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Gesetzentwurf zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Strafvollstreckungsverfahren

von StAin Hedda Appuhn, LL.B.*

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Abstract
Im Schatten der SARS-CoV-2-Pandemie brachte der Bundesrat erneut eine Gesetzesinitiative auf den Weg, die bei gerichtlichen Entscheidungen über den Widerruf einer Bewährung oder die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Anhörung ohne die persönliche Anwesenheit der Beteiligten mittels Videokonferenztechnik ermöglichen soll. Im Jahr 2013 war ein vergleichbarer Vorstoß bereits gescheitert. Nun erfolgt ein weiterer Versuch mit einer leicht abgewandelten Gesetzesfassung. Wird die neue Widerspruchslösung und die aktuelle Dynamik der Digitalisierung der Gesetzesinitiative dieses Mal zum Erfolg verhelfen? Ein Beitrag über die Hintergründe und die diskutierten Vor- und Nachteile des aktuellen Gesetzentwurfs.

Under the shadow of the current SARS-CoV-2-Pandemic, the German Federal Council (Bundesrat) is once again launching a legislative initiative to enable a hearing without the personal presence of the parties involved by means of videoconferencing technology in court proceeding concerning the revocation of probation or the suspension of the remainder of a prison sentence. In 2013, a similar attempt had failed. Now another attempt is being made, with a slightly modified version of the law. Will the modifications and the current dynamics of digitalisation help the legislative initiative to succeed? An article on the background and the discussed advantages and disadvantages of the current draft law.

Seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie tritt das Thema Digitalisierung und die vermehrte Nutzung digitaler Medien – auch im Strafverfahren – wieder in den Vordergrund. In den vergangenen Jahren ist die Strafprozessordnung in dieser Hinsicht bereits in vielen Punkten modernisiert worden. An verschiedenen Stellen besteht bereits die Möglichkeit, die persönliche Anhörung oder Vernehmung von Beteiligten durch Videoübertragungen zu ersetzen.[1]

Videoübertragungen kommt seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie eine neue Bedeutung zu, da Prozesse mit Beteiligten aus Risikogebieten oder mit Risikogruppen oft nicht in der gewohnten Form stattfinden können. Deshalb kommen den Gerichten mehr denn je die bereits in der Strafprozessordnung verankerten Möglichkeiten des Zuschaltens von Beteiligten mittels Videokonferenz zugute.[2]

Diese und weitere Vorteile des Einsatzes von Videokonferenztechnik möchte das Land Niedersachsen nun auch im Strafvollstreckungsverfahren nutzen. Aus dem Bundesrat heraus ist dem Bundestag in Bezug auf den vermehrten Einsatz von Videokonferenztechnik bei Anhörungen im Vollstreckungsverfahren am 3.7.2020 auf Antrag des Landes Niedersachsen der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung zugeleitet worden.[3] Im Bundestag wurde über diesen Gesetzesentwurf bislang nicht beraten. Im Wesentlichen sieht der Entwurf eine Änderung der Modalitäten vor, die bei einer Anhörung nach den §§ 453 oder 454 StPO zu beachten sind.

I. Der aktuelle Gesetzentwurf

Der aktuelle Gesetzentwurf des Bundesrates schlägt drei wesentliche Änderungen vor:

1. Änderung

Ein neu eingefügter § 453 Abs. 2 StPO soll nach der Vorstellung der Entwurfsverfasser die mündliche Anhörung des Verurteilten zeitgleich in Bild und Ton an dem Ort zulassen, an dem sich der Verurteilte befindet. Dem Verurteilten soll allerdings die Möglichkeit gegeben werden, einer Anhörung im Wege der Übertragung in Bild und Ton zu widersprechen. Auf diese Möglichkeit ist er rechtzeitig vom Gericht hinzuweisen. Sollte er von diesem Widerspruchsrecht Gebrauch machen, ist die Anhörung mittels Videoübertragung unzulässig.[4]

