2019, Nomos, ISBN: 978-3-8487-5500-4, S. 563, Euro 157,00.
Anlass der Dissertation von Götze war der tragische Flugzeugabsturz des Airbusses A320-211 der Lufthansa-Tochter Germanwings. Die Ermittlungen hatten ergeben, dass der Kopilot die Maschine durch gezielten Sinkflug zum Absturz gebracht hatte. In der Folgezeit wurde darüber diskutiert, inwiefern Ärzte oder Psychotherapeuten den Arbeitgeber über psychische Krankheitsbilder zu informieren haben. Hier wurde kriminalpolitisch eine Durchbrechung der Schweigepflicht in sicherheitsrelevanten Berufen gefordert. Ziel der Arbeit von Götze ist es nun, die Reichweite der Schweigepflicht bei Schweigepflichtskonfliktfällen zu bestimmen, die Praxis des Umgangs mit der Schweigepflicht zu beschreiben und dogmatische, verfassungsrechtliche und medizinethisch vertretbare sowie praxisgerechte Lösungen zu entwickeln, um derartigen Katastrophenfällen in Zukunft entgegenwirken zu können (S. 25).
Als Grundlegung dient Teil 2, der sich im Rahmen einer Literaturstudie mit dem Ursprung, dem Umfang und den Grenzen der ärztlichen und psychotherapeutischen Schweigepflicht vertieft auseinandersetzt. Der Schwerpunkt liegt auf den gesetzlich normierten Durchbrechungen der Schweigepflicht. Auf den über hundert Seiten (S. 35-160) gibt die Verfasserin zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung, bevor sie sich dem Schutz der ärztlichen Schweigepflicht durch die gegenwärtige Rechtsordnung widmet. Es wird dezidiert herausgearbeitet, dass die ärztliche Schweigepflicht sowohl im Standes-, Datenschutz-, Zivil- und Strafrecht umfassend geschützt wird.
Insbesondere dem Schutz der ärztlichen Schweigepflicht gem. § 203 StGB wird umfassend nachgegangen und die duale Schutzrichtung des § 203 StGB herausgearbeitet. Objektiver und subjektiver Tatbestand werden im Detail nachgezeichnet und die Rechtsfolgen einer unbefugten Offenbarung aufgezeigt. Neben zivilrechtlichen Schadensersatz- und Haftungsansprüchen kann ebenfalls ein berufsgerichtliches Verfahren gegen den Arzt geführt werden – allerdings nur, soweit kein strafrechtliches Verfahren stattfindet. Eine Verurteilung vor dem Strafgericht kann neben einer Freiheits- oder Geldstrafe auch ein Berufsverbot gem. § 70 StGB nach sich ziehen. Allerdings, so Götze, komme dem § 203 StGB in der Praxis nur marginale Bedeutung zu. Dies liege an der Problematik der Beweisführung und an der Ausgestaltung der Norm als Antragsdelikt (S. 77).
In einem weiteren Schritt lotet die Verfasserin die Grenzen des Geheimnisschutzes nach § 203 StGB aus und nimmt zunächst spezialgesetzliche Offenbarungspflichten in den Blick. Hier werden u.a. exotische Normen aus dem Infektionsschutzgesetz, der Triebfahrzeugführerscheinverordnung, dem Luftverkehrsgesetz und dem Seearbeitsgesetz vorgestellt. Innerhalb dieser spezialgesetzlichen Offenbarungspflichten fände eine Abwägung der Schutzgüter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Vertrauens in die Ärzteschaft ggü. der körperlichen Unversehrtheit anderer bzw. der öffentlichen Sicherheit statt, wobei letztere Rechtsgüter insbesondere bei sicherheitsrelevanten Tätigkeiten überwögen, was auch interessengerecht sei. Auffällig ist allerdings der Befund von Götze, dass psychologische Fähigkeiten häufig nur bei Ersterwerbung des Rechts und ab einem hohen Lebensalter untersucht und darüberhinausgehende psychiatrische Untersuchungen explizit nur bei Erstuntersuchungen für die Flugtauglichkeit durchgeführt werden. So erfolge bspw. beim SeeArbG eine psychologische und psychiatrische Untersuchung lediglich bei Hinweisen auf eine eingeschränkte psychische Eignung.
