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„Catcalling“ – Möglichkeiten und Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung

von Nora Labarta Greven, Laura-Romina Goede und Paul Brodtmann

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Abstract
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Catcalling unter Strafe gestellt werden kann. Hierfür wird zunächst der Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung herausgearbeitet, um anschließend Grenzen und Implikationen für eine strafrechtliche Normierung abzuleiten. Auf Grundlage dessen werden empirische Daten einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. herangezogen, um zu untersuchen, ob ein Straftatbestand angemessen wäre.

The following article deals with the question of whether and under what conditions catcalling can be declared a criminal offense. For this purpose, the guarantee of the fundamental right to sexual self-determination is first elaborated to then derive limits and implications for standardization under criminal law. On this basis, empirical data from a study by the Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. will be used to examine whether a criminal law regulation would be appropriate.

I. Einleitung

„Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein.“ Mit dieser von fast 70.000 Personen unterzeichneten Online-Petition wandte sich eine Studentin über den Petitionsausschuss des Bundestages an das Justizministerium, das Familienministerium und die Bundesregierung und forderte diese auf, Catcalling unter Strafe zu stellen.[1] Bereits ein Jahr zuvor entstanden deutschlandweit Initiativen, die mit Hilfe des Hashtags „@catcallsof“ Catcalling-Erfahrungen durch „Ankreiden“ auf der Straße sichtbar machen und dadurch in den Fokus der breiteren Öffentlichkeit rücken wollten.[2] Dank dieser Initiativen ist in den (sozialen) Medien, der Politik und mittlerweile auch in der Strafrechtswissenschaft eine Debatte über die Notwendigkeit und Möglichkeiten einer rechtlichen Lösung des Problems Catcalling entstanden.[3]

Der Anglizismus Catcalling soll an das Pfeifen bzw. Locken einer Katze bzw. eines Haustieres erinnern und wird
im deutschen Sprachgebrauch überwiegend als nicht körperliche sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum verstanden.[4] Bestimmte Formen nicht körperlicher sexueller Belästigung sind bereits nach geltendem Recht unter Strafe gestellt. So wird das Entblößen des männlichen Genitals unter den Voraussetzungen des § 183 StGB (Exhibitionistische Handlungen) sowie das unaufgeforderte Zusenden pornographischer Inhalte (§ 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB), etwa das Zusenden von Dick Pics,[5] mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Geht die sexuelle Belästigung mit einer Ehrverletzung einher, kommt eine Bestrafung nach § 185 StGB (Beleidigung) in Betracht. Im Falle einer solchen Sexualbeleidigung ist allerdings zu berücksichtigen, dass nicht jeder Missachtung der Persönlichkeit, insbesondere einer Verletzung des Schamgefühls, eine Ehrverletzung innewohnt. Vielmehr muss in der sexuellen Handlung gerade zum Ausdruck kommen, dass das Opfer minderwertig im Sinne eines Mangels an Ehre sei.[6] In Ausnahmefällen ist zudem an eine Bestrafung nach § 238 StGB (Nachstellung), § 240 StGB (Nötigung) oder § 241 StGB (Bedrohung) zu denken. Eine Strafbarkeit wegen Nachstellung wird jedoch in aller Regel daran scheitern, dass die sexuelle Belästigung wiederholt vorgenommen und geeignet sein muss, die Lebensgestaltung nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen.[7] Auch § 240 und § 241 StGB sind nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, etwa massivem Verfolgen oder dem konkreten in Aussicht stellen eines künftigen Übels, erfüllt.[8] De lege lata können einzelne Erscheinungsformen nicht körperlicher sexueller Belästigung mithin strafrechtlich verfolgt werden. Besteht die Handlung jedoch nicht im Zusenden von Bildern oder dem Entblößen des männlichen Genitals, wohnt der Belästigung keine Ehrverletzung inne oder werden die hohen Hürden der §§ 238 StGB, 240 StGB und 241 StGB nicht erreicht, scheidet eine strafrechtliche Sanktionierung aus. Spricht ein 65-jähriger Mann ein 11-Jähriges Mädchen auf der Straße an, „dass er mit ihr spazieren gehen wolle, weil er ihre Muschi fassen wolle´,“[9] folgt ein Mann einer Frau auf die Toilette und starrt sie unter der Toilettentür hindurch an[10] oder äußert ein Fremder auf offener Straße „Na, dich würde ich gern mal reiten“[11] bleibt den betroffenen Personen keine andere Möglichkeit, als das Verhalten zu dulden. Rechtliche Möglichkeiten sind ihnen mangels strafrechtlicher Relevanz derartiger Verhaltensweisen verwehrt.