2. Änderung

In § 454 Abs. 1 StPO soll ein neuer Satz 4 eingefügt werden, der auf den § 453 Abs. 2 E-StPO verweist, sodass auch für die Entscheidung, ob die Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§§ 57 bis 58 des Strafgesetzbuches), eine mündliche Anhörung im Wege einer Videokonferenz ausreichend sein soll, soweit das Gericht dies anordnet und der Verurteilte dem nicht widerspricht.[5]

3. Änderung

In § 454 Abs. 2 StPO soll ein neuer Satz 4 eingefügt werden, der dem Gericht gestattet, auch Sachverständige mittels Videoübertragung anzuhören. Diese können der Anhörung mittels Videoübertragung nicht widersprechen. [6]

II. Rechtlicher Hintergrund

Die §§ 453, 454 StPO befassen sich mit nachträglichen Entscheidungen im Strafvollstreckungsverfahren, wenn es etwa um die Frage geht, ob eine gewährte Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung aus den Gründen des § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 StGB (Verstoß gegen Weisungen oder Nichterfüllung von Auflagen) zu widerrufen ist oder ob der Rest einer sich in der Vollstreckung befindenden Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Zuständig ist in der ersten Variante das Gericht des ersten Rechtszugs (§ 463a Abs. 2 S. 1 StPO) und in der zweiten jeweils die Kammer des Landgerichts, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in der der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt einsitzt (§ 462a Abs. 1 S. 1 StPO). Bei beiden Entscheidungen ist der Verurteilte durch das Gericht zuvor mündlich anzuhören (§§ 453 Abs. 1 S. 4, 454 Abs. 1 S. 3 StPO). Die Anhörung soll dem Verurteilten die Gelegenheit geben, sich zu den dem Gericht möglicherweise zu seinem Nachteil bekanntgegebenen Umständen zu äußern,[7] um dadurch zu verhindern, dass schwerwiegende Entscheidungen ohne zureichende Tatsachengrundlage getroffen werden.[8] Das in Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Gebot rechtlichen Gehörs wird hierdurch gewahrt.[9] Sowohl im Hinblick auf den Widerruf der gewährten Bewährung aus den Gründen des § 56f Abs. 1 S. 1 Nrn. 2 und 3 StGB[10] als auch bei Frage, ob der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wird, ist die mündliche Anhörung grundsätzlich[11] zwingend.

Im Vordergrund steht der Begriff der Anhörung. Während § 453 Abs. 1 S. 2 StPO nur von einem „schlichten“ Anhören der Staatsanwaltschaft und des Verurteilten ausgeht, bestimmt Satz 4 im Fall der Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung zusätzlich die Mündlichkeit der Anhörung. Sofern die Mündlichkeit gesetzlich nicht vorausgesetzt wird, genügt es für die Durchführung der Anhörung, wenn dem Verurteilten unter Mitteilung der wesentlichen Fakten – einschließlich des Antrags der Staatsanwaltschaft – die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben wird und er nicht auf eine mündliche Anhörung besteht.[12] Da bei der schlichten Anhörung gesetzlich keine besondere Form vorgesehen ist, ist hier bereits jetzt auch eine Anhörung mittels Videokonferenztechnik ohne weiteres möglich. In der Praxis erfolgt die Anhörung aus Gründen der Zeitersparnis und Effizienz jedoch in der Regel schriftlich. Der aktuelle Gesetzentwurf betrifft daher ausschließlich die Fälle des § 453 Abs. 1 S. 3 StPO und § 454 Abs. 1 S. 3 StPO, in denen eine mündliche Anhörung vorgesehen ist.