Im Anschluss prüft die Verfasserin strafrechtliche Offenbarungspflichten. Schade ist, dass die Ausführungen diesbezüglich an der Oberfläche bleiben. Allerdings ist ihr darin recht zu geben, dass die Praxisrelevanz des § 138 StGB als marginal anzusehen ist (S. 107). Ausführlicher widmet sich Götzedann der Einwilligung der Offenbarung sowie § 34 StGB. Insbesondere der Interessenabwägung käme hier im Einzelfall große Bedeutung zu.
Letztlich lehnt Götze eine umfassendere Normierung von spezialgesetzlichen Offenbarungspflichten ab und plädiert dafür, diese weiterhin auf Ausnahmefälle zu beschränken, da bei fehlendem Ermessensspielraum der Arzt bzw. Psychotherapeut zwangsläufig das Vertrauen des Patienten verlieren und unter Umständen nicht nach seinem Gewissen handeln könne (S. 159). Zwar sei eine Anzeige im Falle einer Verkehrsgefährdung regelmäßig auch nach § 34 StGB gerechtfertigt. Doch auch im Falle des Vorliegens einer Offenbarungsbefugnis sei diese aufgrund ihres nicht verpflichtenden Charakters nicht in dem Ausmaße zur Verhinderung einer Gefahr geeignet, wie dies bei einem strafbewehrten Unterlassen einer Anzeige der Fall wäre (S. 160).
In einem dritten Teil (S. 161-368) beleuchtet die Verfasserin auf rund 200 Seiten das Geschehen des verunglückten Germanwings-Flugzeugs, des Täters sowie der sich daraus entwickelten Debatte. Die Debatte wird dann mit einer Leitfragestellung aufgegriffen und im Rahmen einer qualitativen Untersuchung in Form von Experteninterviews weitergeführt.
Die Debatte um die Frage der Durchbrechung ärztlicher, psychotherapeutischer und berufspsychologischer Schweigepflicht bei Verdacht auf eine von dem in einem sicherheitsrelevanten Beruf tätigen Patienten ausgehende Gefahr wird mit den pro und contra Argumenten ausführlich nachgezeichnet. Götze stellt fest, dass es derzeit zumindest an einer Regelung de lege lata fehlt, die den Arzt oder Psychotherapeuten bei der Annahme einer Gefahr im Falle des Hinzutretens weiterer Umstände, die von dem im sicherheitsrelevanten Bereich tätigen Patienten ausgeht, zur Anzeige befugt oder sogar verpflichtet (S. 367).
Ob es einer solchen Regelung de lege ferenda bedarf, konnte mittels der durchgeführten Experteninterviews nicht eindeutig beantwortet werden. Die ausführliche Darstellung der Experteninterviews gibt nicht nur das methodische Design, sondern auch die nach Kategorien aufbereiteten Antworten wieder. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass mit 5 Interviewpartnern kein ausgewogenes Bild gewonnen werden kann. Ggf. hätte es sich angeboten, hier auch eine quantitative Erhebung mittels Fragebögen anzustoßen oder aber deutlich mehr Experten qualitativ zu befragen. Die 5 Experten lehnten zwar gesetzgeberische Maßnahmen zur Durchbrechung der Schweigepflicht ab, es zeigten sich aber laut Verfasserin „eklatante(n) Rechtsunsicherheit(en)“ (S. 367). Daher und aufgrund des daraus erwachsenden restriktiven Anzeigenverhaltens fordert Götze dringend gesetzgeberische Maßnahmen zur Verbesserung der momentanen rechtlichen Lage (S. 368).
