vorgelegt von Mitgliedern des Kriminalpolitischen Kreises
Der Kriminalpolitische Kreis (KriK) besteht seit 2017. Er setzt sich aus 35 deutschen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern für Strafrecht und Kriminologie zusammen, die besonders an der Reform des Straf- und Strafverfahrensrechts interessiert sind. Näheres über den KriK findet sich auf der Website www.kriminalpolitischerkreis.de.
In dem vorliegenden Papier haben die Mitglieder des KriK die Themen zusammengestellt, die nach ihrer Auffassung für eine Behandlung in der beginnenden Legislaturperiode wichtig sind.
In einer „A-Liste“ sind die Aufgaben aufgeführt, die dem Kreis mehrheitlich als besonders vordringlich erscheinen; eine „B-Liste“ enthält weitere Themen, bei denen Reformbedarf besteht, die aber auch längerfristig angegangen werden können. Die Reihenfolge innerhalb der Listen soll keine Priorisierung zum Ausdruck bringen.
I. Vordringliche Reformaufgaben („A-Liste“)
1. Entschlackung des Strafgesetzbuchs
Das Strafgesetzbuch enthält eine Reihe von Tatbeständen, deren Ziele ebenso gut ohne den Einsatz des Strafrechts erfüllt werden können. In manchen Fällen verschärft die bestehende Inkriminierung sogar das soziale Problem, das die Strafvorschrift zu lösen versucht. Im Sinne des Grundsatzes, dass Strafrecht nur als ultima ratio zum Einsatz kommen soll, empfehlen wir die Streichung, Einschränkung oder kritische Überprüfung solcher Strafnormen. Die Entbehrlichkeit oder zumindest Diskussionsbedürftigkeit von Straftatbeständen lässt sich mit verschiedenen Überlegungen begründen:
a) Paternalistische Strafvorschriften
Der Staat sollte verantwortungsfähige Personen nicht durch Strafvorschriften „zu ihrem Glück zwingen“, indem er ihnen potentiell gesundheitsgefährliche, aber nicht lebensgefährliche Handlungen verbietet, deren Risiken sie selbst überschauen können. Unter diesem Aspekt sollte die Strafbarkeit des Gebrauchs und des Besitzes von Cannabis-Produkten zum Eigengebrauch (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) überdacht werden. Über die Schädlichkeit anhaltenden Gebrauchs von Cannabis für die Gesundheit bei Erwachsenen bestehen unterschiedliche Auffassungen. Ebenso wie bei den „legalen Drogen“ Alkohol und Nikotin sollte man die Entscheidung über den Gebrauch jedoch den Nutzern (ab einer festzulegenden Altersgrenze) überlassen. Dafür spricht auch, dass die beschränkten Ressourcen zur Verfolgung des alltäglichen Cannabis-Gebrauchs nur eine punktuelle, unter Gleichheitsgesichtspunkten problematische Ahndung zulassen. Außerdem bedeutet die in diesem Bereich übliche schematische Einstellung des Verfahrens eine Verschwendung von polizeilichen Ressourcen. Durch eine regulierte Freigabe der Nutzung von Cannabis könnten schließlich auch dem illegalen Drogenhandel Gewinne entzogen und Steuereinnahmen für den Staat generiert werden.
b) Bagatellarische Verstöße gegen Strafnormen
Manche Verhaltensweisen fallen unter bestehende Strafnormen wie Diebstahl oder Betrug, liegen aber am unteren Rand des von diesen Vorschriften erfassten Unrechts. Verschiedentlich werden nicht strafbedürftige Fälle durch die Staatsanwaltschaften nach den Ermessensnormen des Strafverfahrensrechts (§§ 153, 153a StPO) eingestellt. Da hierfür keine bundesweit einheitlichen Maßstäbe bestehen, kann diese Praxis jedoch zu einer Ungleichbehandlung ähnlicher Fälle führen. Der Gesetzgeber sollte daher erwägen, für bestimmte in der Öffentlichkeit diskutierte Fallgestaltungen von Bagatellverstößen materiellrechtliche Regelungen der Strafbefreiung zu schaffen.
