an sich von dem Kind vornehmen läßt“).
Zwar ist in der Literatur umstritten, wie Handlungen aus Eigeninitiative des Kindes zu bewerten sind. Unabhängig davon, ob man in dieser Frage das Ermunterungskriterium von Hörnle,[15] das Initiativenbestärkungskriterium von Eisele[16] oder die „weniger als Bestimmen, mehr als reine Duldung“-Formel[17] zu Grunde legt, kommen alle genannten Auffassungen entweder über die Annahme eines Vornehmens i.S.d. § 176 Abs. 1 Alt. 1 StGB oder eines An-sich-vornehmen-Lassens i.S.d. § 176 Abs. 1 Alt. 2 StGB zur Strafbarkeit des Täters, zumindest bei denjenigen Handlungen, bei denen der Täter nicht lediglich passiv bleibt, sondern sich über die reine Duldung hinausgehend verhält.[18] Denn § 176 Abs. 1 Var. 2 StGB stellt nach herrschender Meinung kein echtes Unterlassungsdelikt dar.[19] Nach einer entgegengesetzten Ansicht sollte es in Bezug auf die interne Konsistenz der Vorschrift anders gedeutet werden. Diese Ansicht wird hauptsächlich anhand des Vergleichs mit § 176 Abs. 2 Alt. 2 StGB („ein Kind dazu bestimm[en], daß es sexuelle Handlungen […] von einem Dritten an sich vornehmen lässt“) schlüssig begründet, dort könne nicht vorausgesetzt sein, dass das Kind zum über die reine Duldung hinausgehenden Verhalten gegenüber des Dritten bestimmt wurde und Bestimmen zur reinen Duldung für die Strafbarkeit nicht ausreichend ist.[20] Das heißt, dass die Formulierung von „an sich vornehmen lassen“ sogar ein echtes Unterlassungsdelikt beschreibt und die reine Duldung sowohl des Täters i.S.d. § 176 Abs. 1 Alt. 2 StGB als auch des Kindes i.S.d. § 176 Abs. 2 Alt. 2 StGB zur Strafbarkeit führen soll. Aufgrund dieser Auslegung weicht die entworfene Bezeichnung vom Norminhalt mehr ab, weil der Täter richtigerweise gar nicht handeln, geschweige denn gegen das Kind aktiv werden muss.
Abgesehen davon umfasst die Vorschrift außerdem vom Kind an einem Dritten ausgerichtete Handlungen durch Bestimmen i.S.d. § 176 Abs. 2, Abs. 4 Nr. 3 StGB, Einwirkungen, bei denen es nicht zu einer sexuellen Handlung kommt, i.S.d. § 176 Abs. 4 Nr. 3, 4 StGB sowie das Anbieten/Versprechen/sich-Verabreden i.S.d. § 176 Abs. 5 StGB. Obwohl im Entwurf die Aufspaltung des § 176 StGB vorgesehen wird, bleibt die Formulierung all dieser Tathandlungen unverändert. Diese Begehungsweisen als sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu bezeichnen, wäre praeter legem.
Freilich soll es eine bewusste Entscheidung der Bundesregierung sein, die Vorschrift zwar mit der Präposition gegen zu überschreiben, im Einzelnen dennoch an den bisherigen Ausgestaltungen der Norm festzuhalten und die Handlungen differenzierend zu beschreiben („an“/“an sich“/“vor“). Der Norminhalt und die entworfene Normüberschrift passen hierdurch jedoch nicht zusammen. Diese Unstimmigkeit würde einen gesetzgebungstechnischen Defekt bedeuten und zudem entsteht infolgedessen die Gefahr, dass der Tatbestand restriktiv ausgelegt werden könnte. Dies gilt für alle Handlungen, die nicht als gegen ein Kind vorgenommene sexuelle Handlung bzw. angewendete sexualisierte Gewalt bezeichnet werden können; würde vor allem die oben erklärte Deutung von „an-sich-vornehmen-lassen“ i.S.v. § 176 Abs. 1 Var. 2 StGB aber auch von „zu-sexuellen-Handlungen-bestimmen“ i.S.d. § 176 Abs. 2 Var. 1 StGB betreffen, da der Dritte weder an vom Kind vorgenommenen sexuellen Handlungen mitwirken, noch sie wahrnehmen soll.[21] Gleichwohl würde der schon heute strittige Umfang von § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB restriktiv beeinflusst werden.[22]
Die Vermutung liegt nahe, dass die Wahl der Überschrift eine Reflexion derjenigen besonders extremen Fälle (wie der Münster-Fall[23]) darstellt, in denen ein Erwachsener am Körper eines Minderjährigen aktiv sexuelle Handlungen vornimmt.[24] Die Wahl von Gesetzesüberschriften sollte jedoch weniger reflexartiges Handeln auf in der Öffentlichkeit besonders diskutierten Einzelfällen, als den eigentlichen Norminhalt widerspiegeln. Es könnte zudem durch die Überschrift der Eindruck entstehen, dass diejenigen tatbestandlichen Konstellationen, die sprachlich nicht unter den neuen Begriff der „sexualisierten Gewalt“ passen, hinter den sprachlich erfassten im Unrechtsgehalt zurückbleiben. Die zu befürchtende Bagatellisierung wird dem eigentlichen Unrecht dieser, zuvor zutreffend unter der Überschrift des sexuellen Missbrauchs eingestuften Fällen, nicht gerecht.
2. Begriffserklärung
a) Sexueller Missbrauch
Die Kritik gegen den Begriff des sexuellen Missbrauchs besteht darin, dass er nicht dazu in der Lage sei, die Schwere der dem Tatbestand unterfallenden Taten vermitteln zu können. Zudem werde durch die Überschrift der Eindruck erweckt ein Kind könne sexuell auch rechtmäßig „gebraucht“ werden.[25] Diese Interpretation verkennt jedoch die dem Begriff innewohnende Bedeutungstiefe[26] und das hinter ihm stehende Konzept. Es kann aufgezeigt werden, dass die ihm vorgehaltene Unterbewertung, Miss-interpretation oder Bagatellisierung unzutreffend ist.[27]
Vergleicht man den Begriff des Missbrauchs mit seinen möglichen englischen Äquivalenten „misuse“ und „abuse“, weist „abuse“ im Gegensatz zu „misuse“ ein vom Vorsatz des „users“ umfasstes moralisches Defizit auf.[28] Es ist klar, wie das deutsche Wort entstand: dem Wort (ge)brauchen wird das Präfix miss- vorgesetzt, das „eine negative Bedeutung i.S.v. schlecht oder unzulänglich hat“.[29] Dementsprechend schafft das Präfix miss- bei einzelnen Worten eine bloße Negativierung, so kann beispielsweise mit “missdeuten” ein fahrlässiges falsches bzw. fehlerhaftes Deuten gemeint sein. Bei Missbrauch ist dies anders. Ebenso wie bei „abuse“, wird im allgemeinen Sprachgebrauch unter „missbrauchen“ verstanden, dass der Missbrauchende sich der Falschheit seiner Handlung bewusst ist. Über die bloße Negativität hinausgehend deutet es zudem auf eine Unangemessenheit oder ein negativ ausfallendes moralisches Werturteil hin, was auch dem englischen Begriff (abuse) entspricht.[30] Überdies ist in Wörterbüchern beider Sprachen auch der mögliche sexuelle Bezug des Wortes anerkannt.[31] Missbrauch kann im allgemeinen Sprachgebrauch somit sehr wohl in einer Weise verstanden werden, die den unterfallenden Taten gerecht wird.