Angesichts dieses Umstandes soll im folgenden Beitrag unter Berücksichtigung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. zu Ausmaß und Folgen von Catcalling aufgezeigt werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen solche und andere nicht körperliche sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum unter Strafe gestellt werden können. Hierfür ist zunächst das bislang vom Gesetzgeber und der Rechtsprechung kaum konturierte Grundrecht – die sexuelle Selbstbestimmung[12] – abzustecken. Daran anschließend ist die Frage zu beantworten, ob ein etwaiger Straftatbestand angesichts der durch Catcalling ausgelösten Folgen angemessen wäre und innerhalb welcher verfassungsrechtlichen Grenzen er sich bewegen müsste.

II. Legitimer Zweck: Schutz der sexuellen Selbstbestimmung[13]

Staatliches Handeln muss verhältnismäßig sein (Art. 20 Abs. 3 GG). Jede legislatorische Maßnahme muss demnach einen legitimen Zweck verfolgen und im Hinblick auf diesen Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein.[14] Unter welchen Voraussetzungen ein Zweck als legitim im Sinne des Strafrechts anzusehen ist, wird kontrovers diskutiert.[15] Während bis in die 1960er Jahre dem Sexualstrafrecht noch die Aufgabe des Schutzes von Moral und Sittlichkeit zugeschrieben wurde, besteht heute insoweit Einigkeit, dass ein Verhalten nicht seiner Unmoral oder ethischen Verwerflichkeit willen unter Strafe gestellt werden kann, sondern nur, wenn dadurch elementare Interessen Einzelner oder der Gemeinschaft verletzt werden.[16] Ausdruck fand der Paradigmenwechsel vom Moral- zum Rechtsgüterschutz auch in der Überschrift des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs. Wogegen diese bis zum Jahr 1973 noch „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ lautete, sind die §§ 174 ff. StGB heute mit der Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überschrieben. Kriterium für die (sexual-)strafrechtliche Relevanz ist damit nicht mehr die sittliche Anstößigkeit oder Immoralität eines Verhaltens, sondern allein die Betroffenheit von Rechtsgütern.[17] Ob und gegebenenfalls welche Formen nicht körperlicher sexueller Belästigung unter Strafe gestellt werden können, ist also in einem ersten Schritt danach zu beurteilen, inwieweit derartige Verhaltensweisen Rechtsgüter – namentlich die sexuelle Selbstbestimmung – beeinträchtigen.

1. Gewährleistungsgehalt des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung

Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jeder „das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […]“, woraus – teils in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie[18] – ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als „Ausdruck persönlicher Autonomie“ abgeleitet wird.[19] Grundrechte verbieten dem Staat nicht nur, rechtswidrige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche vorzunehmen, sondern verpflichten ihn auch, sich schützend vor ihren jeweiligen Gewährleistungsgehalt zu stellen.[20] Entsprechend folgt aus Art. 2 Abs. 1  GG (i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) die staatliche Pflicht, den Bürger*innen hinreichende Bedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung zu gewährleisten.[21] Persönlichkeitsentfaltung vollzieht sich zu einem nicht unerheblichen Teil in der Sexualität,[22] sodass mittlerweile allgemein anerkannt ist, dass eine Facette des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung abgebildet wird.[23] Trotz seiner Anerkennung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind Inhalt und Reichweite des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung in Rechtsprechung und Literatur bislang noch nicht erschöpfend behandelt worden und vor dem Hintergrund wandelbarer gesellschaftlicher Einstellungen zu Sexualitäten stets neu zu interpretieren.[24]