Ein Beispiel hierfür ist die Benutzung von Verkehrsmitteln des ÖPNV, ohne den Fahrpreis zu entrichten. Dieses Verhalten soll nach herrschender Auffassung nach § 265a StGB strafbar sein, obwohl es vom Wortlaut („Erschleichen“) der Vorschrift eigentlich nicht erfasst ist. In kriminalpolitischer Hinsicht fragt sich, ob das Verhalten von „Schwarzfahrern“ tatsächlich so schweres Unrecht verwirklicht, dass der Einsatz des Strafrechts notwendig ist. Die Strafbarkeit kann dazu führen, dass vermögenslose Personen wegen wiederholter „Beförderungserschleichung“ im Strafvollzug landen. Es sollte also erwogen werden, die Ahndung auf das Zivilrecht und/oder das Ordnungswidrigkeitenrecht zu beschränken; auch dadurch wäre eine hinreichende generalpräventive Wirkung gewährleistet.
Ein weiteres Beispiel für bloß bagatellarisches Unrecht ist das „Containern“ von entsorgten Lebensmitteln. Das Entnehmen weggeworfener Lebensmittel aus Müllcontainern, die auf dem Grundstück von Supermärkten stehen, wird als Diebstahl bestraft. Unrecht und Schuld sind bei diesen Taten jedoch häufig gering, zumal die Täter das grundsätzlich sozial anerkennenswerte Ziel der „Rettung“ noch verwendbarer Lebensmittel verfolgen. Hier wäre zu überlegen, ob sich das Sachproblem durch außerstrafrechtliche Maßnahmen, etwa eine Verpflichtung der Supermarktbetreiber zur Weitergabe noch verwendbarer Lebensmittel an gemeinnützige Einrichtungen, entschärfen ließe.
c) Redundante Strafnormen
Manche Strafvorschriften sind überflüssig, da das in ihnen vertypte Unrecht bereits durch andere Strafnormen hinreichend erfasst wird. Ein Beispiel hierfür ist der Sondertatbestand des „Räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer“ (§ 316a StGB). Dieser auf das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen aus dem Jahr 1938 zurückgehende Tatbestand dehnt die Strafbarkeit von Raub und Räuberischer Erpressung in bestimmten Situationen weit in das Vorfeld des eigentlichen Rechtsgutsangriffs aus und sieht zudem eine sehr hohe Strafdrohung vor. Die strafbedürftigen Fälle von räuberischen Angriffen auf Kraftfahrer sind jedoch schon als Versuche der jeweiligen Eigentums- und Vermögensstraftaten unter Strafe gestellt, und die Ausnutzung der besonderen Empfindlichkeit des Opfers im Straßenverkehr kann dort bei der Strafzumessung hinreichend berücksichtigt werden. Eines Sondertatbestandes bedarf es daher nicht.
d) Überholte Moralvorstellungen
Auch nach der grundlegenden Reform der Sexualdelikte und deren Fokussierung auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung finden sich vereinzelt noch Relikte aus dem früheren moralbezogenen Sexualstrafrecht. Hierzu gehört die Strafbarkeit des Geschwisterinzests unter konsentierenden Erwachsenen nach § 173 Abs. 2 S. 2 StGB. Durch diese Vorschrift wird die sexuelle Selbstbestimmung der Beteiligten eingeschränkt, ohne dass sich hierfür ein beachtliches legitimes Schutzgut außer einem unbestimmten Gefühl der „Ungehörigkeit“ solcher sexueller Beziehungen nennen ließe. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 120, 224) das kriminalpolitische Ermessen des Gesetzgebers respektiert und deshalb eine Verfassungswidrigkeit verneint; dieses Ermessen umfasst aber natürlich auch die Möglichkeit des Gesetzgebers, eine überholte Strafvorschrift abzuschaffen.
