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Ein Alternativ- und Ergänzungsvorschlag zur Reform der Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten von Freigesprochenen

von Dr. Boris Bröckers

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Abstract
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der aktuellen Debatte um das „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ und der Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten von Freigesprochenen. Er spricht sich für eine Korrektur des Bundeszentralregistergesetzes (BZRG) aus und stellt zugleich eine Alternativreform für den Fall vor, dass das neue Wiederaufnahmerecht vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt wird.

The following article deals with the current debate on the „Act to Establish Material Justice“ and the reinstatement of criminal proceedings to the disadvantage of acquitted defendants. It argues for a correction of the Federal Central Register Act (BZRG) and at the same time presents an alternative reform in the event that the new right to reinstate proceedings is declared unconstitutional by the Federal Constitutional Court.

I. Einleitung

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 21. Dezember 2021 das „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten von Freigesprochenen – ausgefertigt. Jedoch äußerte er zeitgleich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung und regte an, das Gesetz erneut parlamentarisch zu prüfen. Dies gibt Anlass über Alternativen nachzudenken. Sollte das BVerfG die Bedenken des Bundespräsidenten teilen, dann könnte ein handwerklicher Fehler des Gesetzes den Ausgangspunkt für einen rechtspolitischen Kompromiss bilden. Doch auch wenn das neue Wiederaufnahmerecht einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten sollte, erscheint eine Anpassung des Bundeszentralregistergesetzes zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen erforderlich.

II. Handwerklicher Fehler: Übersehen von § 51 BZRG

Mit dem „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ hat der Gesetzgeber durch § 362 Nr. 5 StPO n.F. bezüglich bestimmter unverjährbarer Straftaten einen Wiederaufnahmegrund propter nova zuungunsten von Freigesprochenen geschaffen. Der Gesetzgeber hat es indes versäumt, dass Beweisverwertungsverbot gemäß § 51 BZRG einzuschränken. Künftig ist es der Strafjustiz daher erlaubt, die Rechtskraft von Freisprüchen zu durchbrechen, es bleibt ihr aber weiterhin verboten, möglicherweise entscheidende alte Beweismittel zu verwerten. Dies ist nicht nur inkonsistent und kann als ein handwerklicher Fehler bewertet werden, sondern deutet außerdem darauf hin, dass der Gesetzgeber zur Herstellung materieller Gerechtigkeit alternative gesetzliche Korrekturen, die zu keiner Beeinträchtigung von Rechtssicherheit führen, nicht in Erwägung gezogen hat.

III. Verfassungsrechtliche Bedenken

Mit der Reform will der Gesetzgeber das besondere Unrecht und den besonderen Inhalt derjenigen Straftatbestände verdeutlichen, die eine lebenslange Freiheitsstrafe androhen und nicht der Strafverfolgungsverjährung unterliegen. Im Kern begründet der Gesetzgeber das Gesetz mit einer an die Radbruchsche Formel angelehnten Argumentation, dass das „Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils – gemessen an der materiellen Gerechtigkeit – zu schlechterdings unerträglichen Ergebnissen führen würde.“[1] Genau diese unerträglichen Ergebnisse würden nun durch das neue Gesetz beseitigt. Wie auch bei vorangegangenen Gesetzesvorhaben steht das Schrifttum auch dieser Reform des Wiederaufnahmerechts kritisch gegenüber. Ob der neue § 362 Nr. 5 StPO sich noch innerhalb der Grenzen von Art. 103 Abs. 3 GG bewegt, ist hoch umstritten.[2] Die komplexe verfassungsrechtliche Diskussion soll hier nicht nachgezeichnet werden. Stattdessen wird diesbezüglich ein agnostischer Standpunkt eingenommen. Obgleich hier zu der verfassungsrechtlichen Frage keine Position eingenommen wird, kann man mit guten Gründen festhalten, dass die Bedenken des Bundespräsidenten keineswegs auf tönernen Füßen stehen.[3] Die hier unter anderem angestellten Überlegungen zu einer alternativen Reform sind daher nicht rein theoretischer Natur.