Nachdem das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Geschwisterbeischlafs (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB) erstmals von einem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sprach,[25] hat es sich in einer überschaubaren Anzahl von Entscheidungen mit verschiedenen Aspekten des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung auseinandergesetzt.[26] In seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB führte es aus, dass der Intim- und Sexualbereich eines Menschen als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, den*die Einzelne*n schütze „sein Verhältnis zur Sexualität und seine geschlechtlichen Beziehungen zu einem Partner einzurichten und grundsätzlich selbst darüber zu befinden […], ob, in welchen Grenzen und mit welchen Zielen er Einwirkungen Dritter darauf hinnehmen will.“ Ein Jahr später konstatierte es, dass zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung die Freiheit gehöre, „die eigenen Ausdrucksformen der Sexualität für sich zu behalten und sie in einem dem staatlichen Zugriff entzogenen Freiraum zu erleben“; wobei diese Freiheit ihre Grenze in gewaltsamen Übergriffen in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht anderer Personen finde.[27] Letztlich zog es das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als Aspekt der freien Entfaltung der Persönlichkeit heran, als es über die Verfassungsmäßigkeit des § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG (Verbot artwidriger sexueller Handlungen an Tieren) zu entscheiden hatte. Zwar falle auch sexuelles Verhalten in Bezug auf Tiere unter den – nicht näher definierten Schutzbereich – des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dieses trete aber gegenüber dem mit der Vorschrift bezweckten Schutz von Tieren (Art. 20a GG) zurück.[28] Ob und inwieweit die sexuelle Selbstbestimmung durch nicht körperliche sexuelle Handlungen beeinträchtigt werden kann, lässt sich diesen Entscheidungen angesichts der fehlenden grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung nicht entnehmen.

Auch die Literatur hat sich bislang wenig mit der Frage der Betroffenheit der sexuellen Selbstbestimmung durch nicht körperliche Belästigungen beschäftigt.[29] Überwiegend Einigkeit besteht insoweit, dass die sexuelle Selbstbestimmung in ihrer abwehrrechtlichen Funktion die Freiheit davor erfasse, „zum Objekt fremdbestimmter sexueller Übergriffe herabgewürdigt zu werden“.[30] Streit herrscht dagegen im Hinblick auf die – für das Catcalling entscheidende Frage – ob ein solcher Übergriff Körperlichkeit voraussetzt oder auch bei nicht körperlichen Handlungen gegeben sein kann.[31] Dabei mangelt es sowohl den Befürworter*innen, als auch Gegner*innen, überwiegend an am (verfassungsrechtlichen) Gewährungsgehalt der sexuellen Selbstbestimmung orientierten Begründungen für bzw. gegen eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung. Dies ist angesichts der lange Zeit fehlenden grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der sexuellen Selbstbestimmung wenig überraschend.[32]

Der Verfassung liegt das Leitbild konsensualer Sexualitäten zugrunde,[33] wobei der herzustellende Konsens eine Aushandlung gleichberechtigter kommunikations- und einsichtsfähiger Akteur*innen auf Augenhöhe verlangt.[34] Subjektiv-rechtlich schützt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung demnach die „freie Entscheidung darüber, ob und mit wem der*die Einzelne welche sexuellen Handlungen ausüben möchte“;[35] in seiner objektiv-rechtlich Ausprägung verpflichtet es den Staat, diejenigen Bedingungen zu schaffen, die notwendig sind, damit „die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann.“[36] Spätestens seit der Reform des Sexualstrafrecht im Jahr 2016 folgt auch das Strafrecht diesem verfassungsrechtlichen Leitbild.[37] Entscheidend für eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung ist mithin kein Körperkontakt, sondern die Einbeziehung in ein sexuelles Geschehen ohne vorherige konsensuale Aushandlung. Entsprechend beeinträchtigen sexualbezogene Abbildungen einer Person[38], das Teilen sexualbezogener Informationen[39] und konsequenterweise auch nicht körperliche sexuelle Belästigungen – sprich Catcalling – das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Pörner führt gegen eine Strafbarkeit des Catcallings an, dass dies lediglich eine Form der distanz- und respektlosen Annäherung darstelle und Respekt ein klassisches Beispiel für moralisch und sittlich angebrachtes Verhalten und deshalb kein Anknüpfungspunkt für eine Strafbarkeit sein könne.[40]Vor dem Hintergrund des Gewährleistungsgehalts des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung ist dem aus zweierlei Gründen zu widersprechen: Zum einen ist die Gewährleistung sexueller Selbstbestimmung auf gewisse Bedingungen angewiesen, die in der Interaktion mit anderen gerade in der gegenseitigen Achtung und dem gegenseitigem Respekt begründet liegen.[41] Zum anderen meint die Abkehr von Sittlichkeit und Moral Verhalten nicht seiner selbst willen unter Strafe zu stellen, sondern entsprechend dem verfassungsrechtlichen Leitbild konsensualer Sexualitäten nur dann, wenn dieses gegen bzw. ohne den Willen einer anderen Person vorgenommen wird. So wird Geschlechtsverkehr (grundsätzlich) nicht seiner selbst willen unter Strafe gestellt, sondern nur für den Fall, dass er gegen den Willen des Opfers erfolgt.[42] Ebendies gilt für nicht körperliche sexuelle Belästigungen: Bestraft würde nicht die sittliche Anstößigkeit des Verhaltens, sondern das Nichtvorliegen eines Konsenses und damit die Vornahme ohne bzw. gegen den Willen des Opfers.