2. Reform der Tötungsdelikte
a) Mordtatbestand (§ 211 StGB)
Es besteht seit langem Einigkeit, dass der Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) wegen seiner nicht mehr zeitgemäßen, in sich inkonsistenten Voraussetzungen und seiner starren Rechtsfolge kriminalpolitisch verfehlt ist. Die bisherigen Anläufe zu einer rechtlichen Neugestaltung der vorsätzlichen Tötungsdelikte sind vornehmlich aus politischen Gründen gescheitert, nicht an kriminalpolitisch-dogmatischen Erwägungen. Daher sollte versucht werden, eine sinnvolle Systematik einfacher und besonders schwerer Fälle der vorsätzlichen Tötung mit flexibler Rechtsfolgeregelung zu schaffen.
b) Sterbehilfe
Die Aufhebung von § 217 StGB a.F. durch das Bundesverfassungsgericht sollte Anlass dazu geben, den Gesamtbereich der Sterbehilfe konsistent und rechtssicher gesetzlich zu regeln. Dabei sollte nicht auf die überholten Vorschläge zu einer Inkriminierung der Suizidunterstützung zurückgegriffen, sondern die gesamte Materie der einverständlichen Lebensbeendigung im Sinne der autonomen Entscheidung jedes Menschen über den eigenen Tod neu durchdacht werden.
3. Reformen des Sanktionenrechts
Das Recht der strafrechtlichen Sanktionen sollte insgesamt unter den Gesichtspunkten der inneren Stimmigkeit und der empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit überprüft werden. Insbesondere geht es um folgende Bereiche:
a) Zurückdrängung der Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB)
Personen, die wegen der Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, machen einen nicht unerheblichen Anteil der Gefängnispopulation aus. Dies ist aus kriminalpolitischer Sicht zu bedauern, da die Gerichte für diese Personen eine Freiheitsstrafe nicht als notwendig angesehen hatten. Auch entstehen dem Staat durch die Ersatzfreiheitsstrafe erhebliche Kosten. Der Gesetzgeber sollte prüfen, in welchem Umfang Ersatzfreiheitsstrafen durch die energischere Beitreibung von Geldstrafen und durch effektivere Angebote gemeinnütziger Arbeit anstelle der Geldstrafe vermieden werden können. Empirische Studien zeigen, dass sich die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen durch organisatorische Maßnahmen und das Engagement der beteiligten Personen (z.B. Rechtspfleger, Sozialarbeiter) reduzieren lässt.
b) Harmonisierung der Strafzumessungsentscheidungen
Empirische Untersuchungen belegen große und rational nicht erklärbare Unterschiede zwischen einzelnen Strafgerichten bei der Strafzumessung in vergleichbaren Fällen. Solche Unterschiede sind mit der Revision kaum angreifbar. Ungleichbehandlungen bei der Strafzumessung stellen aber nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem dar; sie schaden auch der öffentlichen Wahrnehmung der Justiz. Mögliche Schritte zu einer konsistenteren Strafzumessungspraxis sind (1) die Einrichtung einer bundesweiten Datenbank, in die Strafzumessungsentscheidungen eingestellt werden und die von den Gerichten in Zweifelsfällen als Entscheidungshilfe benutzt werden kann sowie (2) die Einrichtung einer Strafzumessungskommission, die Informationen sammelt, Vorschläge für Strafzumessungsfaktoren und deren Gewichtung erarbeitet und die Grundsätze der Strafzumessung auch gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert.
c) Sanktionen für Verbände
Personenverbände können bei strafbarem Verhalten ihrer Organe und Entscheidungsträger nach geltendem Recht nur mit Geldbußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht sanktioniert werden. Studien belegen zudem eine deutschlandweit uneinheitliche Anwendung des Ordnungswidrigkeitenrechts. Dieser Zustand ist unbefriedigend und entspricht nicht dem derzeitigen europäischen Standard. Ein Vorschlag für die Einführung eines Verbandssanktionengesetzes ist in der abgelaufenen Legislaturperiode gescheitert. Es sollte ein neuer Anlauf zur Entwicklung eines schlüssigen Konzepts eines Verbandssanktionenrechts unternommen werden; dabei kann der Gesetzgeber auf zahlreiche Vorarbeiten aus der Wissenschaft zurückgreifen.