Für die Mündlichkeit der Anhörung wird nach geltender Gesetzeslage eine gleichzeitige persönliche Anwesenheit von Richter und Verurteiltem für erforderlich erachtet.[13] Eine telefonische Anhörung ist somit nicht ausreichend.[14] Hintergrund ist, dass bei Entscheidungen über den Widerruf der Bewährung oder über die Strafrestaussetzung zur Bewährung der persönliche Eindruck des Gerichts vom Verurteilten von ganz entscheidender Bedeutung ist. Bei der Entscheidung über einen Bewährungswiderruf verlangen Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz und das Grundrecht auf ein faires Verfahren eine besonders gründliche Aufklärung der Sachlage.[15] Um eine Prognoseentscheidung über das künftige Leben des Verurteilten treffen zu können, müssen alle Tatsachen und auch die Situation und Perspektiven des Verurteilten berücksichtigt werden, sodass eine persönliche Anhörung in der Regel unerlässlich ist. Gemäß § 57 StGB ist bei der Entscheidung über die Aussetzung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung unter anderem „insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, […] zu berücksichtigen.“ Von dieser kann sich das Gericht jedoch nur durch ein persönliches Treffen mit dem Verurteilten ein Bild machen. Da es bei der Entscheidung um die Freiheit des Verurteilten und somit um ein elementares Grundrecht geht, kann gerade hier nicht darauf vertraut werden, dass die Persönlichkeit des Verurteilten durch die Aktenlage, den Bericht der JVA oder des Sachverständigen angemessen erfasst wird. Das Gericht muss sich vielmehr einen eigenen persönlichen Eindruck von der Person des Verurteilten verschaffen. 

III. Historie

Da gerade bei Entscheidungen über einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung oder einer Aussetzung des Strafrests zur Bewährung das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen im besonderen Maße tangiert und der persönliche Eindruck vom Verurteilten von entscheidender Bedeutung ist, scheiterte eine vergangene Gesetzesinitiative des Bundesrates, die eine mündliche Anhörung mittels Videokonferenztechnik in diesen Bereichen ermöglichen sollte. Mit dem Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren aus dem Jahr 2007 wurde zuletzt 2010 in der 17. Wahlperiode eine Änderung der §§ 453, 454 StPO angestrebt.[16] Seinerzeit konnte sich die Möglichkeit der Anhörung mittels Videokonferenztechnik nur bei der fakultativ-mündlichen Anhörung des § 462 Abs. 2 S. 2 StPO, nicht aber bei obligatorischen mündlichen Anhörungen im Strafvollstreckungsverfahren durchsetzen.[17] Hauptargument gegen die vorgeschlagene Änderung der §§ 453, 454 StPO war seinerzeit, dass es bei diesen Entscheidungen für die Gerichte besonders wichtig sei, sich durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Inhaftierten einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen.[18]

IV. Aktuelle Rechtslage

Nach der derzeit geltenden Rechtslage ist eine gesetzlich vorgesehene mündliche Anhörung im Strafvollstreckungsverfahren unter Einsatz von Videokonferenztechnik möglich, wenn das Gericht dies für angemessen erachtet und der Verurteilte ausdrücklich zustimmt.[19] Das Erfordernis der ausdrücklichen Zustimmung hat laut aktuellem  Gesetzentwurf zur Folge, dass eine Anhörung im Wege der Videokonferenz in der Regel nicht durchgeführt werden kann, da die Verurteilten schlichtweg nicht antworten.[20] Die Entwurfsverfasser streben daher faktisch eine Umkehr der derzeit geltenden Gesetzeslage an, bei der die mündliche Anhörung (bei entsprechender Anordnung durch den Richter) die Regel wird und nur durch einen ausdrücklichen Widerspruch abgewendet werden kann.[21]

V. Ziele des Gesetzentwurfs

Die Entwurfsverfasser versprechen sich von der vorgeschlagenen Gesetzesänderung vor allem eine zeitlich effektivere Ausgestaltung des Strafvollstreckungsverfahrens, da die Anreise der Verfahrensbeteiligten und damit verbundene Reisekosten wegfielen und die Terminierung erleichtert werde. Ferner würden auch die Wachtmeister und Justizbediensteten entlastet und der stets mit Sicherheitsrisiken verbundene Gefangenentransport entfallen.[22]