2. Implikationen des Gewährleistungsgehalts für eine strafrechtliche Regulierung

Aus dem Gewährleistungsgehalt des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung lassen sich weitere Implikationen für eine strafrechtliche Regulierung ableiten.

Aus dem objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt folgt, dass der Staat zwar nicht-konsensuale sexuelle Handlungen mit rechtlichen Mitteln bekämpfen, er aber andererseits konsensuale sexuelle Handlungen zu schützen hat.[43] Eine solche Berücksichtigung des Willens des Opfers findet sich in Form des sog. tatbestandsausschließenden Einverständnisses auch bei anderen, die freie Entscheidung des Opfers schützenden Strafnormen, wonach ein Einverständnis des Opfers den objektiven Tatbestand und mithin die Strafbarkeit entfallen lässt. Manche Autor*innen führen diesbezüglich an, dass im Falle eines Catcalls auf offener Straße der entgegenstehende Wille des Opfers noch nicht zu Tage getreten sei und deshalb nicht von einem fehlenden Einverständnis des Opfers ausgegangen werden könne.[44] Eine solche Sichtweise verkennt, dass der Gesetzgeber grundsätzlich frei darin ist, wie er die sexuelle Selbstbestimmung schützen und das Konsensprinzip umsetzen möchte. Zwar genügt der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht auch durch die mit der Reform des Sexualstrafrechts umgesetzte „Nein-heißt-Nein-Lösung“, allerdings gilt dies nur insofern, als hierdurch ein ausreichender Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gewährleistet werden kann.[45] Ist dies nicht der Fall, kann die Schutzpflicht durchaus eine andere Konkretisierung des Konsensgedankens nahelegen. Dem Catcalling ist in aller Regel immanent, dass ein gewisser Überraschungseffekt ausgenutzt und eine Person wider Erwarten sexuell belästigt wird. Eine ausdrückliche Ablehnung des Opfers vor Vornahme der Tathandlung ist deshalb typischerweise nicht möglich, sodass der Gesetzgeber die sexuelle Selbstbestimmung durchaus effektiv(er) schützen kann, indem er für Fälle nicht körperlicher sexueller Belästigung auf das tatsächliche Einverständnis des Opfers abstellt (s. ebenso im Falle des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB).

Weiterhin stellt sich die Frage, inwiefern sich dem Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung Folgerungen für die Berücksichtigung der Opferperspektive entnehmen lassen. So könnte anlässlich einer strafrechtlichen Normierung einerseits auf einen bestimmten Erfolg – das „belästigt fühlen“ einer anderen Person – andererseits auch darauf abgestellt werden, dass eine Handlung vorgenommen wird, die objektiv geeignet ist, eine andere Person sexuell zu belästigen. Staatliche Gewährleistungspflichten ergeben sich nach dem BVerfG in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor allem dann, wenn die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit spezifisch gefährdet ist.[46] Auch Valentiner adressiert den Staat als Gewährleistungsverpflichteten insofern, als er diejenigen Entfaltungsbedingungen zu schaffen hat, die zur Unterstützung und Ausbildung sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit notwendig sind.[47] Ginge man davon aus, dass ein Erfolg in Form einer subjektiven Reaktion des Opfers notwendig ist, würde dies bedeuten, dass Personen, die mangels ausgereifter sexueller Entwicklung (bspw. Kinder oder geistig beeinträchtigte Personen), den sexuell belästigenden Charakter einer solchen Äußerung (noch) nicht erkennen können, keinen strafrechtlichen Schutz genießen würden. Versteht man sexuelle Selbstbestimmung als Versprechen der Entfaltung personaler Autonomie und damit der Gewährleistung elementarer Entfaltungsbedingungen, sollten auch und gerade Personen, deren Persönlichkeit und sexuelle Selbstbestimmung noch in der Entwicklung befindlich sind, vor Handlungen geschützt werden, die geeignet sind, die Entfaltung sexueller Selbstbestimmung zu beeinträchtigen.[48] Außerdem stellte sich – würde allein auf das Empfinden des Opfers abgestellt – das Problem, ob dem*der Täter*in die Belästigung als Taterfolg (objektiv) zuzurechnen ist, sofern sich das Opfer deshalb sexuell belästigt fühlt, weil es aufgrund vorangegangener Erfahrungen besonders sensibel auf nicht körperliche sexuelle Belästigungen reagiert. All dies spricht dafür, hinsichtlich des tatbestandlichen Erfolges nicht auf bestimmte Opfereigenschaften und dessen subjektive Reaktionen abzustellen, sondern einen etwaigen Tatbestand als Eignungsdelikt so zu formulieren, dass eine Handlung vorgenommen wird, die objektiv geeignet ist, eine andere Person sexuell zu belästigen.[49]