Selbst wenn der Begriff des sexuellen Missbrauchs umbenannt würde in „Gebrauch von Kindern“, würde dies keinen legalen Gebrauch suggerieren, sondern eine negative Assoziation hervorrufen, da ein Mensch mit freiem Willen niemals einseitig zum Gebrauchsobjekt gemacht werden kann. Im Kontext mit Menschen ist also schon der Wortstamm (ge)brauchen negativ konnotiert. Durch das negative Präfix (miss-) wird diese negative Bedeutung noch verstärkt. Sexueller Missbrauch bzw. Gebrauch kann somit niemals als sexuelle Handlung zwischen zwei freiverantwortlichen Menschen verstanden werden. Von Natur aus neigen konzeptualisierte Wörter zum Bedeutungswandel. Es ist möglich und durchaus üblich, dass ein Wort seine alltägliche Bedeutung beibehält, zugleich aber auch als terminus technicus eines Fachgebiets fungiert. Auch und gerade im Strafrecht ist dies keine Seltenheit: Konkurrenz bedeutet ebenso wenig echten Wettbewerb, wie von tatsächlich gewaschenem Geld bei der Geldwäsche gesprochen wird.
Missbrauch beruht grundsätzlich auf Relativität, konkreter formuliert auf einer relativen Unterlegenheit einer Person gegenüber einer anderen (d.h. auch die relative Überlegenheit der anderen Person). Beispielsweise wird eine Handlung zwischen zwei Erwachsenen gemäß § 177 StGB oder § 184i StGB behandelt.[32] Daher zielen die gesetzlichen Regelungen, in denen von sexuellem Missbrauch gesprochen wird, ohnehin nicht auf den Missbrauch einer Person ab, sondern auf den Missbrauch einer Lage oder Situation, in welcher eine Person einer anderen unterlegen und die andere dieser Person entsprechend überlegen ist.[33] Mit anderen Worten mangelt es unterlegenen Personen an der Fähigkeit, gegenüber der überlegenen Person einen vollständigen und selbstbestimmten Willen zu bilden, diesen zu äußern oder zu verwirklichen. Auch einer faktischen Einwilligung kommt daher keine rechtfertigende Wirkung zu. Im Gesetz findet diese Betrachtungsweise Ausdruck in § 182 Abs. 1 StGB, der durch die Formulierung „Missbrauch eines Jugendlichen unter Ausnutzung einer Zwangslage“ klarstellt, dass nicht der Jugendliche selbst zum Missbrauchsgegenstand abgewertet wird, sondern der Missbrauch im Ausnutzen der Lage besteht.
Der Begriff des sexuellen Missbrauchs unterliegt vor diesem Hintergrund einem der Metonymie ähnlichen Bedeutungswandel. Als rhetorische Stilfigur wird bei dieser der eigentliche Ausdruck durch einen anderen, nahestehenden ersetzt, bspw. wird Goethe gelesen oder ein Glas getrunken, ohne dass beides im eigentlichen Wortsinn möglich wäre. Die Parallelität besteht beim sexuellen Missbrauch in sprachlicher Hinsicht, soweit von Missbrauch einer Person gesprochen wird, obwohl der Missbrauch nicht im Missbrauch der Person, sondern im Missbrauch der jeweiligen Lage oder Situation (bspw. Minderjährigkeit, Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit usw.) besteht.[34]
Dieses Konzept des Missbrauchs liegt allen Missbrauchsdelikten zu Grunde. Dabei variiert je nach Tatbestand, worin im Einzelnen die Überlegenheit des Täters bzw. Unterlegenheit des Opfers besteht. §§ 174, 176 und 182 StGB stellen primär auf die Minderjährigkeit des Opfers ab. § 176 StGB ist Ausdruck dessen, dass bei Personen unter 14 Jahren von mangelnder Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung ausgegangen wird, m.a.W. folgt aus dem Alter eine mangelnde Willensbildungs- und Willensäußerungsfähigkeit des Kindes in Bezug auf sexuelle Handlungen. § 182 Abs. 3 StGB stellt zusätzlich zum Alter des Opfers auf den Altersunterschied der Personen ab, während in § 182 Abs. 1 StGB eine Zwangslage und in § 174 StGB ein Abhängigkeitsverhältnis maßgebend ist. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer abzustellen, wodurch auch Erwachsene zu Missbrauchsopfern werden können, etwa in §§ 174a-174c StGB. Schließlich muss auch betont werden, dass es in jeder Hinsicht unzutreffend wäre, lediglich die Überschrift eines der zu diesem Konzept gehörenden Tatbestände zu ändern.[35]
Weiterhin betont auch die WHO im Rahmen ihrer Erläuterung zum Begriff „abuse“ das geringe Entwicklungsniveau und die fehlende Fähigkeit des Kindes, sexuelle Handlungen nachvollziehen zu können und in diese einzuwilligen. Im Originaltext wird ausgeführt: „Child sexual abuse is evidenced by this activity between a child and an adult or another child who by age or development is in a relationship of responsibility, trust or power, the activity being intended.”[36] Auch eine von der Interagency Working Group (IWG)[37] durchgeführte Studie kommt zu dem Ergebnis, der Begriff des „abuse“ sei hinreichend klar und stifte keine Verwirrung.[38] Nach Ansicht in der Psychologie schließlich wird beim sexuellen Missbrauch ein Kind von einem Erwachsenen ausgenutzt, um sexuelle Handlungen vorzunehmen,[39] oder durch Täuschung, Zwang oder Bedrohung zu sexuellen Handlungen gebracht.[40] Diese Definitionen sind zu weit gefasst, um sie bei der Auslegung von Strafnormen heranzuziehen. Dennoch leuchtet dieses außerrechtliche Begriffsverständnis hinsichtlich der Reichweite und Klarheit des Begriffes ein und bestätigt die hier vertretene Sichtweise.[41]
Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass den Tatbeständen der sexuellen Missbrauchsdelikte ein einheitliches Konzept zugrunde gelegt werden kann. Die beschriebenen Situationen oder Lagen erleichtern regelmäßig[42] die Tatbegehung. In diesem Kontext ist der Begriff des Missbrauchs sprachlich adäquat.
b) Sexualisierte Gewalt
Gewalt ist ein dem Strafrecht vertrauter Begriff, der auch dem Sexualstrafrecht als Bestandteil des § 177 StGB (wenn auch nicht mehr im Grundtatbestand) nicht fremd ist.[43] Sie setzt „körperlich wirkenden Zwang“ voraus (gleichwohl die Diskussion um dessen Reichweite kein Ende nimmt).[44] Seelische, sich körperlich nicht manifestierende, Zwangswirkungen reichen hingegen nicht aus.[45] Es ist nicht Aufgabe des Strafrechts, auf alle denkbaren Arten und Definitionsweisen von Gewalt zu reagieren. Die Funktion des Strafrechts als ultima ratio gebietet vielmehr ein Eingreifen als letztes Mittel. Die Aufweichung der Bestimmtheit und Grenzen von Begriffen birgt hingegen die Gefahr strafrechtlicher Sanktionierung prima ratio.[46]
Jedoch will der Gesetzentwurf in seiner Verwendung keine Abkehr vom bisherigen Inhalt sehen: „Dabei ist mit der Änderung der Begrifflichkeit aber keine Inhaltsänderung verbunden. Es bleibt dabei, dass es für die Tatbestandsverwirklichung nicht auf die Anwendung von Gewalt oder auf Drohung mit Gewalt ankommt.“[47] Der Entwurf will unter den Gewaltbegriff demnach auch passiv bleibende Verhaltensweisen, Herabsetzungen oder Demütigungen fassen, die eigentlich unter den Oberbegriff des Missbrauchs fallen.[48]
Die Änderung einer Überschrift sollte bestenfalls mit einer Präzisierung einhergehen. Die verwendeten Begriffe sollten die tatbestandlich erfassten Verhaltensweisen daher besser umschreiben, als dies durch die vorherige Überschrift geschehen ist. Es müssten also die Fälle der §§ 176-176b StGB inhaltlich mit dem Begriff der sexualisierten Gewalt besser abgebildet werden als mit dem Missbrauchsbegriff.