III. Neues Verfahren ohne alte Beweise?

Ausweislich des Gesetzesentwurfs soll das neue Recht insbesondere dann falsche Freisprüche korrigieren, wenn auf Grund des fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisstands zum Zeitpunkt des Freispruchs bestimmte Beweise – wie etwa eine DNA-Spur – nicht berücksichtigt werden konnten und nunmehr den eindeutigen Nachweis der Täterschaft erlauben.[4] Damit soll bei unverjährbaren Kriminalunrecht noch Jahrzehnte nach der Tatbegehung eine Durchbrechung des freisprechenden Urteils durch ein Zusammenspiel von alten und neuen Beweisen gelingen. Rechtfertigen diese in der Gesamtschau „dringende Gründe“ eine Täterschaft des Angeklagten, dann ist eine Wiederaufnahme von auch bereits vor Jahren oder Jahrzehnten abgeschlossenen Strafverfahren, denen naturgemäß noch länger zurückliegende Taten zugrunde liegen, noch möglich. Doch gerade bei der Aufklärung lang zurückliegender Tötungsdelikte verbietet § 51 BZRG nicht selten die Verwertung äußerst relevanter Beweismittel. Zur Veranschaulichung ein Beispiel, das auf einem wahren Sachverhalt beruht:[5]

Zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs tötet A 1984 die damals 30-jährige B. Im Jahre 1986 wird A deshalb wegen Mordes an B vor dem LG Berlin angeklagt und schließlich nach einem komplizierten Indizienprozess rechtskräftig freigesprochen. In der Folgezeit begeht er immer nach dem gleichen Muster (Tatort in Nähe des Leichenfunds, identische Vorgehensweise, vergleichbare Opfer usw.) mehrere schwere Sexualdelikte. Für diese wird er zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Aufgrund eines DNA-Treffers nimmt die Staatsanwaltschaft Berlin im Jahre 2022 die Ermittlungen gegen A gemäß § 362 Nr. 5 StPO wieder auf. Die Vorstrafen bezüglich der Sexualstraftaten des A, aus denen sich ein wichtiges Indiz für dessen Täterschaft ergibt, sind gemäß §§ 45 ff. BZRG inzwischen allesamt aus dem Bundeszentralregister getilgt.

Trotz des neuen Beweismittels – unterstellt der DNA-Treffer belegt nur die Anwesenheit des Beschuldigten am Tatort – [6] dürften die erforderlichen „dringenden Gründe“ nicht vorliegen, sodass die Voraussetzungen eines Wiederaufnahmeverfahrens gemäß § 362 Nr. 5 StPO n.F. nicht gegeben sind. Dies liegt daran, dass sämtliche im Zusammenhang mit den nachgewiesenen Sexualdelikten stehenden Beweismittel, die im Zusammenspiel mit der DNA-Analyse eine dichte Beweislage begründen würden, gemäß § 51 BZRG unverwertbar sind. Wären die aus der Begehung der Sexualstraftaten resultierenden Indiztatsachen verwertbar, dann lägen „dringende Gründe“ im Sinne des § 362 Nr. 5 StPO n.F. hingegen vor. Dies bedarf der Erläuterung.