VI. Bewertung

1. Finanzielle Auswirkungen 

In dem ursprünglichen Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen schrieben die Entwurfsverfasser, dass sie von keinem bzw. nur einem geringen Kostenaufwand für die Umsetzung der geplanten Gesetzesänderung ausgingen, da an nahezu allen Landgerichten, Amtsgerichten und Justizvollzuganstalten bereits Videokonferenztechnik vorhanden sei.[23] Dass dies allerdings nicht der Realität entspricht, ergibt sich aus einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung vom Dezember 2020.[24] Dabei stellte sich heraus, dass insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern die erforderlichen Videokonferenzanlagen vielerorts fehlen.  So verfügt Sachsen-Anhalt etwa nur über insgesamt drei Videokonferenzanlagen in Gerichten; gleiches gilt für Brandenburg.[25] In Mecklenburg-Vorpommern gibt es acht Videokonferenzanlagen, die von insgesamt 18 Gerichten geteilt werden. Thüringen verfügt über sieben mobile Anlagen für das gesamte Bundesland. Sachsen besitzt acht Anlagen.[26] Viele Bundesländer setzten jedoch eigenen Angaben zufolge auch vermehrt auf eine Lösung, die Videokonferenzen über Notebooks ermöglicht, ohne dass eine spezielle Videokonferenzanlage erforderlich ist.[27] Diese Lösung verschaffe sämtlichen Justizangehörigen einen Zugang zu Videokonferenzen. Allerdings entspricht diese Verfahrensweise technisch noch nicht allen Anforderungen der Justiz,[28] sodass hier zunächst eine weitere Aufrüstung erforderlich sein dürfte.

2. Technische Anforderungen und Umsetzung

Videokonferenzen in gerichtlichen Verfahren müssen vor allem sicher und zuverlässig sein. Es muss sowohl ein unerlaubter Zugriff Dritter ausgeschlossen sein als auch eine Unterbrechung der Verhandlung durch technische Probleme. Deshalb ist hochwertige Hard- und Software erforderlich, die allen Beteiligten die Möglichkeit bietet an der Videokonferenz teilzunehmen. Hier kommt es auch innerhalb des Justiznetzwerkes länderübergreifend zu Problemen, da die Bundesländer zum Teil unterschiedliche Programme verwenden und unterschiedliche Sicherheitsanforderungen haben, die nicht immer miteinander kompatibel sind. Hier wäre eine bundesweite Vereinheitlichung der eingesetzten Technik und Software wünschenswert, sodass zumindest zwischen den Gerichten und Justizvollzugsanstalten ein reibungsloser Ablauf garantiert ist und weitere Beteiligte Notfalls von Dort aus an der Videokonferenz teilnehmen können.

Aber auch eine stabile und ausreichend schnelle Internetverbindung ist Voraussetzung für eine Anhörung im Wege der Videoübertragung. Dies dürfte jedoch bei einigen Gerichten oder Verfahrensbeteiligten in ländlichen Regionen zum Problem werden. Eine Befragung von Richterinnen und Richtern, die bereits Anhörungen mittels Videokonferenztechnik durchgeführt haben, hat ergeben, dass es bei 44% zu einer verzögerten Tonübertragung gekommen ist.[29] 6% gaben zudem an, dass die Bildqualität schlecht gewesen sei.[30]

Zu bedenken ist ferner, dass nicht nur die Gerichte und Justizvollzugsanstalten über die erforderliche technische Ausstattung verfügen müssen, sondern auch andere Verfahrensbeteiligte wie etwa Sachverständige, Rechtsanwälte, Dolmetscher und auch die Staatsanwaltschaft. Die Alternative wäre, dass sie vom Gericht oder von der JVA aus an der Videokonferenz teilnehmen müssten, wodurch aber wiederum eine entsprechende Anreise erforderlich wäre. Ferner dürfte es als kritisch zu sehen sein, wenn ein Großteil der Beteiligten vom Gerichtssaal aus an der Anhörung teilnimmt und nur der Verurteilte im Wege der Videokonferenz hinzugeschaltet wird. Eine solche Vorgehensweise könnte bei dem Verurteilten den Eindruck erwecken, die übrigen Beteiligten stünden „in einem Lager“ und er sei auf sich alleine gestellt. Insbesondere sollte vermieden werden, dass der Verteidiger des Verurteilten vom Gericht aus an der Videokonferenz teilnimmt, während der Verurteilte selber in der JVA ist.[31]

3. Sicherheit und Missbrauchsgefahr 

Das interne Netzwerk der Justizbehörden ist gegen unerwünschte externe Zugriffe gut geschützt. Probleme können jedoch auftreten, wenn weitere Beteiligte von außerhalb zugeschaltet werden. Zu denken ist an Fälle, in denen etwa der Sachverständige aus seinem Büro und/oder der Verteidiger aus seiner Kanzlei an der Anhörung teilnimmt. Ob es in derartigen Fällen tatsächlich zu Schwierigkeiten kommt, ist nicht bekannt. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte, dass in anderen Bereichen, in denen die Videokonferenztechnik bereits verwendet wird, diesbezüglich Probleme aufgetreten sind. In jedem Fall sind jedoch bestimmte technische Mindestanforderungen festzulegen, um eine sichere Verbindung zu garantieren.