4. Reformen im Strafverfahrensrecht
In der abgelaufenen Legislaturperiode hat der Gesetzgeber verschiedene Änderungen im Strafverfahrensrecht vorgenommen, die den zügigen Ablauf des Prozesses erleichtern sollten. In dieser Legislaturperiode sollte die Modernisierung des Strafprozesses im Zeitalter der Digitalisierung durch zwei weitere miteinander verbundene Reformen vorangebracht werden.
a) Audiovisuelle Aufnahme der Hauptverhandlung
Zumindest für die Hauptverhandlung vor dem Landgericht sollte die Bild-Ton-Aufnahme der gesamten Hauptverhandlung verpflichtend vorgesehen werden. Dies hätte, insbesondere für längere Verhandlungen, zwei wesentliche Vorteile: Das Gericht könnte sich bei der Urteilsberatung einzelne Passagen der Hauptverhandlung mit Hilfe der Aufzeichnung ins Gedächtnis rufen und wäre nicht mehr auf private Notizen der Richter*innen angewiesen; und für die Rechtsmittelinstanz ließen sich sowohl die Verfahrensabläufe als auch der Inhalt von Zeugenaussagen authentisch und vollständig überprüfen. Der Kriminalpolitische Kreis hat hierzu bereits einen Vorschlag unterbreitet (https://kriminalpolitischer-kreis.de/stellungnahmen/stellungnahme-des-krik-zur-einfuehrung-einer-bild-ton-aufzeichnung-der-hauptverhandlung-in-strafsachen/).
b) Erweiterung der Überprüfung der Tatsachenfeststellungen in der Revisionsinstanz
Nach § 337 StPO können mit der Revision nur Gesetzesverletzungen gerügt werden; die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz kann der Revisionsführer nicht angreifen. Die Rechtsprechung hat zu diesem Grundsatz jedoch verschiedene, zum Teil inkonsistente Ausnahmen entwickelt. Solche Ausnahmen sollten im Gesetz systematisiert und ausformuliert werden, um Recht und Praxis wieder in Übereinstimmung zu bringen. Dabei sollte insbesondere auf die Frage eingegangen werden, in welchem Umfang die unter (a) genannten Video-Aufzeichnungen der Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz ausgewertet werden können oder müssen.
II. Weitere Reformanliegen (B-Liste)
1. Sexualstrafrecht
a) Kritische Revision des Sexualstrafrechts
Im Jahre 2016 hat der Gesetzgeber das deutsche Sexualstrafrecht grundlegend reformiert. An die Stelle des Nötigungsmodells ist die sogenannte „Nein heißt Nein“-Lösung getreten. Der neue Tatbestand „Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung“ in § 177 StGB hat in der praktischen Umsetzung erwartungsgemäß einige Fragen aufgeworfen. Umstritten ist etwa das Verständnis des „erkennbaren, entgegenstehenden Willen“, aber auch die Auslegung der Tathandlungen in § 177 Abs. 2-8 StGB, etwa der Gewaltbegriff in Abs. 5 oder die Reichweite unzulässiger Drohungen (Abs. 2 Nr. 5). Zudem sind die Qualifikationstatbestände in Abs. 7 bislang zu unscharf formuliert, so dass auch weniger strafwürdige Verhaltensweisen die hohe Mindeststrafandrohung nach sich ziehen. Bislang ungeklärt ist auch, wie das deutsche Sexualstrafrecht mit der Frage von Täuschungen umgehen soll, was sich etwa bei Fällen des „Stealthing“ als Problem erwiesen hat. Der Gesetzgeber sollte auf der Grundlage einer Evaluation der Anwendung des neuen Sexualstrafrechts die mit der Neukonzeption verbundenen Regelungsprobleme identifizieren und durch eine Überarbeitung der Bestimmungen beheben.
b) Prostitutionsstrafrecht
Die Reformkommission Sexualstrafrecht hat 2017 eine umfassende Neugestaltung des Prostitutionsstrafrechts vorgeschlagen. Dringender Reformbedarf besteht im Hinblick auf zahlreiche Wertungswidersprüche zu den Vorschriften über den Menschenhandel (§§ 232 ff. StGB) und zum Prostitutionsschutzgesetz. So bedarf es einerseits eines besseren Schutzes der Prostituierten vor verschiedenen Formen der Ausbeutung; andererseits dürfen Kontroll- und Compliancemaßnahmen, die Bordellbetreiber nach dem ProstSchG zu leisten haben, nicht strafbegründend im Rahmen der sog. dirigistischen Zuhälterei wirken. Zentrale Themen einer notwendigen Reform sind: Zwangsprostitution (einschließlich der Frage der Freierstrafbarkeit), Ausbeutung von Prostituierten, unzulässige Weisungen und Kontrollmaßnahmen, Jugendschutz und Entkriminalisierung der §§ 184f, 184g StGB.