1. Unverwertbare Beweise trotz der Verfolgung unverjährbarer Straftaten

§ 51 BZRG begründet ein umfassendes Vorhalte- und Verwertungsverbot und bildet damit eine gesetzliche Ausnahme von dem Grundsatz, dass grundsätzlich zur Wahrheitsermittlung alle Beweise ausgeschöpft werden dürfen und müssen. Der Gesetzgeber schränkt durch § 51 BZRG die Wahrheitsfindung zum Schutze des Verurteilten ein, um diesen nach der Löschung seiner Vorstrafen von dem Strafmakel und damit verbundenen Stigmatisierungen zu befreien sowie seine Resozialisierung zu fördern.[7] Um das Ziel des Gesetzes, verurteilte Personen nach dem Ablauf bestimmter Tilgungsfristen rechtlich wie unbestraft zu behandeln, tatsächlich zu verwirklichen, wurde § 51 BZRG in der Vergangenheit vom BGHweit ausgelegt.[8] Das Verwertungsverbot beinhaltet nicht nur das Verbot getilgte Vorstrafen im Rahmen der Strafzumessung gegen den Betroffenen zu berücksichtigen, sondern verbietet auch eine Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung und zwar sowohl die Verwertung als belastendes Indiz für eine dem Angeklagten nachteilige Würdigung seiner Persönlichkeit als auch für die indizielle Verwertung im Rahmen der Schuldfrage.[9] Es soll dem Verurteilten jeglichen Nachteil aus getilgten oder tilgungsreifen Strafen samt den ihnen zugrunde liegenden Taten ersparen und schneidet hierfür – wie es der BGH in seiner Grundsatzentscheidung formulierte – „aus dem Bereich des tatsächlich Bestehenden einen Teil heraus, der bei der Beurteilung anderer Lebenssachverhalte jeder Würdigung – auch durch die Gerichte – verschlossen sein soll.“[10] Bereits die vorbehaltlose Erwähnung der früheren Verurteilung in der Hauptverhandlung oder in den Urteilsgründen stellt nach Auffassung des BGH daher einen unzulässigen Vorhalt und daher einen Verstoß gegen § 51 Abs. 1 BZRG dar.[11] § 51 BZRG kennt anders als der neue § 362 Nr. 5 StPO auch keine deliktsbezogenen Ausnahmen für solche Tatbestände, die als unverjährbares Unrecht eine lebenslange Freiheitsstrafe anordnen. § 52 BZRG enthält zwar Ausnahmen zu dem Beweisverwertungsverbot. Aber nur für bestimmte Sonderkonstellationen, wie etwa falls die Umstände der früheren Tat für die Beurteilung der Schuldfähigkeit oder Gefährlichkeit der betroffenen Person von Bedeutung sind (§ 52 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Auch die Regelung gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO will nur das vollständige Leerlaufen des Wiederaufnahmerechts vermeiden und bezieht sich nur auf die Straftat, bezüglich der ein Wiederaufnahmeverfahren betrieben wird und eröffnet nicht die Verwertbarkeit von Beweisen, die anderen rechtskräftigen Verurteilungen zugrunde lagen. Kurzum: Auch in einem Strafverfahren, in dem der Vorwurf eines Mordes im Raum steht, dürfen – weder im klassischen „ersten“ Strafverfahren noch in einem Wiederaufnahmeverfahren – zur Sachaufklärung Beweise verwertet werden, die aus Vorverurteilungen resultieren, die nach den Vorgaben des Bundeszentralregisters tilgungsreif sind. Festzuhalten bleibt daher: Mord verjährt nicht, aber es „verjähren“ bestimmte Beweise, die den Mörder überführen könnten.

2. Kein logischer Widerspruch, aber inkonsistent!

Dies ist aus rechtsdogmatischer Sicht kein logischer Widerspruch, da § 51 BZRG funktional eine andere Schutzrichtung als das Prinzip der Rechtskraft aufweist, lässt aber aus einer kriminalpolitischen Perspektive den Eindruck entstehen, der Gesetzgeber würde mit einem legislativen Fuß auf das Gaspedal der Wiederaufnahme treten, während er mit dem anderen Fuß bei der Verwertbarkeit von Beweisen weiterhin auf der Bremse steht: Der Strafjustiz wird bei unverjährbaren Straftaten noch Jahrzehnte nach dem freisprechenden Urteil eine grundrechtsintensive Durchbrechung der Rechtskraft des Freispruchs erlaubt, aber ihr bleibt – selbst wenn noch nie ein freisprechendes Strafurteil gefällt wurde – die Verwertung wichtiger Beweise aus älteren anderen Strafverfahren schlechterdings verboten? Weder die Gesetzesmaterialien noch die vom Bundestag eingeholten Gutachten der Sachverständigen deuten auf eine Erörterung dieser Beweisfragen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hin. Es spricht vieles dafür, dass der Gesetzgeber dieses Problem – möglicherweise im Eifer der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Kontroversen – schlichtweg übersehen hat.[12] Die nicht erfolgte Anpassung von § 51 BZRG kann man auch nicht mit dem Argument relativieren, bei dem hier gebildeten Beispielfall handele es sich innerhalb der ohnehin geringen Anzahl von Mordtaten um einen exotischen Ausnahmefall, der ein rein theoretisches Konstrukt zu einem praktischen Problem heraufbeschwört. Im Gegenteil: Die Vorstrafen und die mit ihr im Zusammenhang stehenden Ermittlungserkenntnisse stellen in der Praxis sehr häufig äußerst wichtige Beweismittel dar, die sich gerade bei der Aufklärung lange zurückliegender Taten nicht nur für die Tataufklärung als relevant, sondern im Unterschied zu anderen Beweismitteln auch als valide rekonstruierbar erweisen. Außerdem geben Vorverurteilungen oft Auskunft über die Persönlichkeit und die Lebensweise des Beschuldigten in einer spezifischen Lebensphase und stellen, selbst wenn kein direkter indizieller Zusammenhang zur Tat besteht, wichtige mittelbare Indiztatsachen dar. Der unbestreitbaren immensen forensischen Relevanz der (getilgten) Vorverurteilungen wird de lege lata unter anderem von der Ausnahmevorschrift für die Erstattung von Gutachten für die Beurteilung der Schuldfähigkeit gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits Rechnung getragen.[13] Nicht selten ergeben sich jedoch wie im Beispielfall sogar die ausschlaggebenden Beweisanzeichen aus dem Tatmuster bzw. dem modus operandi anderer Straftaten.[14] Wenngleich empirisch belastbare Daten zu der Frage fehlen, wie oft es für die Bewertung der Erfolgsaussichten eines Wiederaufnahmeverfahrens zuungunsten von Freigesprochenen auf einen indiziellen Rekurs auf inzwischen getilgte Vorverurteilungen ankommen wird, dürfte es sehr plausibel sein, dass viele künftige Wiederaufnahmeverfahren und auch klassische „erste“ Strafverfahren aufgrund von § 51 BZRG mit Beweisschwierigkeiten behaftet sein werden.