Dies entspricht jedoch weder dem im Entwurf geäußerten Willen der Bundesregierung noch dem Norminhalt. Stattdessen soll sehenden Auges der Begriff der sexualisierten Gewalt verwendet werden, ohne das Vorliegen von Gewalt im strafrechtlichen Sinne zu verlangen.[49] Dies hätte jedoch gleich mehrere negative Folgen: Erstens wird hierdurch – wie erwähnt – Inkohärenz zwischen den Neuregelungen des Entwurfs und allen anderen Missbrauchstatbeständen geschaffen. Konsequenterweise müssten diese ebenfalls den neuen Begriff der sexualisierten Gewalt erhalten. Zweitens stimmt die entworfene Überschrift mit den unverändert beibehaltenen Handlungstypen nicht überein, die in keiner Hinsicht als „sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ bezeichnet werden können. Hierfür gelten die oben angegebenen Kritiken und Erläuterungen über die Verwendung des Artikels „gegen“ (I.1.) aus dem Grund, weil die Handlungen, die keine sexuelle Handlung gegen Kinder darstellen, argumentum a fortiori, nicht als eine vom Täter auf das Kind ausgeübte Gewalt angesehen werden können.[50] Drittens würde der Begriff der sexualisierten Gewalt Ungenauigkeit im Rahmen des gesamten StGB schaffen.[51] Er würde vor dem Hintergrund eines einheitlichen strafrechtlichen Gewaltbegriffs diesen aufweichen und zum Oberbegriff eines weiten Gewaltbegriffs machen. Sobald der Begriff der sexualisierten Gewalt eingeführt wird, der den strafrechtlichen Gewaltbegriff von seinem physischen Kontext loslöst, wird dieser zu einem Oberbegriff, der alle Gewaltarten im nichtstrafrechtlichen Sinne potenziell umfassen würde. Dies würde eine Grundsatzreform des Gewaltbegriffs im Strafrecht bedeuten, deren Einführung die auf Konsens beruhende Annahme zu der Definition und dem Umfang des Gewaltbegriffs zunichtemacht. Hingegen ist vom Entwurf zur Änderung der Überschrift, die sich nur auf den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern beziehen soll, freilich nicht gewollt, dass zum Beispiel emotionale oder emotionalisierte Gewalt i.R.d. § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB, ökonomische Gewalt i.R.d. § 129a Abs. 1 Nr. 5 StGB[52] oder psychologische Gewalt als Nötigung von Verfassungsorganen i.R.d. § 105 StGB[53] unter diese Vorschriften fallen; denn sie lassen sich sämtlich nicht dem bisherigen Gewaltbegriff subsumieren.
Die Verwendung des Gewaltbegriffs als Oberbegriff, der auch Verhaltensweisen außerhalb physischen Zwangs umfasst, ist nicht neu. In anderen Fachbereichen[54] sowie im internationalen Recht[55] geht die Tendenz in diese Richtung. Der Schluss liegt also nahe, dass die Bundesregierung sich von diesem Verständnis bei der geplanten Reform hat inspirieren lassen. Wenngleich auch abseits der strafrechtlichen Debatte wegen der Ausweitung des Gewaltbegriffs die Befürchtung besteht, dass hierunter neu subsumierte Verhaltensweisen, wie der Missbrauch, an Aufmerksamkeit verlieren und der Fokus innerhalb des Oberbegriffs hin zu den extremen Fällen geht,[56] ist es durchaus nachvollziehbar, wenn andere Fachbereiche und internationale Organisationen unter dem Begriff der sexuellen Gewalt (sexual violence) alle möglichen sexuellen Delikte einschließlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (child sexual abuse) erfassen.[57] Diesem Begriffsverständnis folgend müsste jedoch die Überschrift des gesamten 13. Abschnitts zur Diskussion gestellt und nicht lediglich einzelne Paragraphen geändert werden, da im deutschen Strafrecht der Oberbegriff „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ für alle Sexualdelikte verwendet wird.
Weitere Probleme bestehen zudem bei der Auslegung des Merkmals der Sexualisierung. Wann wird Gewalt sexualisiert? Zielt dies auf eine sexuelle Absicht, also auf den subjektiven Tatbestand hin? Bereits die Feststellung, ob und wann eine Handlung sexuell ist, bereitet Probleme. Mit Hilfe des § 184h StGB sowie großer Bemühungen der Literatur konnten diese jedoch größtenteils gelöst werden. Der Begriff sexualisiert ist demgegenüber noch weitestgehend unbestimmt. Freilich nicht gewollt, aber konsequent wäre es, wegen des Bezugs zur Gewalt zu verlangen, die Gewalt müsse selbst sexualisiert sein und einen sexuellen Charakter haben. Wirklich geeignet ist der Begriff dann indes nur zur Beschreibung von SM-Handlungen, deren Gewalttätigkeit selbst sexuellen Charakter hat.[58]
Überdies bedeutet die Änderung einen Systembruch für das gesamte Sexualstrafrecht. Gewalt im strafrechtlichen Sinne passt nicht zum oben erwähnten Konzept des Missbrauchs, sondern weicht davon ab: Bei sexuellen Missbrauchsdelikten ist die gesetzliche Vermutung, dass der Täter eine bereits existierende Lage oder Situation und das daraus regelmäßig resultierende Gefälle zum Opfer ausnutzt. Bei Nötigung bzw. Gewalt wird die Lage, welche dem Täter die sexuelle Handlung ermöglicht, von diesem selbst durch Willensbrechung oder -beugung geschaffen.[59] Es bleibt daher festzuhalten, dass der Begriff „sexualisierte Gewalt“ weder ins Strafrecht gehört noch ohne weitgehende Friktionen eingeführt werden kann.[60] Er droht die Systematik des Sexualstrafrechts und die Grenzen des Gewaltbegriffs zu sprengen, um einen vermeintlich stärker wirkenden, der Empörung gerecht werdenden, in Wahrheit aber unpassenden Begriff einzuführen.[61]
3. Zwischenbilanz
Die vom Entwurf vorgesehene Begriffsverwendung der sexualisierten Gewalt stimmt nach dem bisherigen Verständnis des strafrechtlichen Gewaltbegriffs nicht mit dem Inhalt der sie überschreibenden Regelungen überein. Die vorgesehene Verwendung von Gewalt als Oberbegriff, der auch Formen der Gewalt umfasst, die keinerlei physische Zwangswirkung entfalten, würde zu einem Bruch mit dem bisherigen Gewaltbegriff im Strafrecht führen.