Ferner wird in der Literatur das Problem diskutiert, dass bei einer Videoübertragung regelmäßig nicht der gesamte Raum eingesehen werden und dadurch die Gefahr einer unbemerkten Einflussnahme entstehen kann.[32] Es ist jedoch kaum ein Scenario vorstellbar, in dem sich diese Gefahr verwirklichen könnte. Der Verurteilte nimmt an der Videokonferenz aus der JVA teil. Außer ihm können sein Verteidiger, ein Dolmetscher und Bedienstete der JVA in dem Raum der Videoübertragung anwesend sein. Gründe dafür, dass diese Personen ein Interesse daran haben, auf das Ergebnis der Anhörung zu seinen Lasten Einfluss zu nehmen, sind nicht ersichtlich.

4. Zeitersparnis und Verfahrensbeschleunigung

Eine Befragung unter Richtern und Justizvollzugsanstalten, die Videokonferenztechnik im Rahmen des Strafvollstreckungsverfahrens bereits verwenden, hat ergeben, dass Richter im Durchschnitt eine geschätzte Zeitersparnis von nur 9,4 Minuten pro Verfahren haben.[33] Justizvollzugsanstalten schätzen hingegen ihre Zeitersparnis pro Verfahren auf durchschnittlich 62,9 Minuten.[34] Die Ausweitung der Videoanhörung entlastet daher insbesondere die Justizvollzugsanstalten. Eine deutliche Verfahrensbeschleunigung bei Gericht ist dagegen im Durchschnitt kaum zu erwarten, mit Ausnahme der Fälle, in denen die Anhörung aus Sicherheitsgründen in der JVA stattfindet.

5. Ausreichende Wahrung der Rechte des Verurteilten – der persönliche Eindruck

Das größte Problem bleibt aber weiterhin die Frage, ob eine Anhörung mittels Videokonferenztechnik geeignet ist, dem Gericht einen ebenso guten Eindruck vom Verurteilten zu verschaffen wie die Anhörung vor Ort.  An dieser Frage war die letzte Gesetzesinitiative im Jahre 2013 gescheitert.

Gemäß § 57 Abs. 1 S. 2 StGB ist bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung bei zeitiger Freiheitsstrafe insbesondere die Persönlichkeit des Verurteilten zu würdigen sowie sein Verhalten im Vollzug. Fraglich ist jedoch, ob dies im Wege einer Videoübertragung aus dem Vollzug heraus angemessen beurteilt werden kann. Denkbar ist etwa, dass der Verurteilte aus dem Vollzug heraus das Gefühl hat, nicht so frei über seine Persönlichkeit und seine Erfahrungen im Vollzug sprechen zu können, wie ihm dies im Gericht – auf „neutralem Boden“ – möglich ist. Aktuell kann allerdings kaum abgeschätzt werden, welche psychologischen Auswirkungen eine Anhörung mittels Videoübertragung auf den Verurteilten und ggf. auch auf das Gericht hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Beteiligten sich vor dem Bildschirm anders verhalten oder ihr Gegenüber anders wahrnehmen als bei einem persönlichen Kontakt. Letztlich wird sich dies jedoch erst in der täglichen Praxis zeigen. Eine Befragung unter Richterinnen und Richtern, die bereits Anhörungen mittels Videokonferenztechnik durchgeführt haben, hat ergeben, dass 64% meinen, nicht den gleichen Eindruck von ihrem Gegenüber zu gewinnen wie bei einer Anhörung vor Ort.[35] 31% der Befragten geben an, das Gefühl zu haben, sie hätten nach einer Videokonferenz nicht alle erwarteten Informationen bekommen und hätten zudem Probleme gehabt, den Redner zu unterbrechen. 50% sind sogar der Ansicht, dass sich Gefangene bei der Anhörung mittels Videokonferenz anders verhielten als bei einer persönlichen Anwesenheit.[36]