3. Ungleichbehandlung von Freigesprochenen und Verurteilten

Dies führt zu der eigentlichen Achillesferse des Verwertungsverbots von § 51 BZRG, die – jenseits der durch die Reform des Wiederaufnahmerechts erforderlich gewordenen geringfügen Korrekturen – Bedenken grundsätzlicher Art begründet. Dies soll durch eine Abwandlung des obigen Beispielfalls verdeutlicht werden: A wurde nicht nur wegen des Mordes, sondern auch wegen der Sexualdelikte wegen damals mangelnder Schuldfähigkeit freigesprochen.[15] Würde sich dadurch in Bezug auf die Verwertbarkeit der Beweise etwas ändern? Intuitiv neigt man dazu, diese Frage zu verneinen, weil der Freispruch bezüglich der Sexualdelikte zu keiner Benachteiligung des A in Bezug auf die Nachweisbarkeit anderer Straftaten führen kann. Verblüffender Weise zwingt § 51 BZRG jedoch zur Bejahung dieser Frage, da dieser nach herrschender Meinung nur Beweise erfasst die zu einer inzwischen getilgten Verurteilung geführt haben. Die teilweise vertretene Ansicht, die sich für eine analoge Anwendung von § 51 BZRG auch auf Freisprüche oder nach §§ 153, 153a, 154, 154a  StPO eingestellte Taten ausspricht, wird zutreffend von der herrschenden Rechtsprechung und Literatur abgelehnt, da die Bestimmung des § 51 Abs. 1 BZRG nach ihrem klaren Wortlaut eine Verurteilung verlangt und eine analoge Anwendung auf sämtliche Nichtverurteilungskonstellationen mit dem Zweck des Verwertungsverbots, den Verurteilten vom Strafmakel zu befreien und dadurch seine Resozialisierung zu fördern, nicht zu vereinbaren ist.[16] Diese Ungleichbehandlung ist bereits per se zweifelhaft und lässt seit jeher viele Stimmen in der Literatur an einer kohärenten Logik des § 51 BZRG zweifeln.[17] Es ist nicht nur offenkundig, dass die Verwertbarkeit von Beweismitteln häufig von prozessualen Zufälligkeiten abhängt, sondern es erscheint auch grob ungerecht, dass der von A begangene Mord nur deshalb unbestraft bleibt, weil er wegen der Sexualdelikte verurteilt wurde. Wäre demgegenüber in Ermangelung eines damaligen Anfangsverdachts ein Ermittlungsverfahren zuvor nie eingeleitet worden oder wäre A wegen dieser Taten freigesprochen worden, dann würde A nun voraussichtlich wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Durch das Verwertungsverbot des § 51 BZRG ist der Schuldspruch in solchen Fallkonstellationen nicht nur mit einer apokryphen immunisierende Schutzwirkung behaftet, sondern er schafft sogar einen robusteren Vertrauenstatbestand als ein Freispruch, der diesen und damit auch die Unschuldsvermutung in zweifelhafter Weise abwertet: Während A darauf vertrauen darf, dass ihm die zu seiner Verurteilung führenden Umstände nach der Tilgung der Vorstrafe für die Aufklärung von weiteren Straftaten nicht vorgehalten werden, muss er bei einem Freispruch jederzeit damit rechnen, dass die dort verfahrensgegenständlichen Umstände zum Nachweis einer anderen Straftat – und durch das Wiederaufnahmerecht auch derselben Straftat – herangezogen wird.[18] Auch eine andere keineswegs praxisferne Abwandlung des Beispielfalls untermauert das mit § 51 BZRG verknüpfte Gerechtigkeitsproblem: Angenommen A hat sowohl den Mord als auch die Sexualdelikte jeweils gemeinsam mit einem jahrelang flüchtigen Mittäter begangen. Auch hier wäre die normativ zweifelhafte Konsequenz, dass der Mittäter, sollte er irgendwann noch ergriffen werden, wegen des Mordes sanktioniert werden könnte, während eine Verurteilung von A an dem Verwertungsverbot von § 51 BZRG mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitert.