Demzufolge nimmt die Autorin in einem vierten Teil eine kritische Bewertung der Leitfragestellung vor und formuliert einen konkreten Regelungsvorschlag (S. 369-518). Es wird ein Straftatbestand der Nichtanzeige einer Gefahr bei sicherheitsrelevanten Berufen entworfen (S. 416 f.; 432 f.), dessen systematische Einordnung als neuer § 141 StGB als am sinnvollsten angesehen wird (S. 424). Allerdings zeigen verfassungsrechtliche und medizinethische Erwägungen von Götze, dass ein solcher Straftatbestand nicht vertretbar wäre. Sie stellt einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG aufgrund des durch den Regelungsvorschlag entstehenden Vertrauensbruchs in die Ärzteschaft, der Aushöhlung des Rechtsinstituts der Schweigepflicht und der Missachtung der grundsätzlichen Bedingungen des psychotherapeutischen und ärztlichen Wirkens und seiner Therapieeffekte fest. Des Weiteren würde die Normierung ihrer Meinung nach eine ausufernde Verrechtlichung der Moral ohne praktischen Nutzen darstellen (S. 518).
In einem 5. Teil stellt Götze ausblickend fest, dass trotz der Untauglichkeit des von ihr formulierten Unterlassungsstraftatbestands eine Änderung der aktuellen Lage von Nöten ist, um dem restriktiven Anzeigeverhalten der Ärzte und Psychotherapeuten entgegenzuwirken und dadurch künftig Katastrophenfälle zu verhindern (S. 519). Allerdings sei auf der anderen Seite die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt bzw. Psychotherapeuten und Patienten derart zerbrechlich, dass weitere gesetzliche Durchbrechungen der Schweigepflicht dieses Verhältnis schädigen würden. Daher könnten nur solche Maßnahmen geeignet sein, die dieses zerbrechliche Vertrauensverhältnis so wenig wie möglich beeinträchtigen und das ärztliche sowie psychotherapeutische Wirken und dessen Therapieeffekte berücksichtigen. Außerdem solle die ärztliche Schweigepflicht dabei so wenig wie möglich angetastet werden.
Götze führt danach etwas kryptisch aus, dass „durch die Schaffung von verschiedenen Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen – unter Berücksichtigung der genannten Kriterien – diese in ihrem Zusammenwirken im Vergleich zu § 141 StGB ein Erfolg versprechendes und gleichzeitig milderes Mittel zur Verhinderung von Katastrophenfällen darstellen werden“ (S. 521). Die verschiedenen Maßnahmen werden jedoch von der Verfasserin im Folgenden vorgestellt. So nennt sie zuerst die Explikation, denn würde die Rechtsunsicherheit wegen der Vielzahl an Ausnahmen zur Schweigepflicht beseitigt, so könne dies zu einer häufigeren Anzeigebereitschaft der Ärzte und Psychotherapeuten führen. Die Explikation solle den Ärzten und Psychotherapeuten nicht nur die einzelnen Regelungen der Schweigepflicht in ihrer Anwendung, ihrem Umfang und ihren Rechtsfolgen näherbringen, so dass Götze Pflichtfortbildungen in diesem Bereich fordert (S. 522). Zudem empfiehlt sie vermehrte rechtliche Stellungnahmen von den zuständigen Behörden und rechtsverbindliche Empfehlungen bzgl. des Umgangs mit der Schweigepflicht. Abschließend fordert sie in diesem Zusammenhang auch kostenlose Rechtsberatungen für Ärzte und Psychotherapeuten im Hinblick auf Schweigepflichtfälle (S. 523).
Darüber hinaus spricht sich Götze für eine europaweite Datenbank für sicherheitsrelevante Berufe aus. In dieser seien Auffälligkeiten hinsichtlich der medizinischen Vorgeschichte eines im sicherheitsrelevanten Bereich tätigen Patienten zu dokumentieren. Eine solche Datenbank solle im Fall eines Arbeitgeberwechsels den dort zugelassenen Ärzten und Psychotherapeuten einen Überblick über die Krankengeschichte des Patienten ermöglichen (S. 523 f.). Inwieweit eine solche Datenbank den Anforderungen an die Datenschutzgrundverordnung gerecht wird und welche Voraussetzungen erforderlich sind, um datenschutzrechtliche Aspekte zu wahren, bleibt leider unbeantwortet.