III. Geeignetheit und Erforderlichkeit

Schließlich müsste eine strafrechtliche Sanktionierung des Catcallings geeignet sein, die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen.[50] Eine gesetzgeberische Maßnahme ist geeignet, wenn sie nicht „schlechthin“ ungeeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen, wobei dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zugestanden wird.[51] Unter Berücksichtigung dieses weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes wäre eine das Catcalling unter Strafe stellende Norm, jedenfalls nicht offensichtlich ungeeignet, die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen.

Weiterhin müsste eine strafrechtliche Regulierung erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn keine gleich geeigneten, aber milderen Mittel zur Erreichung des Regelungszwecks zur Verfügung stehen.[52] Gegen eine Strafbarkeit des Catcallings wird teils die Subsidiarität des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes vorgebracht und als Alternative eine ordnungsrechtliche Regulierung vorgeschlagen.[53] Die Ahndung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten unterliegt, anders als die Ahndung und Verfolgung von Straftaten, dem Opportunitätsprinzip (§ 47 Abs. 1 S. 1 OWiG). Dies stellt im Gegensatz zum im Strafrecht geltenden Legalitätsprinzip (§ 152 StPO) zwar ein milderes, gegebenenfalls aber auch weniger geeignetes Mittel zur Verfolgung nicht körperlicher sexueller Belästigungen dar.[54] Hinsichtlich der Frage, inwiefern eine legislatorische Maßnahme mehr oder weniger geeignet ist als eine andere, kommt dem Gesetzgeber – wie bereits auf Ebene der Geeignetheit — eine weite Einschätzungsprärogative zu.[55] Die Erforderlichkeit wird somit erst verneint, wenn dem Gesetzgeber offensichtlich mildere aber gleich geeignete Mittel zur Verfügung stehen. So wäre er zwar grundsätzlich frei darin, andere, als strafrechtliche Maßnahmen, zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung zu treffen, entscheidet er sich jedoch für das dem Legalitätsprinzip unterfallende Strafrecht, fällt dies in den Spielraum des ihm eingeräumten Ermessens und eine entsprechende Regelung wäre erforderlich.

IV.Angemessenheit 

Zu guter Letzt müsste eine strafrechtliche Regulierung angemessen sein. Dies setzt voraus, dass die durch sie erfolgenden Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Zweck stehen.[56]

1. Beeinträchtigte Grundrechte durch eine strafrechtliche Sanktionierung

Bei der Sanktionierung nicht körperlicher sexueller Belästigungen ist zunächst zu berücksichtigen, dass hierdurch das demokratiekonstituierende Grundrecht der Meinungsfreiheit[57] eingeschränkt wird und deshalb eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und der Meinungsfreiheit vorzunehmen ist.[58] Entsprechend ist eine die sexuelle Belästigung unter Strafe stellende Norm im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen und in ihrer die Meinungsfreiheit einschränkenden Wirkung ihrerseits wiederum einzuschränken (sog. Wechselwirkungslehre), wobei das BVerfG von einer Vermutung zugunsten der Meinungsfreiheit ausgeht.[59] Hieraus folgen zwei weitere wichtige Einschränkungen einer möglichen strafrechtlichen Regulierung: Zunächst sind ambivalente Äußerungen im Sinne der Meinungsfreiheit auszulegen, sodass tatbestandsmäßig nur solche Äußerungen sein können, die einen eindeutigen sexuellen Bezug aufweisen. Andere Äußerungen, die – jedenfalls auch – als Kompliment verstanden werden können (bspw. Äußerungen zum Aussehen), müssen aus dem Tatbestand ausscheiden. Außerdem sind ähnlich wie bei § 185 StGB (Beleidigung) nur diejenigen Äußerungen unter Strafe zu stellen, die keinen Bezug zu einer sachlichen Auseinandersetzung aufweisen, sondern allein die Belästigung einer anderen Person bezwecken.[60]