2. Reform des Tierschutzstrafrechts
Verschiedene empirische Studien zeigen ein erhebliches Anwendungsdefizit des Tierschutzstrafrechts insbesondere im Bereich der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung. § 17 TierSchG stellt an die Strafbarkeit von Tiertötung und Tierquälerei hohe Anforderungen, die in der Praxis nur schwer nachweisbar sind. Der Gesetzgeber sollte im Interesse eines wirksameren Schutzes von Tieren und in Erfüllung seines Auftrages aus Art. 20a GG das Tierschutzstrafrecht grundlegend überarbeiten.
3. Medizinstrafrecht
a) Neuregelung der eigenmächtigen ärztlichen Heilbehandlung
Nach der Rechtsprechung begehen Ärzte eine vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB), wenn sie (auch: erfolgreiche) Heileingriffe vornehmen, die nicht von einer wirksamen Einwilligung des Patienten gedeckt sind. Das in solchen Fällen betroffene Rechtsgut ist aber nicht die körperliche Unversehrtheit des Patienten, sondern seine Autonomie. Daher sollte die Frage in einer eigenen Vorschrift geregelt werden. Der Kriminalpolitische Kreis hat dafür bereits einen Vorschlag entwickelt (medstra 2021, 65).
b) Schutz des ungeborenen Lebens vor Verletzungen mit postnatalen gesundheitlichen Folgen
Verletzungen, die einem ungeborenen Kind im Mutterleib vorsätzlich oder fahrlässig zugefügt werden und die nach der Geburt zu gesundheitlichen Schäden des Kindes führen, sind nach der Rechtsprechung des BGH nicht strafbar. Diese erhebliche Schutzlücke (man denke etwa an den Contergan-Fall) sollte durch den Gesetzgeber geschlossen werden.
c) Neuregelung der strafrechtlichen Aspekte der Fortpflanzungsmedizin, z.B. Entkriminalisierung der Leihmutterschaft
Die gesetzliche Regelung der Fortpflanzungsmedizin entspricht nicht mehr den aktuellen Möglichkeiten der Medizin und den ethischen Überzeugungen der Gesellschaft. Der Gesetzgeber sollte insbesondere die Strafbarkeit der Eizellspende und der Leihmutterschaft aufheben und zeitgemäße verfahrensrechtliche und familienrechtliche Vorgaben machen, um das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Mütter zu schützen.
4. Neuregelung der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB)
Bezüglich des Tatbestandes der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) sollte geprüft werden, ob es sich empfiehlt, für besonders schwere Fälle (grobe Fahrlässigkeit, Tötung mehrerer Opfer) die bisherige Strafobergrenze von 5 Jahren Freiheitsstrafe anzuheben.
5. Anpassung des Strafrechts an die Herausforderungen der Digitalisierung
a) Erarbeitung eines übergreifenden Konzepts für das Datenschutz- und IT-Strafrecht
Die Digitalisierung stellt auch das Strafrecht vor neue Herausforderungen. In der Vergangenheit sind Änderungen im Datenschutz- und IT-Strafrecht vorgenommen worden, die allerdings mitunter zusammenhanglos nebeneinander stehen. Insoweit empfiehlt sich die Erarbeitung eines übergreifenden Konzepts dieser Deliktsbereiche.
b) Verwendung von Deep Fakes zur Täuschung im Geschäftsverkehr oder als Mittel der außenpolitischen Einflussnahme sowie Straftaten mit digitalen Währungen
Für einen großen Bereich an strafbedürftigen Verhaltensweisen, die im Zeitalter der Digitalisierung auftreten, liegen bisher noch keine gesetzlichen Regelungen vor. Dies betrifft beispielhaft die Verwendung von Deep Fakes etwa zur Täuschung im Rechtsverkehr oder als Mittel der außenpolitischen Einflussnahme. Die damit einhergehenden Risiken sind enorm, weshalb ein Schweigen des Gesetzgebers hierzu schwerwiegende Folgen haben kann. Ähnlich verhält es sich teilweise in Bezug auf Kryptowährungen wie Bitcoin. Hier erscheint es zum Beispiel ratsam, Modifikationen in bestehenden Vorschriften wie etwa dem Geldwäschetatbestand (§ 261 StGB) vorzunehmen, um die Erfassung des Umgangs mit solchen Währungen zu ermöglichen.