Diese paradoxe „Rechtswohltat“[19] durch den Schuldspruch ist keineswegs neu und bestand bereits vor der Reform, weil die zweifelhafte Ungleichbehandlung im Rahmen der Verwertung von Beweisen freilich auch außerhalb eines Wiederaufnahmeverfahrens auftreten kann oder auch das alte Recht bekanntlich restriktivere Wiederaufnahmegründe zuungunsten von Freigesprochenen vorsah. So hatte schon früh der BGH darauf hingewiesen, dass im Interesse der Resozialisierung des Verurteilten der Gesetzgeber nicht der Erwägung gefolgt ist, der Verurteilte könne nicht günstiger stehen als derjenige, bei dem bestimmte zurückliegende Vorkommnisse nicht zu einem Strafverfahren geführt hatten.[20] Das Wertungsproblem gewinnt aber durch die Reform an Brisanz, da durch die zu erwartende und vom Gesetzgeber bezweckte Zunahme von Wiederaufnahmeverfahren es in der Praxis künftig deutlich häufiger vorkommen wird, dass es auf die Verwertbarkeit von Beweismitteln aus anderen länger zurückliegender Strafverfahren, die zu inzwischen getilgten oder tilgungsreifen Vorverurteilungen des Betroffenen geführt haben, ankommen wird. Zum anderen wird durch § 362 Nr. 5 StPO n.F. auch auf symbolische Weise die Schlechterstellung von Freigesprochenen gegenüber Verurteilten weiter verstärkt: Während dem Freigesprochenen aufgrund des reformierten § 362 Nr. 5 StPO n.F. beim Auftauchen neuer Beweismittel der gesamte Tatsachenstoff des ersten Strafprozesses erneut in dem Wiederaufnahmeverfahren vorgehalten werden kann, garantiert § 51 BZRG auch einer wegen Mordes verurteilten Person ausnahmslos, dass ihm die Beweise, die der inzwischen getilgten Mord-Verurteilung zugrunde lagen, nie wieder – selbst in einem einen anderen einen weiteren Mord betreffenden Strafverfahren – vorgehalten werden. Das neue Wiederaufnahmerecht perpetuiert diese bereits vor der Reform in Bezug auf die Verwertbarkeit von Beweismitteln existierende und in vielerlei Hinsicht zweifelhafte Privilegierung von verurteilten Personen gegenüber Freigesprochenen und solchen Personen, gegen die in der Vergangenheit bislang noch keine Ermittlungen stattfanden. Eine Strafjustiz, die im Namen der „Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom Gesetzgeber ermächtigt wird, im Fall des Vorliegens neuer Tatsachen rechtskräftige Freisprüche zu durchbrechen, der es aber weiterhin verboten ist, auf bestimmte ältere Beweismittel zurückzugreifen, agiert widersprüchlich und inkonsistent.