Aber auch die Übertragung der Mimik und Gestik wird als Problem gesehen. So geben 63% der befragten Richterinnen und Richtern an, Hautrötungen der übertragenen Person nicht erkennen zu können.[37] Eichinger, der die Befragung durchgeführt hat, äußerte Bedenken, ob unter diesen Umständen und im Hinblick auf die oft kleine Bildschirmgröße eine angemessene Beurteilung der Mimik und Gestik des Gegenübers möglich ist.[38] Gerade diese Merkmale tragen jedoch oft wesentlich zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer Person bei.

VII. Reaktionen auf den Gesetzentwurf

1. Stellungnahme der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme, die dem Gesetzentwurf als Anlage 2 beigefügt ist, dem konkreten Regelungsvorschlag nichtzugestimmt. Sie moniert insbesondere, dass der Entwurf nicht nach dem Gewicht der jeweiligen gerichtlichen Entscheidung differenziere und auch kein Rahmen bestimmt werde, der garantiere, dass die Anhörung ihrer rechtsstaatlichen Funktion gerecht wird.[39] Der Idee einer Anhörung mittels Videoübertragung im Strafvollstreckungsverfahren ist die Bundesregierung aber offensichtlich nicht grundsätzlich abgeneigt. So kündigte sie an, einen eigenen Gesetzesentwurf in das Parlament einbringen zu wollen, der den Einsatz von Videokonferenztechnik im Strafvollstreckungsverfahren erweitert.[40]

2. Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer

Die Bundesrechtsanwaltskammer spricht von einem „akzeptablen Kompromiss“ mit Blick auf die SARS-CoV-2-Pandemie und vergleichbaren Herausforderungen.[41] Sie begrüßt insbesondere die ausdrückliche Normierung des Widerspruchsrechts. Voraussetzung sei allerdings, dass eine effektive technische Umsetzung sichergestellt werde, die es dem Gericht ermögliche, einen unmittelbaren persönlichen Eindruck vom Verurteilten zu gewinnen.[42] Dies erfordere vor allem eine klare Bild- und Tonübertragung ohne Unterbrechungen. Nur wenn die Qualität der Übertragung so gut sei, dass sich Bild und Ton für alle Beteiligten so darstellen, als säße man in einem Raum, sei eine videokonferenztechnische Übertragung akzeptabel.

Die Bundesrechtsanwaltskammer fordert jedoch eine Re-evaluierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik nach etwa einem Jahr, da aktuell insbesondere der Einfluss auf das subjektive Empfinden der Beteiligten nicht angemessen beurteilt werden könne.[43]

Als allgemein unproblematisch wird die Möglichkeit der Anhörung eines Sachverständigen im Wege der Videoübertragung angesehen, da es hier nicht im gleichen Maße auf den persönlichen Eindruck ankomme.[44]

VIII. Fazit

Auch wenn in Zeiten einer globalen Pandemie der vermehrte Einsatz von Videokonferenztechnik im Strafvollstreckungsverfahren durchaus erstrebenswert ist und auch die Argumente der Zeit- und Kostenersparnis nicht von der Hand zu weisen sind, will wohl überlegt sein, ob Anhörungen im Vollstreckungsverfahren unter dem Einsatz von Videokonferenztechnik so weitgehend, wie beabsichtigt, ermöglicht werden sollen. Zunächst muss sicher sein, dass die Digitalisierung bereits einen Stand erreicht hat, die eine Wahrung der Verfahrensrechte des Verurteilten garantieren kann.

Allgemein begrüßenswert ist die im Gesetzentwurf eingebaute Widerspruchsmöglichkeit des Verurteilten, da ihm so das Recht der persönlichen Anhörung vor Ort in jedem Fall nicht genommen wird. Es bleibt aber fraglich, ob diese Widerspruchsmöglichkeit ausreicht, um die Verfahrensrechte des Verurteilten zu garantieren. Da bereits jetzt von den Verurteilten kaum auf das Angebot der Anhörung mittels Videokonferenz eingegangen wird, werden sie auf die Möglichkeit, keine Videokonferenz durchzuführen, möglicherweise ebenfalls nicht reagieren oder in jedem Fall widersprechen.