c) Einführung eines Gefährdungstatbestandes für KI-Systeme
Die Regulierung von KI-Technologie steht seit Längerem auf den nationalen und europäischen Agenda. Das Strafrecht ist hierbei indessen bislang nicht in den Fokus gerückt. Dies erweist sich angesichts der Herausforderungen als problematisch, die KI-Technologie an strafrechtliche Kategorien wie den Verantwortungsbegriff stellt. So kann der Black Box-Charakter von KI-Systemen eine Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu einzelnen Personen unmöglich machen. Da aber das Inverkehrbringen entsprechender Systeme erhebliche Risiken für die Allgemeinheit mit sich bringen kann, ist über eine Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes – etwa in Gestalt eines neuen Gefährdungstatbestandes – nachzudenken.
d) Konsolidierung der Vorschriften zur Bekämpfung von digitalem Hass
Die Verbreitung von digitalem Hass wirft im Zeitalter der Digitalisierung Fragen auf, die durch die bestehenden verstreuten Straftatbestände nicht befriedigend beantwortet werden, auch nachdem zuletzt im Bereich der Beleidigungstatbestände (§§ 185 ff. StGB) punktuelle Änderungen vorgenommen worden sind. Es wäre daher sinnvoll, das Phänomen der digitalen Verbreitung von Hass insgesamt zu untersuchen und spezifische Strafvorschriften zu deren Bekämpfung zu schaffen.
6. Strafverfahrensrecht
a) Prozessuale Folgen rechtswidriger Tatprovokation
Die deutsche Rechtsprechung hat Schwierigkeiten damit, Fälle zu beurteilen, in denen ein staatliches Organ oder eine staatlicherseits beauftragte Person übermäßigen Druck auf eine Zielperson ausgeübt hat, um diese zur Begehung einer Straftat zu veranlassen und sie so überführen zu können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt in solchen Fällen ein umfassendes Beweisverwertungsverbot, das aber möglicherweise nicht zu den deutschen Verfahrensprinzipien passt. Es empfiehlt sich daher eine rechtsstaatlich saubere gesetzliche Regelung der Materie.
b) Zeugnisverweigerungsrechte
Das im Laufe der Zeit immer wieder punktuell veränderte Recht der Zeugnisverweigerungsrechte (§§ 52-53a StPO) sollte insgesamt überprüft und systematisch neu geordnet werden. Besonders dringlich ist die Neu-Regelung eines Zeugnisverweigerungsrechts für empirisch forschende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, da diese das Vertrauen von Probanden nicht in Anspruch nehmen können, wenn damit gerechnet werden muss, dass alle Informationen letztlich in einem Strafverfahren gegen die Probanden offenbart werden müssen. Auch für Personen, die als Vermittler in Täter-Opfer-Ausgleichs-Verfahren (§§ 155a, 155b StPO) tätig werden, sollte die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts erwogen werden, um die nötige Vertraulichkeit des Verfahrens zu sichern.
7. Förderung evidenzbasierter Kriminalpolitik
Bereits der Koalitionsvertrag von 2017 enthielt die berechtigte Forderung nach evidenzbasierter Kriminalpolitik. Änderungen im Strafrecht, insbesondere die Schaffung oder Verschärfung von Straftatbeständen, sollten von kriminologischer Expertise begleitet und evaluiert werden.
Für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ist insbesondere die Verfügbarkeit einschlägiger Statistiken von entscheidender Bedeutung. Dem widerspricht es, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) seit 2020 nicht mehr als Jahrbuch herausgegeben wird. Diese Maßnahme sollte so bald wie möglich rückgängig gemacht werden. Außerdem sollten aussagekräftige Statistiken zur Strafzumessung veröffentlicht werden.