4. Umfassende einmalige Sachaufklärung statt eingeschränkte mehrfache Aufklärung

Anders als die Reform des Wiederaufnahmerechts wäre eine Reform von § 51 BZRG, die das Beweisverwertungsverbot bei der Aufklärung unverjährbarer Straftaten einschränkt, nicht nur verfassungsrechtlich unbedenklich, sondern sogar Ausdruck der verfassungsrechtlichen Ordnung. Denn Beweisverwertungsverbote stellen nach herrschender Ansicht eine von Verfassungs wegen begründungsbedürftige Ausnahme dar, weil sie die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden zur Erhärtung oder Widerlegung des Verdachts strafbarer Handlungen einschränken und so die Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung beeinträchtigen.[21] Nach Auffassung des BVerfG müssen Strafgerichte „möglichst alle erreichbaren Tatsachen, die für die Beurteilung von Tat und Täter wesentlich sind, aufzuklären und mit zu berücksichtigen, damit ein gerechtes Urteil gefällt werden kann.“[22] Dass der Gesetzgeber zur Herstellung „materiellen Gerechtigkeit“ zwar eine nicht nur im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich bedenkliche Durchbrechung der Rechtskraft zulässt, anderseits aber an einem Beweisverwertungsverbot festhält, dessen Absolutheit gerade die Strafrechtspflege bei der Aufklärung von unverjährbaren Straftaten in verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise beeinträchtigt, ist einerseits im hohen Maße dysfunktional, zeichnet aber anderseits möglicherweise einen Weg für einen rechtspolitischen Kompromiss: Anstatt im verfassungsrechtlich hochsensiblen Bereich des Wiederaufnahmerechts zu operieren, könnte man § 51 BZRG (geringfügig) reformieren. Eine von zweifelhaften Tabus befreite umfassende und gründliche einmalige gerichtliche Sachaufklärung erscheint einer gedrosselten Mehrfachaufklärung in jeder Hinsicht vorzugswürdig.

IV. Konkreter Alternativreformvorschlag

Bereits eine geringfügige Änderung der §§ 51, 52 BZRG würde es ermöglichen, dass lang zurückliegende unverjährbare Mordtaten und andere unverjährbare Straftaten konsequent aufgeklärt werden können. So müsste man in § 52 BZRG schlichtweg eine weitere Ausnahmeregelung einfügen, die das Verwertungsverbot für unanwendbar erklärt, wenn es Straftatbestände betrifft, die nicht der Strafverfolgungsverjährung unterliegen. Wie jeder der bislang in § 52 BZRG geregelten Ausnahmevorschrift dürfte die Schaffung einer solchen weiteren Ausnahme bereits völlig losgelöst vom neuen Wiederaufnahmerecht einer ausgewogenen Abwägung zwischen dem Interesse von Betroffenen an der  Resozialisierung  und  dem  Interesse  der Strafrechtspflege entsprechen. Der Umstand, dass de lege lata gerade keine Ausnahmevorschrift für die Aufklärung von besonders schweren unverjährbaren Straftaten existiert, dürfte sogar eine übergebührliche Berücksichtigung der Interessen des Betroffenen im Rahmen der Interessenabwägung zum Ausdruck bringen. Auch die Gesetzessystematik spricht für die hier vorgeschlagene Anpassung: So schließt § 45 Abs. 3 Nr. 1 BZRG anders als bei allen anderen Vorstrafen eine Tilgung von Verurteilungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausdrücklich aus, während bislang diese spezifische Bewertung von § 51 BZRG nicht berücksichtigt wird.[23] Eine lebenslange Freiheitsstrafe ist daher bislang zwar registerrechtlich untilgbar, aber das Registerrecht schränkt gleichwohl die Aufklärung von Straftaten, deren Begehung zu Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen führen können, beweisrechtlich ein. Die hier vorgeschlagene Änderung verringert zudem eine bereits vor der Reform schon lange von der Literatur zurecht kritisierte ungerechtfertigte Benachteiligung von Freigesprochenen gegenüber Verurteilten.

V. Fazit

Das Schicksal des neuen Wiederaufnahmerechts liegt nunmehr in den Händen des BVerfG. Doch ganz unabhängig von der verfassungsrechtlichen Beurteilung sprechen gewichtige Argumente für eine legislative Korrektur der §§ 51, 52 BZRG. Sollte das neue Wiederaufnahmerecht vom BVerfGfür verfassungswidrig erklärt werden, dann könnte eine Reform der §§ 51, 52 BZRG den Ausgangspunkt eines salomonischen rechtspolitischen Kompromisses bilden. Aber auch wenn es bei dem neuen Wiederaufnahmerecht bleiben sollte, ist eine Änderung der §§ 51, 52 BZRG dringend zu empfehlen. Akzeptiert man bei der Verfolgung von unverjährbaren Straftaten Durchbrechungen der Rechtskraft freisprechender Urteile, dann muss man zur Herstellung materieller Gerechtigkeit erst recht die Verwertung von Beweismitteln erlauben, die aus getilgten Vorverurteilungen des Beschuldigten herrühren.