Trotz des im Grundsatz bestehenden Konzepts der Unterscheidung zwischen Missbrauch und Nötigung, müssen die einzelnen Delikte Raum für die Transitivität beider Konzepte belassen, um eine der Tat angemessene Bestrafung zu gewährleisten. Dementsprechend finden sich Missbrauchselemente i.R.d. § 177 StGB[62] (Ausnutzen einer Lage, § 177 Abs. 2 Nr. 1 bis 4, Abs. 5 Nr. 3 StGB) wieder. Weil Gewaltanwendung gegenüber einem Kind immer auch Ausdruck eines Gefälles von Kraft- oder Urteilsvermögens zu Gunsten des Täters ist, hat diese meist einen Missbrauchscharakter inne. Spiegelbildlich hierzu sollten auch: nötigende Elemente in § 176a StGB Berücksichtigung finden. Darauf, ob die Konstruktion diesbezüglich ausreichend oder eine Umgestaltung erforderlich ist, wird im zweiten Abschnitt dieses Beitrags ausführlicher eingegangen.
III. Fehlende Anknüpfung des Gewaltbegriffs und der anderen Zwangsmittel am Tatbestand
1. Aktuelle und unverändert bleibende Gesetzeslage
Bei den Vorschriften über den sexuellen Missbrauch geht es inhaltlich nicht um die Gewaltanwendung und den infolgedessen entstandenen Unterschied zwischen dem Täter und Opfer in der Willensrealisierungsmöglichkeit. Zudem sind Gewalt bzw. Nötigung und andere Zwangsmittel kein Tatbestandsmerkmal des § 176 StGB oder der anderen Vorschriften zum sexuellen Missbrauch. In Fällen des Missbrauchs besteht zwar oft ein Machtgefälle zwischen dem Opfer und dem Täter, aber eine Regelung zum tatsächlichen Zwang fehlt unter den strafbegründenden Merkmalen. Jedoch enthält der aktuelle § 176a StGB über den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zwei Qualifikationsmerkmale, die zum Teil Fälle von Gewaltanwendung erfassen und im neuen Gesetzentwurf unverändert bleiben sollen.
a) Schaffung der „Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung“ (§ 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB; § 176c Abs. 1 Nr. 3 StGB-E)
In der Literatur wird versucht, zu verdeutlichen, was unter einer „schweren Gesundheitsschädigung“ und „erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung“ zu verstehen ist.[63] Allerdings wird bereits allein aus der Formulierung von Nr. 3 klar, dass die entsprechende Gefahr durch eine Tat i.S.d. § 176 StGB verursacht worden sein muss. Das heißt, Nr. 3 erfasst nur die Schäden, die durch eine vom Täter vorgenommene sexuelle Handlung oder die anderen tatbestandlichen Handlungen (sowie An-sich-vornehmen-Lassen u.a.) entstanden sind. Demnach wird Gewalt, die im Vorfeld angewendet wird, um das Opfer zu sexuellen Handlungen zu zwingen, gemäß Nr. 3 nicht berücksichtigt. Jedoch kann sich eine andere Bewertung ergeben, wenn die sexuelle Handlung selbst körperliche Gewalt beinhaltet – wie bei sadistischen sexuellen Handlungen[64] oder wenn sexualisierte Gewalt im eigentlichen Sinne angewendet wird.
b) Körperliche schwere Misshandlung und Gefahr des Todes in den Fällen des § 176 Abs. 1 bis 3 StGB (§ 176a Abs. 5 StGB; § 176c Abs. 3 StGB-E)
Mit der in § 176a Abs. 5 Alt. 2 StGB vorausgesetzten Todesgefahr verhält es sich ähnlich wie bei § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB. Die Todesgefahr muss durch die Tat geschaffen werden. Insofern gelten die dargestellten Erklärungen entsprechend.
Bei der körperlichen schweren Misshandlung i.S.d. Abs. 5 Alt. 1 ist die Situation anders. Dabei liegt der Unterschied zum oben erklärten § 176a Abs. 2 Nr. 3 StGB darin, dass die Misshandlung nicht „durch die Tat“ sondern „bei der Tat“ begangen worden sein muss. Demnach muss die Misshandlung kein Bestandteil der sexuellen Handlung (oder Bestimmen i.S.d. § 176 Abs. 2 StGB) sein, sodass die das Opfer zur sexuellen Handlung zwingenden Handlungen auch berücksichtigt werden können. Eine körperlich schwere Misshandlung geht über die einfache Körperverletzung hinaus. Nicht erforderlich für die Erfolgsqualifikation[65] ist der Eintritt einer schweren Körperverletzung i.S.d. § 226 StGB.[66] Dabei kommen „erhebliche oder lang andauernde Schmerzen“ zufügende Handlungen in Betracht, sowie heftiges Schlagen oder Fesselung.[67] Allerdings ist ein unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen der Tat und der Misshandlung erforderlich.[68] Misshandlungen zur Erleichterung des Tatbegehens (vor der Tat)[69] oder durch Ausnutzen der durch die Tat entstandenen Lage (nach der Tat)[70] bleiben außer Betracht.
2. Beispiel aus dem türkischen StGB: Zwangsmittel als Tatbestandsmerkmal
Im türkischen Strafgesetzbuch (tStGB) existieren zwei ähnliche Erfolgsqualifikationen wie bei § 176a StGB. Gemäß § 103 Abs. 5 tStGB kann ein Täter, der Nötigung bzw. Gewalt für die Begehung des sexuellen Missbrauchs anwendet und dabei die Folgen einer schweren Körperverletzung i.S.d. § 87 tStGB verursacht, zusätzlich auch nach dieser Vorschrift bestraft werden. Die zweite Erfolgsqualifikation setzt gemäß § 103 Abs. 6 tStGB voraus, dass das Opfer infolge der Tat dauerhaft ins Koma fällt oder verstirbt. Darüber hinaus beinhaltet aber auch der Grundtatbestand zum sexuellen Missbrauch in § 103 tStGB ausdrückliche Regelungen bezüglich der Einwirkung auf den Willen des Opfers. Um die Lage im tStGB hinsichtlich der Begriffe Gewalt und Nötigung zu erläutern, soll im Folgenden zunächst die Regelung zum sexuellen Missbrauch von Kindern kurz dargelegt werden.
Das tStGB enthält einen einzigen Paragraphen zum sexuellen Missbrauch (§ 103 tStGB). Im Gegensatz zum deutschen Recht werden dort alle Menschen zwischen 0 und 18 Jahren, also alle Minderjährigen, als Kinder bezeichnet und können Opfer i.S.d. Tatbestands sein. Sie werden jedoch in Bezug auf Alter und Einsichtsfähigkeit in zwei Gruppen geteilt: Die absolut geschützte Gruppe besteht einerseits aus Kindern zwischen 0-15 Jahren und andererseits aus den Kindern zwischen 15-18 Jahren, die keine Einsichtsfähigkeit („bezüglich der rechtlichen Bedeutung und der Folgen der Tat“) besitzen.[71] Zur anderen Gruppe gehören die Minderjährigen zwischen 15-18 Jahren, die diese Einsichtsfähigkeit besitzen. Die Einsichtsfähigkeit ist vom Gericht anhand eines Gutachtens festzustellen.
a) Willensbeugung als strafbegründendes Tatbestandsmerkmal: Zweite Gruppe von Minderjährigen
In § 103 Abs. 1 lit. b tStGB wird die Nötigung bezüglich der zur zweiten Gruppe gehörenden Kinder[72] als ein Regelbeispiel bestimmt (neben Bedrohung, Täuschung und anderen auf Willen einwirkenden Gründen) und stellt damit ein tatbestandsähnliches Merkmal dar. In diesem Zusammenhang geht der türkische Gesetzgeber davon aus, dass diese Minderjährigen in der Lage sind, Anlass und Folgen der sexuellen Handlung zu verstehen bzw. dagegen (oder dafür) einen Willen zu bilden. Aber das heißt nicht, dass sie auch gleichermaßen wie ein Erwachsener den äußerlichen physischen und psychischen Einwirkungen widerstehen und ihren Willen diesbezüglich schützen können. Sie können beispielsweise leichter dadurch getäuscht werden, dass der Täter ihnen vorspiegelt, an ihnen vorgenommene Handlungen seien „nur ein Liebesakt“ oder „nicht so intim“. Kurz gesagt, ist die Annahme hier, dass sich aus der Minderjährigkeit selbst ein Zustand der Schutzlosigkeit gegen Willensbeugung ergibt.