Letztendlich wird der Erfolg des Gesetzentwurfs im Wesentlichen von der Frage abhängen, ob es dem Verurteilten über eine Videoübertragung gelingt, denselben Eindruck wie bei einer persönlichen Anhörung zu hinterlassen. Dies ist wiederum zum Teil davon abhängig, ob bei allen Beteiligten die technischen Voraussetzungen vorliegen, die für eine qualitativ hochwertige Videoübertragung erforderlich sind.

Im Rahmen der empirischen Studie von Eichinger haben nur 25% der befragten Richter angegeben, den Einsatz von Videokonferenztechnik in der Strafvollstreckung zu befürworten. 51% der Befragten befürworten die Nutzung ausdrücklich nicht.[45] Da die Umfrage bereits mehrere Jahre zurückliegt, hat sich diese Tendenz aufgrund des technischen Fortschritts und insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Pandemie allerdings möglichweise geändert.

Aus hiesiger Sicht bietet der Gesetzentwurf des Bundesrates zahlreiche Vorteile und insbesondere die Möglichkeit, die Digitalisierung in der Justiz voranzutreiben. Sobald bundesweit die technischen Voraussetzungen für eine sichere und qualitativ hochwertige Videokonferenz mit allen Beteiligten vorliegen (was von hier aus nicht umfassend beurteilt werden kann), wird eine entsprechende Gesetzesänderung grundsätzlich befürwortet. Insbesondere die eingebaute Widerspruchslösung erscheint ein guter Kompromiss, um Verurteilten, die befürchten ihren Standpunkt über digitale Medien nicht ausreichend darlegen zu können oder anders wahrgenommen zu werden, weiterhin die Anhörung unter Anwesenheit der Beteiligten vor Ort zu ermöglichen. Im Hinblick auf die geäußerten und durchaus nachvollziehbaren Bedenken, wonach das subjektive Empfinden und die Wahrnehmung der Beteiligten durch die Anhörung mittels Videokonferenztechnik beeinflusst werden könnte, wird der Vorschlag der Bundesrechtsanwaltskammer einer Re-evaluierung nach einem Jahr befürwortet. Da es allerdings nach einer Änderung der StPO schwierig sein dürfte, die Änderung wieder rückgängig zu machen, könnte ein langfristig angelegtes Pilotprojekt die Lösung sein. In einem solchen könnte an mehreren Gerichten über einen Zeitraum von etwa einem Jahr Videokonferenztechnik bei Anhörungen gemäß § 453 Abs. 1 S. 3 StPO und § 454 Abs. 1 S. 3 StPO – wann immer möglich – eingesetzt werden. Ohne den Praxistest wird kaum zu beurteilen sein, inwieweit sich die persönlichen Empfindungen der Beteiligten durch den Einsatz von Videokonferenztechnik ändern.

Spannend bleibt auch die Frage, welchen Alternativvorschlag die Bundesregierung vorlegen wird. Dass sie aber einen besseren Weg findet, der garantiert, dass Verurteilte bei Anhörungen mittels Videokonferenztechnik dem Gericht einen der Anhörung vor Ort vergleichbaren persönlichen Eindruck vermitteln können, ist kaum vorstellbar.

Allgemein kommt die neue Gesetzesinitiative in einer Zeit, die kaum günstiger sein könnte. Ob die aktuelle Digitalisierungseuphorie ausreicht, um dem Gesetzentwurf zum Erfolg zu verhelfen, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sollten bleibende Rechtsänderungen nicht voreilig verabschiedet, sondern unabhängig von der aktuell andauernden Pandemie bewertet werden.

 

 

*      Die Verfasserin ist Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Göttingen und dort in der Abteilung für Wirtschafts- und Umweltstrafsachen tätig. Dieser Beitrag gibt ausschließlich die private Auffassung der Verfasserin wieder und ist nicht dienstlich veranlasst.