Zudem schlägt die Verfasserin die Einführung häufigerer Zufallskontrollen auf Drogen-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs bei sicherheitsrelevanten Berufen vor, die verdachtsunabhängig und stichprobenartig sowohl vom jeweilige Arbeitgeber als auch von den jeweils zuständigen Behörden durchzuführen seien (S. 524). Daneben seien häufigere und intensivere Eignungsuntersuchungen vorzunehmen und hier eine Halbierung der derzeit gesetzlich geregelten Zeiträume angemessen. Auch der Inhalt der Eignungsuntersuchungen sei zu erweitern und ab jedem Lebensalter auf psychische Erkrankungen auszudehnen (S. 525).
Ferner seien die Rechtsfolgen einer etwaigen Untauglichkeit oder Einschränkung der Tauglichkeit abzuschwächen. Wie genau das aussehen soll, bleibt aber leider unklar. Wenn gefordert wird, dem Arbeitgeber weniger Handlungsspielraum für die Verhängung beruflicher Konsequenzen einzuräumen (S. 527), so bleibt letztlich unbeantwortet, welche Konsequenzen Not tun, um eine Gefährdung von Leib und Leben anderer abzuwenden. Mit einer staatlichen Selbsthilfegruppe, wie diese die Verfasserin beispielsweise vorschlägt, scheint sich die Verantwortung des von der psychischen Labilität des Arbeitnehmers wissenden Arbeitgebers massiv auf diesen zu verlagern.
Weiterhin fordert Götze eine rechtlich bindende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für Arbeitnehmer im sicherheitsrelevanten Bereich, die von dem behandelnden Arzt bzw. Psychotherapeuten direkt an den Arbeitgeber zu übermitteln ist. Diese Bescheinigung dürfe aber den Grund der Erkrankung nicht enthalten (S. 527).
All diese Maßnahmen würden in ihrem Zusammenwirken einen effizienteren Beitrag zur Katastrophenverhinderung mit einem geringeren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten darstellen, als die diskutierte strafrechtliche Neuregelung in § 141 StGB. Insbesondere werde dadurch das Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt bzw. Psychotherapeuten nicht tangiert, sondern sogar noch gestärkt (S. 529).
Die umfangreiche Dissertation von Götze beinhaltet eine intensive Auseinandersetzung mit den Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht und der Schnittstelle zwischen Offenbarungspflichten und Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten. Der empirische Teil ermöglicht einen – ersten – Blick auf die Praxis, muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, nur sehr ausschnitthaft 5 Expertenmeinungen fruchtbar gemacht zu haben. Dies schmälert aber keinesfalls die theoretische Grundlegung der Verfasserin, die für sich schon eine solide wissenschaftliche Arbeit darstellt. Trotz der ausgemachten Rechtsunsicherheiten durch eine unübersichtliche Regelungsmaterie erliegt Götze nicht der Versuchung, einen neuen Unterlassungsstraftatbestand zu schaffen, um in dem schmalen Feld psychisch Erkrankter in sicherheitsrelevanten Berufsfeldern ein scharfes strafrechtliches Schwert im Umgang mit Offenbarungspflichten zu haben. Vielmehr erkennt sie die verfassungsrechtlichen und medizinethischen Implikationen, die eine solche Norm in die Schranken weisen und sucht nach wirksamen Maßnahmen jenseits strafrechtlicher Reglementierungen. Der Maßnahmenkatalog, den sie aufzeigt, ist umfangreich, bleibt allerdings an der Oberfläche. Dies bietet kommenden Autoren die Möglichkeit, hier tiefer zu schürfen und die Voraussetzungen und Grenzen dieser Maßnahmen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht intensiver auszuloten.