In der türkischen Literatur ist die herrschende Ansicht der Meinung, die Nötigung (und auch Bedrohung, Täuschung und andere auf den Willen einwirkende Gründe) sei ein Element der Tathandlung. Allerdings ist dem Gesetzestext zufolge lediglich notwendig und auch hinreichend, dass die Tat „aufgrund“ einer Willensbeugung begangen wurde. Die wortlautkonforme Auslegung führt uns dazu, die Willensbeeinträchtigung als eine Lage zu sehen, in der sich das Opfer befinden, die aber nicht vom Täter geschaffen worden sein muss.[73] Man könnte dazu neigen, diese Auslegung lediglich als eine unnötige Nuancierung anzusehen. Jedoch wird die Differenzierung beispielsweise bei solch einem Fall entscheidend, in dem das Opfer zuvor vom Zuhälter (als einem Dritten ohne Tatbeteiligung) bedroht wurde oder sich betrank und sein Wille auf diese Weise gebeugt war. In der Rechtsprechung werden solche Handlungen im Ergebnis zutreffend als sexueller Missbrauch geahndet.[74] Eigentlich kommt § 103 Abs. 1 lit. b tStGB größtenteils dem § 182 und § 174 StGB gleich, bei denen die Altersobergrenze 16 oder 18 Jahre ist. In diesen Paragraphen sowie bei den §§ 176, 176a StGB (mit den oben erklärten indirekten Ausnahmen) existiert allerdings kein Merkmal zur Willensbeugung oder -brechung. Deshalb greift im Falle von Nötigung, Gewalt oder Bedrohung der Auffangtatbestand des § 177 StGB ein, so dass möglicherweise eine Idealkonkurrenz entsteht.[75]Im Gegensatz dazu werden im türkischen Recht aufgrund einer Gewaltanwendung bzw. Bedrohung vorgenommene sexuelle Handlungen lediglich im Rahmen vom Tatbestand des sexuellen Missbrauchs (§ 103 tStGB) von Minderjährigen behandelt.
b) Nötigung und Bedrohung als strafschärfendes Tatbestandsmerkmal: Erste Gruppe von Minderjährigen
Bei der ersten Gruppe, also der Personen zwischen 0-15 Jahren und zwischen 15-18 Jahren ohne Einsichtsfähigkeit, wird kein strafbegründendes Merkmal wie Nötigung oder Bedrohung vorausgesetzt. Für sie gilt ein absoluter Schutz, d.h. auch im Falle einer faktischen Einwilligung des Opfers bleibt die Tat rechtswidrig. Hinsichtlich dieser Gruppe stellen Nötigung und Bedrohung strafschärfende Tatbestandsmerkmale dar (§ 103 Abs. 4 tStGB). Die Annahme von Gewalt und Bedrohung als Qualifikationsmerkmale basiert auf der Idee, dass sogar diese Kinder den sexuellen Aufforderungen des Täters widerstehen können (negative Selbstbestimmung[76]) und dass der Täter Nötigung bzw. Gewalt oder Bedrohung anwenden kann, um diesen Widerstand zu überwinden. Nach der sachgerechten Sicht des tStGB wird in solchen Fällen die sexuelle Selbstbestimmung einer Person auf, zu beiden Konzepten der Sexualangriffe, passende Weise (missbräuchlich und willensbeugend/-brechend) verletzt. Dadurch wird das Unrecht der Tat erheblich erhöht, sodass der Qualifikationstatbestand im Allgemeinen ein entsprechendes Merkmal innehaben sollte. Nur so kann die intensivere Tatmotivation des Täters und die schädlichere Wirkung auf das Opfer in der Bestrafung angemessen berücksichtigt werden.[77] Im tStGB wird im Falle dieser Qualifikation beispielsweise die Strafe um die Hälfte erhöht.
An diesem Punkt sollte noch kurz erklärt werden, dass im tStGB der sexuelle Missbrauch hinsichtlich der Schwere (also des Grades der Intensität) der sexuellen Handlung in drei Stufen eingeteilt wird, für die jeweils unterschiedliche Strafrahmen gelten. Die Stufen können grob wie folgt aufgezählt werden: 1. Belästigung, also unerhebliche und kurz andauernde Berührungen, 2. den Grundtatbestand erfüllende sexuelle Handlungen an einem Kind, 3. mit Eindringen in den Körper verbundene Handlungen. Nach der im Einzelfall passenden Einstufung wird die sog. Grundstrafe bestimmt und anhand dieser wird die eben erwähnte Erhöhung durchgeführt. So kann das türkische Gesetz im Einzelfall angemessen auf eine Vergewaltigung eines Kindes reagieren.[78]
IV. Fazit
- Es hat sich gezeigt, dass der Begriff „sexualisierte Gewalt“ mehrere Probleme aufwirft: extreme Unbestimmtheit, Ungeeignetheit bezüglich des Telos der Missbrauchsdelikte, Inkohärenz bezüglich der Systematik des 13. Abschnitts – die nach dem Gesetzesentwurf unverändert bleibt – (s. Teil I.) sowie fehlende Anknüpfung am Inhalt der betreffenden Paragraphen (s. Teil II.). Außerdem bleibt es sehr fraglich, ob Gewalt ein aussagekräftiger Begriff ist, der das Unrecht besser umschreibt, als der Begriff des Missbrauchs. Schließlich besteht keine Notwendigkeit, den Begriff „sexueller Missbrauch“ aufzugeben, zumindest nicht für den Begriff der „sexualisierte[n] Gewalt“. Statt den Begriff des „sexuellen Missbrauch[s]“ abzuschaffen, wäre es besser, seine konzeptionelle Tiefe zu erklären und zu verdeutlichen.