[1]      Vgl. etwa das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.4.2013, BGBl. I, S. 935.
[2]      Siehe hierzu etwa Rau, in: Schmidt, COVID-19, 2. Aufl. (2020), § 19 Straf- und Strafprozessrecht, Rn. 88; Kaltenbach, COVuR 2020, 230.
[3]      BT-Drs. 19/21612 = BR-Drs. 278/20.
[4]      BT-Drs. 19/21612, S. 7.
[5]      A.a.O.
[6]      A.a.O.
[7]      Coen, in: BeckOK-StPO, 37. Ed. (1.7.2020), § 453 Rn. 5.
[8]      OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.12.2008 – 1 Ws 212/08, BeckRS 2009, 5937.
[9]      OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.11.1995 – 4 Ws 267/95 = NStZ 1996, 152, zum Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB: „Der Verteidiger hat […] das rechtliche Gehör zu erweisen“.
[10]    KG Berlin, Beschl. v. 29.5.2015 – 2 Ws 118/15 = NStZ-RR 2016, 30 (31).
[11]    Bei der mündlichen Anhörung nach § 454 Abs. 1 S. 3 StPO sieht der geltende Satz 4 Ausnahmen vor. Zudem ist ein Absehen beispielsweise auch dann möglich, wenn der Strafgefangene sein Anhörungsrecht missbraucht (Ganter, in: BeckOK-Strafvollzug Bund, 18. Ed. [1.8.2020], StPO, § 454 Rn. 40 mit weiteren Beispielen).
[12]    Pflieger/Meier, in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. (2017), § 453 Rn. 2: „Der Antrag des Verurteilten auf mündliche Anhörung muss beschieden werden“.
[13]    Appl, in: KK-StPO, 8. Aufl. (2019), § 454 Rn. 17a.
[14]    Ganter, in: BeckOK-Strafvollzug Bund, StPO, § 454 Rn. 35.
[15]    Heintschel-Heinegg, in: BeckOK-StGB, 48. Ed. (1.11.2020), § 56f Rn. 25 m.w.N.
[16]    BT-Drs. 17/1224.
[17]    BT-Drs. 17/12418, S 16 f.
[18]    A.a.O.
[19]    OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 31.8.2006 – 3 Ws 811/06 = NStZ-RR 2006, 357.
[20]    BR-Drs. 278/20, S. 2.
[21]    vgl. BT-Drs. 19/21612, S. 7.
[22]    BT-Drs. 19/21612, S. 1.
[23]    BR-Drs. 278/20, S. 3.
[24]    Rebehn, DRiZ 2021, 8 ff.
[25]    Rebehn, DRiZ 2021, 8 (8).
[26]    Rebehn, DRiZ 2021, 8 (9).
[27]    A.a.O.
[28]    A.a.O.
[29]    Eichinger, Videokonferenz in der Strafvollstreckung: Eine rechtliche und empirische Analyse, 2015, S. 182.
[30]    Eichinger, S. 182.
[31]    In Eichingers Studie berichteten einige Richter, dass sich der Verteidiger während der Anhörung bei Ihnen aufhält. Dies wird auch von Eichinger sehr kritisch beurteilt, da der vertrauliche Austausch zwischen Mandant und Verteidiger so besonders erschwert wird. Vgl. Eichinger, S. 191.
[32]    Vgl. Eichinger, S. 182.
[33]    Eichinger, S. 203.
[34]    A.a.O.
[35]    Eichinger, S. 182.
[36]    A.a.O.
[37]    Eichinger, S. 184.
[38]    A.a.O.
[39]    BT-Drs. 19/21612, S. 12.
[40]    A.a.O.
[41]    Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 70/2020 zum Gesetzentwurf einer gesetzlichen Regelung zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Strafvollstreckungsverfahren, November 2020, S. 3, abrufbar unter: https://brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2020/november/stellungnahme-der-brak-2020-70.pdf. S. 3 (zuletzt abgerufen am 21.1.2021).
[42]    A.a.O., S. 3.
[43]    A.a.O., S. 5.
[44]    A.a.O., S. 4.
[45]    Eichinger, S. 146.

 

 

 

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