[1]      BT-Drs. 19/30399, S. 1.
[2]      Die Reform und die Verfassungsgemäßheit befürwortend Kubiciel, GA 2021, 380 ff.; Zehetgruber, JR 2020, 157 ff.; Hoven, JZ 2021, 1154 ff.; Letzgus, NStZ 2020, 717 ff.
[3]      Kritisch etwa Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251 ff.; Frister/Müller, ZRP 2019, 101 ff.; Ruhs, ZRP 2021, 88 ff.; Slogsnat, ZStW 2021, 741 ff.; Arnemann, NJW-Spezial 2021, 440 ff.; Eichhorn, KriPoZ 2021, 357 ff.; Brade, ZIS 2021, 362 ff. In Bezug auf vorangegangene Reformvorschläge kritisch jeweils m.w.N. Marxen/Tiemann, 2008, 188 ff.; Pabst, ZIS 2010, 126 ff. Instruktiv und grundlegend Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 956 ff. Überzeugend auch Grünwald, ZStW 2008, 546 ff. Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 193 ff.
[4]      BT-Drs. 19/30399, S. 2.
[5]      Das Fallbeispiel wurde an eine Fallkonstellation angelehnt, die dem Verfasser in seiner Eigenschaft als Richter bekannt geworden ist. Der Sachverhalt wurde vom Verfasser stark verändert, um einerseits die für den Beitrag relevante Argumentation zu schärfen und anderseits der Unschuldsvermutung (vgl. EGMR Nr. 48144/09 – Urt. v. 15.1.2015 = HRRS 2015 Nr. 425) Rechnung zu tragen.
[6]      DNA-Analysen können zwar mit hoher Beweiskraft eine Täterschaft ausschließen. Der Tatrichter muss bei dem Nachweis einer Täterschaft indes berücksichtigen, dass die DNA-Analyse lediglich eine statistische Aussage enthält, die eine Würdigung aller Beweisumstände nicht überflüssig macht, vgl. Eisenberg, StPO, Erster Teil, III. Beweiswürdigung Rn. 103; Kimmich, NStZ 1993, 23; BGH, NStZ 1992, 554.
[7]      Vgl. Bücherl, in: BeckOK-StPO, 41. Ed. (Stand: 1.10.2021), BZRG § 51; BGH, StraFo 2006, 296. Die vom BGH in älteren Entscheidungen für § 51 BZRG außerdem ins Feld geführte entsühnende Wirkung der Bestrafung oder Verurteilung (BGHSt 24, 378 [381]; BGHSt 25, 64 [65]) vermag allenfalls ein Verbot bei der Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung rechtfertigen.
[8]      Vgl. BGH, NStZ-RR 2021, 187 (189); BGH, NStZ-RR 2020, 217 (218); BGH, NStZ-RR 2019, 337 (338); BGH, NStZ-RR 2016, 120 (120); BGH, NStZ 2016, 468 (468); BGH, NStZ-RR 2014, 356 (356); BGH, NStZ-RR 2012, 305 (305); BGH, NStZ 2013, 34 (35); BGH, NStZ-RR 2011, 286 (286); BGH, Beschl. v. 3.9.2014 – 1 StR 343/14 = BeckRS 2014, 18918 Rn. 2; BGH, Beschl. v. 17.12.2019 – 4 StR 472/19= BeckRS 2019, 44151; BGH, Beschl. v. 25.1.2017 – 1 StR 570/16 = BeckRS 2017, 102994 Rn. 11.
[9]      Vgl. Bücherl, in: BeckOK-StPO, BZRG § 51; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Auflage (2017), Drittes Kapitel, Rn. 343; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. (2021), Rn. 1410; BGH, StV 1990, 340; BGH, NStZ-RR 2016, 120 (120); KG Berlin, Beschl. v. 14.11.2005 – (3) 1 Ss 151/05 (116/05) –, Rn. 6, zitiert nach juris.
[10]    BGH, NJW 1973, 523 (524). Bücherl kritisiert zurecht einen konstruierten Zusammenhang zwischen der sozialen Wiedereingliederung des Straftäters und der Berücksichtigung insbes. einschlägiger Taten i.R.d. Beweiswürdigung (vgl. Bücherl, in: BeckOK-StPO, § 51 Rn. 35). Ähnlich auch Tepperwien, FS-Salger, 1995, S. 189 (190).