- „Sexualisierte“ oder, besser und einfacher formuliert, „sexuelle Gewalt“ wird im Strafrecht lediglich i.S.v. vis compulsiva oder vis absolutaverstanden, kann jedoch als Qualifikationsgrund des sexuellen Missbrauchs fungieren. Der Grund, warum eine Regelung zu den willensbeugenden/-brechenden Handlungen sachgerecht erscheint, ist, dass ohne sie ein umfassender Schutz der negativen Selbstbestimmung bei Missbrauchstatbeständen nicht ausreichend gewährleistet wird. Dieser würde sich ansonsten auf den § 176a Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 StGB, die Konkurrenzen und die Strafzumessung beschränken, obwohl es in der Sache um ein erheblich erhöhtes Unrecht geht. Entsprechende Fallkonstellationen behalten zwar grundsätzlich den missbräuchlichen Charakter, hinzu kommt allerdings noch die Einwirkung auf den Willen des Opfers oder die Ausnutzung einer „externen“ Willensbeugung. An diesem Punkt könnte die Sicht des tStGB von Nutzen sein. Auch im europäischen Recht (Richtlinie 2011/92/EU Art. 3 Abs. 5 Nr. iii, Art. 6[79]) sowie in vielen nationalen Rechtssystemen[80] befinden sich willensbeugende/-brechende Merkmale als ein strafschärfendes Merkmal im Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Daher sollte in den Missbrauchstatbeständen ein strafschärfendes Merkmal, welches Gewalt, Nötigung, Bedrohung u.ä. erfasst, ergänzt werden.[81]
[1] Zum direkten Einfluss der Medien auf den politischen Prozess bis zur Veröffentlichung des Gesetzentwurfs siehe die fünfte Staffel der Dokumentarserie „BILD.Macht.Deutschland?“ auf Amazon Prime Video. Siehe auch die Nachricht von der Tagesschau v. 7.6.2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/kindesmissbrauch-muenster-101.html (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).
[2] Siehe z.B. die Nachricht vom Spiegel-Online v. 11.6.2020, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-dem-fall-in-muenster-justizministerin-doch-fuer-haertere-strafen-bei-kindesmissbrauch/25908084.html (zuletzt abgerufen10.10.2020).
[3] Siehe das „Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ v. 1.7.2020, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/010720_Reformpaket_Missbrauch.pdf (zuletzt abgerufen am 24.9.2020).[4] Siehe die Pressemitteilung des BMJV, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/102120_RegE_Bekaempfung_sexualisierte_Gewalt_gegen_Kinder.html (zuletzt abgerufen am 21.10.2020).
[5] Siehe den zum RegE gleichlautenden Entwurf, BT-Drs. 19/23707.
[6] Die Sachverständigen äußerten sich in der Anhörung kritisch gegenüber der Begriffsänderung im Entwurf. Die Stellungnahmen sind abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc3NlL2EwNl9SZWNodC9hbmhvZXJ1bmdlbl9hcmNoaXYvODA5MDE4LTgwOTAxOA==&mod=mod559522 (zuletzt angerufen am 5.1.2021).
[7] Hörnle, ZIS 2020, 440 (444). Vgl. Die Mitteilung des BMJV (siehe Fn. 4), S. 2 Nr. 5.
[8] Das sieht wie eine Mischung der vorgebrachten Gedanken in der Reformkommission zum Sexualstrafrecht 2017 aus. Siehe dazu die Optionen cc), dd) und ee) im Abschlussbericht Reformkommission Sexualstrafrecht v. 19.7.2017, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersuchungenFachbuecher/Abschlussbericht_Reformkommission_Sexualstrafrecht.pdf, S. 121 (zuletzt abgerufen am 8.10.2020).
[9] Selbst die Straferhöhungen bringen Inkonsistenzen mit, insbesondere bzgl. der Anpassung der Strafrahmen zu den Handlungen im § 176 Abs. 5 StGB (Anbieten oder Nachweisen eines Kindes oder dazu Verabreden) an die Strafrahmen des Grundtatbestandes. Die Handlungen stellen einen Versuch zur Beihilfe bei einer späteren Tat dar und sollen ebenso wie nach dem Grundtatbestand bestraft werden. So wird eine Person, die ein Kind für eine sexuelle Handlung nachzuweisen verspricht, ebenso bestraft, wie eine Person, die mit einem Kind sexuellen Kontakt hat, auch wenn erstere das Kind tatsächlich nie nachweist. Ohnehin wird die Regelung des § 176 Abs. 5 StGB zu Recht schon kritisiert, weil dies die Strafbarkeit zu weit vorverlagert und steht zu dem allgemeinen Teil (§ 30 StGB) im Widerspruch, nach dem diese Art von Versuch (zur Beihilfe) straflos bleiben soll. Siehe dazu Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 176 Rn. 19, 21; Renzikowski, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 176 Rn. 57. Je härter die Strafen desto höher die Abschreckung ist keine gelungene Formel. Hierzu ist eine intensivere Verfolgung effektiver. Siehe dazu Kreuzer, KriPoZ 2020, 263 (265). Siehe auch den Antrag einigen Abgeordneten und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 27.10.2020, BT-Drs. 19/23676.
[10] Siehe dazu die Zusammenfassung der KriPoZ, abrufbar unter: https://kripoz.de/2020/08/31/gesetz-zur-bekaempfung-sexualisierter-gewalt-gegen-kinder (zuletzt angerufen am 21.10.2020).
[11] Reformpaket (Fn. 3), S. 1.
[12] Siehe dazu der „Referentenentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ v. 21.10.2020, S. 24, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Bekaempfung_sex_Gewalt_Kinder.pdf (zuletzt abgerufen am 21.10.2020).
[13] Siehe dazu die Pressemitteilung der Bundesjustizministerin v. 1.7.2020, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/070120_Bekaempfung_Gewalt_Kinder.html (zuletzt abgerufen am 24.9.2020). Der Bundesrat positioniert sich hingegen in seiner Stellungnahme vom 27.11.2020 eindeutig gegen die Begriffsänderung aufgrund schlüssiger Argumente, BR‑Drs. 634/20 (Beschluss).
[14] Siehe dazu den Hinweis auf Inkohärenz im Referentenentwurf in der Stellungnahme von Kreuzer v. 1.9.2020, S. 2, abrufbar unter: https://kripoz.de/wpcontent/uploads/2020/10/Stellungnahme_kreuzer_RefE_Sex_Gewalt.pdf (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).
[15] Hörnle, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 176 Rn. 11.
[16] Der Täter muss auf das Kind, über eine rein passive Duldung hinausgehend, einwirken, siehe Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 176 Rn. 4, § 184h Rn. 19.
[17] Ziegler, in: BeckOK-StGB, 46. Ed. (Stand: 1.8.2020), § 176 Rn. 13.
[18] Siehe Wolters in: SK-StGB, Bd. 4, 9. Aufl. (2017), § 176 Rn. 5.
[19] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176 Rn. 29; Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 176 Rn. 4.
[20] Siehe dazu Brockmann, Anmerkung BGH, Urt. v. 9.7.2014 − 2 StR 13/14 (LG Aachen), JZ 2015, 152 (155).
[21] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176 Rn. 32.
[22] Ferner dazu s. Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176 Rn. 39 f.
[23] Siehe z.B. die Nachricht in der Zeit v. 7.7.2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/missbrauchsfaelle-muenster-kindesmissbrauch-taeter-opfer-faq (zuletzt abgerufen am 25.9.2020).
[24] Ähnliche Sichtweise Kreuzer, StV 2020 (Editorial); Hörnle, Stellungnahme, S. 4 (siehe Fn. 6).
[25] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176 Rn. 2; DRB, Stellungnahme Nr. 9/20, S. 2; BKSF, Stellungnahme, S. 8 (siehe Fn. 6). Dieser Gedanke wurde bereits in der Reformkomission Sexualstrafrecht geäußert. Siehe dazu den Abschlussbericht Reformkommission Sexualstrafrecht (Fn. 8), S. 245.
[26] Auf internationaler Ebene wird sexueller Missbrauch als nur eine Form des Missbrauchs angesehen. Daneben existieren andere Formen wie physischer Missbrauch, emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung. Siehe 3. Kapitel zur sexuellen Gewalt des Weltberichts über Gewalt und Gesundheit der WHO, S. 59 f., abrufbar unter: https://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/global_campaign/en/chap3.pdf (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).
[27] Ähnlich Hörnle, ZIS 2020, 440 (445); Renzikowski, KriPoZ 2020, 308 (309).
[28] Teilweise wird der Begriff noch konkreter („grausame, gewalttätige oder unfaire Behandlung“) definiert. Siehe dazu Online Cambrige Dictionary, abrufbar unter: https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/abuse (zuletzt abgerufen am 9.10.2020).
[29] https://dict.leo.org/grammatik/deutsch/Wortbildungsregeln/Derivation/To-A/Praefixe/miss.html (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).
[30] Siehe die Definition („etw. [absichtlich] falsch, in übertriebenem Maße oder unerlaubt gebrauchen“) im DWDS, abrufbar unter: https://www.dwds.de/wb/missbrauchen (zuletzt abgerufen am 15.10.2020).
[31] https://www.duden.de/rechtschreibung/missbrauchen (zuletzt abgerufen am 9.10.2020).
[32] Es sei denn, eine von den Beteiligten beispielsweise ein Gefangener und der andere ein Vollzugsbeamter ist.
[33] Ähnlich DAV, Stellungnahme Nr.: 60/2020, S. 6 (siehe Fn. 6). Nach der Auffassung Hörnles, ZIS 2020, 440 (445) wird beim Missbrauch das Abhängigkeitsverhältnis und die Unterlegenheit des Kindes (Stellungnahme, S. 4 [Fn. 6]) missbraucht bzw. ausgenutzt. Der Entwurf zum Absehen von Strafe im Falle eines geringen Unterschiedes „sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad“ diene sogar dem Missbrauch zugrunde liegenden Gedanken. Der entsprechende Entwurf in § 176 Abs. 2 StGB-E: „In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.“
[34] Ähnlich Fischer, ZIS 2015, 312 (316). Nach der Auffassung Hörnles ist „sexueller Missbrauch eine Kurzformel von Missbrauch von Abhängigkeit und Unterlegenheit für sexuelle Zwecke“, siehe Stellungnahme, S. 4 (Fn. 6).
[35] Für eine hinter der hier vertretenen Sichtweise zurückbleibenden Begrenzung auf die §§ 174 bis 174c StGB votieren DAV, Stellungnahme Nr. 60/2020, S. 5; Eisele, Stellungnahme, S. 2; DRB, Stellungnahme Nr. 9/20, S. 2 (Fn. 6).
[36] Report of the Consultation on Child Abuse Prevention WHO v. März 1999, http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/65900/1/WHO_HSC_PVI_99.1.pdf, S. 15 (zuletzt abgerufen am 5.10.2020).
[37] Beteiligte der IWG sind Institutionen wie UNICEF, das Sekretariat des Rates der Europäischen Union und INTERPOL.
[38] „Terminology Guidelines for the Protection of Children from Sexual Exploitation and Sexual Abuse“ -Interagency Working Group v. 2016, abrufbar unter: http://luxembourgguidelines.org/wp-content/uploads/2017/06/Terminology-guidelines-396922-EN.pdf, S. 20 (zuletzt abgerufen am 25.10.2020). In der deutschen Übersetzung dieses Dokumentes liegt ein vom englischen Original abweichender zusätzlicher Hinweis auf Kritik des Begriffes „sexueller Missbrauch“, der wortwörtlich aus der Webseite eines Amtes der Bundesregierung namens „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ abgeschrieben ist. Das ist irreführend. Es könnte vermutet werden, dass diese Kritik bereits im Originaltext stünde. Vergleiche https://www.terminologie.ecpat.de/wp-content/uploads/2019/12/Terminologischer-Leitfaden-A4-DE.pdf, S. 18 und https://beauftragter-missbrauch.de/praevention/was-ist-sexueller-missbrauch/definition-von-sexuellem-missbrauch (zuletzt abgerufen am 22.10.2020).
[39] Taner/Gökler, “Çocuk İstismarı ve İhmali”, Hacettepe Tıp Dergisi C. 37 („Kindesmissbrauch und -vernachlässigung“, Hacettepe Medizin Zeitschrift, Band 37), 2004, 82 (83).
[40] Endres/Scholz, NZS 1994, 466 (467 f.).
[41] Gegenansicht in der Stellungnahme des DJB, S. 4 (Fn. 6) aufgrund der weiten Definition des Gewaltbegriffs nach Art. 3 lit. a Istanbul-Konvention und der Formulierung des Art. 19 UN-Kinderrechtskonvention.
[42] Es handelt sich um eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung, dass in den entsprechenden Situationen oder Lagen die sexuelle Selbstbestimmung einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist. So kann eine 14-Jährige zwar in gewissem Maße zur sexuellen Selbstbestimmung fähig sein. Doch wird unwiderlegbar vermutet, dass der Beischlaf mit einem 20-jährigen Betreuer i.R.e. Zeltlagers nicht selbstbestimmt stattfinden kann (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, vgl. Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174 Rn. 24).
[43] Seit der letzten Änderung aus dem Jahre 2016 ist der Nötigungsteil des § 177 StGB nicht mehr Bestandteil des Grundtatbestandes, sondern Qualifikation.
[44] Sinn, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 3. Aufl. (2017), § 240 Rn. 29 ff.; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 177 n.F. Rn. 104. Siehe auch BGH, Urt. v. 31.7.2013 – 2 StR 318/13, Rn. 3; BGH, Urt. v. 12.12.2018 – 5 StR 451/18. Vgl. auch BVerfGE 92, 1, B (Sitzblockaden).
[45] Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 177 Rn. 32; Toepel, in: NK-StGB, 5. Auflage (2017), § 240 Rn. 35.
[46] Primär von Strafschärfungsgedanken ausgehend meint Kreuzer, Strafrecht werde dadurch prima statt ultima ratio, KriPoZ 2020, 263 (263, 265).
[47] Die Mitteilung des BMJV (siehe Fn. 4), S. 24.
[48] Siehe dazu die Stellungnahme zum Referentenentwurf der BKSF v. 14.9.2020, in der sexualisierte Gewalt als „Ausnutzen von Machtverhältnissen“ definiert wird, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/091420_Stellungnahme_BKSF_RefE_Sex_Gewalt.pdf, S. 2 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).
[49] Ähnliche Kritik Hörnle, Stellungnahme, S. 2 (Fn. 6).
[50] Ähnliche Kritik im Rahmen von Handlungen manipulativer Art und „Hands-off-Delikte“ DAV, Stellungnahme Nr. 60/2020, S. 5; Eisele, Stellungnahme, S. 2 (Fn. 6).
[51] Ähnlicher Vorbehalt Eisele, Stellungnahme, S. 2; DRB, Stellungnahme Nr. 9/20, S. 2 und mit dem Begriffsvorschlag „sexualisierte Übergriffe an Kindern“ DJB, Stellungnahme, S. 4 (Fn. 6).
[52] Siehe dazu BGH, NJW 1984, 931 (932).
[53] Siehe dazu Müller, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 105 Rn. 14.