[11]    Vgl. BGH, Urt. v. 19.2.1992 – 2 StR 454/91 = BeckRS 2010, 9034; BGH, Beschl. v. 24.8.2011 – 1 StR 317/11 = BeckRS 2011, 23617.
[12]    Es kann nur spekuliert werden, ob eine solche für die Praxis bedeutende Erörterung von Beweisfragen auch dann unterblieben wäre, wenn das BMJ (damals noch BMJV) sich bei dem Gesetzesvorhaben nicht geweigert hätte, an dem Gesetzesentwurf mitzuwirken.
[13]    Bücherl, in: BeckOK-StPO, BZRG § 52 Rn. 3.
[14]    Zur Bedeutung des Tatmusters im Rahmen kriminalistischer Fallanalysen vgl. Hoffmann/Musolff, Fallanalyse und Täterprofil, Kriminalistisches Institut, Band 52, 2000, S. 19 ff. Allgemein zur Theorie der Kriminalitätsmuster vgl. von P. J. Brantingham/P. L. Brantingham, Environmental Criminology, 2. Auflage (1990); Artkämper/ Gundlach/Straub, Kriminalistik – ein aktueller Themenüberblick, 2020, S. 277 ff.; Schiemann, NStZ 2007, 684 ff.
[15]    Auch andere Freispruchgründe, die das damalige Tatmuster als Indiz für die Aufklärung anderer Straftaten als solches nicht in Frage stellen, führen in gleicher Weise zu dem Problem der zweifelhaften Ungleichbehandlung. Das Problem tritt etwa auch auf, wenn ein Strafverfahren mangels Strafmündigkeit nicht eingeleitet wurde. Das hier gewählte etwas exotische Beispiel wurde nur gewählt, um keine Verwirrung zu stiften. Wenn es nämlich zu dem Freispruch gekommen ist, weil das damalige Tatmuster dem A nicht als Täter zugeordnet werden konnte, dann macht eine Verwertbarkeit in einem neuen Verfahren ohnehin keinen Sinn. Es sind gleichwohl sehr viele Fallkonstellationen denkbar, indem sich zwar ein Tatmuster feststellen ließ, aber es trotzdem zu keiner Verurteilung gekommen ist.
[16]    BGH, NStZ-RR 2021, 187 (189); BGH, NStZ 2005, 397 (397); OLG Hamm, Beschl. v. 28.6.2016 – 4 Ws 180/16 = BeckRS 2016, 13265; Tolzmann, BZRG, 5. Auflage (2015), § 51 Rn 4; Kuhn, JA 2011, 855 (857).
[17]    Vgl. jeweils m.w.N. Duckwitz, Die Verwertbarkeit von nach §§ 154, 154a StPO ausgeschiedenem Prozessstoff bei der Beweiswürdigung und Strafzumessung im Strafverfahren, 2017, S. 212 ff.; Gillmeister, NStZ 2000, 344 ff.; Willms, JZ 1974, 224 (225); Peters, JR 1973, 165 (166); Händel, JR 1973, 265 (266); Seib, DRiZ 1973, 17 ff.; Dreher, JZ 1972, 618 ff.; Granderath, ZRP 1985, 319 ff.; Tepperwien, in: FS Salger, 1995, S. 189 ff.
[18]    Wie hier zu § 51 BZRG auch Gillmeister, NStZ, 344, (345).
[19]    Schweckendieck, NStZ 1994, 418 (418).
[20]    BGHSt 24, 378 (381) = BGH, NJW 1973, 66 (76).
[21]    BVerfG, NJW 2012, 907 (910); BVerfG, ZD 2015, 423 (425); Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 84. EL (Stand: 10/2021), Art. 20 GG, Rn. 1244; Lohse/Jakobs, in: KK-StPO, 8. Aufl. (2019), MRK Art. 6 Rn. 59; Metz, ZStW 2021, 447 (465); Radtke, GA 2012, 187 (189); kritisch Lindemann, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Band 7, 2020, III. Rn. 5; Dallmeyer, HRRS 2009, 429 (430 ff.).
[22]    BVerfG, NJW 1974, 179 (181). Nach Auffassung des BVerfG würde diese Erschwerung sich jedoch noch innerhalb der Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegen.
[23]    Vgl. Kuhn, JA 2011, 855 (858).

 

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