[54] Im pädagogischen Kontext wird häufig „sexualisierte Gewalt“ als Oberbegriff verwendet, um allgemein sexuelle Handlungen gegen Kinder zu umschreiben. Siehe dazu die Broschüre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur „Sexualisierte[n] Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ v. Juni 2019, abrufbar unter: https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Sexualisierte_Gewalt_gegen_Kinder_und_Jugendliche.pdf (zuletzt abgerufen am 6.10.2020).
[55] Siehe dazu das 6. Kapitel zur sexuellen Gewalt des Weltberichts über Gewalt und Gesundheit von WHO, abrufbar unter: https://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/global_campaign/en/chap6.pdf, S. 149 (zuletzt abgerufen am 6.10.2020).
[56] Nach der Auffassung Bussweilers (Stellungnahme, S. 3 [Fn. 6]) kann dadurch eine irreführende gesellschaftliche Bewertung hervorgerufen werden.
[57] „Terminology Guidelines for the Protection of Children from Sexual Exploitation and Sexual Abuse“ (Fn. 38), S. 15.
[58] Nach der Gegenansicht in der Stellungnahme des DJB, S. 4 (Fn. 6) mache das Wort sexualisiert „deutlich, dass es sich dabei nicht um Sexualität handelt, sondern um einen Gewaltakt und eine Ausübung von Macht und Kontrolle in sexualisierter Form.“ Dabei wird die einfache Tatsache ignoriert, dass „sexualisiert“ als ein qualitatives Adjektiv vor dem Wort „Gewalt“ steht.
[59] Siehe dazu Renzikowki, KriPoZ 2020, 308 (310). Er unterteilt auch in: MüKo-StGB, Vor § 174 Rn. 10 die Sexualdelikte nach Angriffsweisen in Nötigung und Missbrauch.
[60] Siehe dazu die strenge Kritik der Neuen Richtervereinigung v. 14.9.2020, abrufbar unter: https://www.neuerichter.de/fileadmin/user_upload/fg_strafrecht/2020_FG_StrR_NRv_Ges.entwurf_sexualisierte_Gewalt.pdf, S. 2 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).
[61] Ähnlich Kreuzer, KriPoZ 2020, 263 (266); DAV, Stellungnahme Nr.: 60/2020, S. 5; f. Kinzig, Stellungnahme, S. 3 (Fn. 6). Siehe dazu die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer v. 9.2020 (Nr.: 53/2020) abrufbar unter: https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2020/september/stellungnahme-der-brak-2020-53.pdf, S. 5 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).
[62] Aus dieser Hinsicht kann die Gesetzesänderung in § 177 StGB vom 10.11.2016 kritisiert werden. Die hier erklärte konzeptuelle Differenzierung wurde dadurch ignoriert, dass in § 177 Abs. 2 StGB nötigungs- und missbrauchsmäßige Angriffe seitdem Alternativen zueinander darstellen.
[63] Renzikowski beschreibt die schwere Gesundheitsschädigung i.S.d. Alt. 1 mit den Worten “ernstlich, einschneidend und nachhaltig – insbesondere langwierig, qualvoll oder lebensbedrohend”. Die erhebliche Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung i.S.d. Alt. 2 umfasse die dauernde oder nachhaltige Störung des normalen Ablaufs des körperlichen Reifeprozesses oder psychische Störungen wie „Verwahrlosung, Traumatisierung, Verhaltensauffälligkeiten“, Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176a Rn. 25 ff. Vgl. Hörnle, in: LK-StGB, § 176a Rn. 41-43; Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 176a Rn. 10.
[64] Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 176a Rn. 10; Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 176a Rn. 15. Durch Einschluss der Begleitumstände abweichend Hörnle, in: LK-StGB, § 176a, Rn. 40.
[65] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176a Rn. 7, 37.
[66] BGH, Urt. v. 9.12.2014 – 5 StR 422/14 (LG Berlin).
[67] Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 176a Rn. 18.
[68] Siehe zur Diskussion darum Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 176a Rn. 35; Hörnle, in: LK-StGB, § 177 Rn. 262 f.
[69] Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 176a Rn. 14.
[70] Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 176a Rn. 19.
[71] Ein weiteres, im Gesetz verankertes strafschärfendes Merkmal ist einschlägig, wenn das Opfer jünger als 12 Jahre ist.
[72] Minderjährige, die zwischen 15-18 Jahre alt sind und Einsichtsfähigkeit besitzen.
[73] Sie muss aber selbstverständlich vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Turhan, Türk ve Alman Ceza Hukukunda Çocukların Cinsel İstismarı Suçu (Sexueller Missbrauch von Kindern im Türkischen und Deutschen Strafrecht), 2021, S. 50 ff.
[74] Der Türkische Oberste Gerichtshof, 14. Strafsenat, 2015/5752, 10.11.2015 (Yargıtay 14. CD 2015/5752 E., 2015/10400 K., 10.11.2015 T.).
[75] Beispielsweise wird bei vis absoluta der Tatbestand des § 182 StGB nicht erfüllt, weil dann die sexuelle Handlung nicht durch Ausnutzung einer Zwangslage, Bezahlung eines Entgelts oder Bestimmen vorgenommen wurde. Siehe Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 182 Rn. 77.
[76] Hörnle, in: LK-StGB, Vor § 174 Rn. 41, 44.
[77] Turhan, Türk ve Alman Ceza Hukukunda Çocukların Cinsel İstismarı Suçu (Fn. 73), S. 129 f.
[78] Der Strafrahmen bei einem Vergewaltigungsfall liegt zwischen 24 bis 30 Jahren Freiheitsstrafe. Übrigens ist die Mindeststrafe bei sexuellem Missbrauch von Kindern (Belästigung) eine 3-jährige Freiheitsstrafe.
[79] Richtlinie 2011/92/EU Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32011L0092 (zuletzt abgerufen am 10.11.2020).
[80] „Terminology Guidelines for the Protection of Children from Sexual Exploitation and Sexual Abuse“, (Fn. 38), S. 15.
[81] Es wäre auch vorstellbar, in § 177 StGB ein Merkmal zur Minderjährigkeit einzufügen. Bedeutend wäre in diesem Zusammenhang allerdings, dass Fälle, bei denen das Unrecht der Tat primär auf einem Missbrauch beruht, ausgeschlossen sind. Das hieße insbesondere, dass sexuelle Handlungen mit Kleinkindern nicht von § 177 StGB erfasst werden.
Ein großartiger Artikel, in dem sich eine vertiefte Kenntnis der Problematik zeigt, die ich in vollem Umfang teile. Ich war bis zu meiner Pensionierung 25 Jahre lang Vorsitzender Richter der Jugendstraf- und schutzkammer beim Landgericht Mühlhausen/Thüringen. Beim Landgericht wurden besonders die Fallserien angeklagt, die sich häufig in Familien zu getragen haben. Typische Konstellation war die Anklage einer Tatserie gegen den neuen Lebensgefährten der Mutter der missbrauchten Kinder. Nicht Gewalt im Sinne körperlicher Übergriffe wie Schlägen und dergl. stand dabei im Vordergrund, sondern die Ausnutzung der elementaren Beziehungsbedürfnisse und deren schamlose Ausnutzung durch die Täter, eben der (Beziehungs-)missbrauch. Eine Umformulierung der Gesetzesbezeichnung würde daher auch aus meiner Sicht die erhebliche Gefahr mit sich bringen, dass diese für die Opfer mit schwersten seelischen Folgen verbundenen Taten aus dem Blick geraten würden.