Darüber hinaus bringen Straftatbestände gegenüber dem durch sie mit Strafe bedrohtem Verhalten ein sozial-ethisches „Unwerturteil“ zum Ausdruck und sind deshalb mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der allgemeinen Handlungsfreiheit des*der Täter*in verbunden.[61] Strafrechtliche Sanktionen greifen entsprechend intensiv in die Freiheitsgrundrechte der Bürger*innen ein, sodass sie lediglich als ultima ratio – sprich als letztes Mittel des Staates – zur Erreichung bestimmter Ziele in Betracht kommen.[62]

2. Intensität der Beeinträchtigung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung durch nicht körperliche sexuelle Belästigungen

Auf der anderen Seite würde eine das Catcalling unter Strafe stellende Norm die sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützen (s.o.). Das BVerfG zieht zur Bestimmung der Eingriffsintensität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verschiedene Sphären der Persönlichkeitsentfaltung mit jeweils unterschiedlichem Schutzniveau heran. Während die Sozialsphäre den geringsten Schutz genießt, sind Eingriffe in die Privatsphäre unter strikter Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig. Eingriffe in die Intimsphäre – dem absolut geschützten, unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung – sind dagegen stets unzulässig. Für eine am Gewährleistungsgehalt des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung orientierte Bestimmung der Strafwürdigkeit des Catcallings ist eine solche Herangehensweise nur bedingt geeignet. Denn es geht gerade nicht um Eingriffe des Staates in eine mehr oder weniger geschützte Sphäre der Persönlichkeitsentfaltung, sondern um die Gewährleistung sexueller Selbstbestimmung und die Frage, inwieweit diese Gewährleistung den Schutz vor Catcalling-Erfahrungen umfasst.[63] Entsprechend wird im Folgenden nach einer am Grundrechts-     gehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts orientierten Herangehensweise, die Schutzintensität danach bestimmt, inwieweit die Zugangskontrolle des*der Einzelnen – sprich die Befugnis des*der Einzelnen über sich selbst nach eigenen Maßstäben zu verfügen – durch nicht körperliche sexuelle Belästigungen betroffen ist.[64] Für eine geringe Beschränkung eben dieser Zugangskontrolle könnte sprechen, dass Betroffenen in aller Regel die Möglichkeit, sich aus der Situation zu entfernen und somit eine gewisse Kontrolle verbleibt. Doch kann eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung nicht dadurch abgemildert werden, dass danach die Möglichkeit besteht, sich aus der entsprechenden Situation zu entfernen.[65] Vielmehr muss im Zeitpunkt des Übergriffs danach gefragt werden, inwieweit hierdurch dem*der Einzelnen die Verfügungsbefugnis über den Zugang zu sich selbst entzogen wird. Im Falle eines „Catcalls“ wird zwar die Zugangskontrolle des*der Einzelnen dergestalt aufgehoben, dass er*sie ungefragt in ein sexuelles Geschehen hineingezogen wird, allerdings bleibt – anders als bei körperlichen Übergriffen – die Verfügungsbefugnis über den eigenen Körper bestehen. Die Intensität der Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung ist entsprechend geringer als bei körperlichen sexuellen Belästigungen.

Um die Intensität der Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung weiter zu konkretisieren, werden im Folgenden die Ergebnisse einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. zu Ausmaß und Folgen von Catcalling dargestellt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass je stärker das Ausmaß und je intensiver die Folgen, desto eher wird man davon ausgehen können, dass Catcalling mit spürbaren Beeinträchtigungen der Zugangskontrolle und mithin der sexuellen Selbstbestimmung verbunden ist.

3. Catcalling-Studie

a) Studienbeschreibung

In der Studie „Catcalling – Ausmaß und Folgen der verbalen sexuellen Belästigung“ wurde eine Online-Befragung durchgeführt, deren Stichprobenauswahl anhand des Schneeballprinzips erfolgte. Entsprechend hatte die Studie nicht den Anspruch, eine repräsentative Befragung der Bevölkerung zu sein, vielmehr sollte sie als explorative Studie einen ersten Zugang zum Forschungsfeld ermöglichen. Die folgenden Auswertungen und Ergebnisse beziehen sich folglich nicht auf die Gesamtbevölkerung, sondern allein auf die befragte Personengruppe.

Nach der Datenbereinigung verblieben 3.908 Fälle in der Analysestichprobe, auf die sich die folgenden Auswertungen beziehen. Das durchschnittliche Alter der befragten Personen lag bei 30,2 Jahre (min. = 16 Jahre, max. = 72 Jahre, SD = 8,72). Die Befragten identifizierten sich zu 85,7 % als weiblich, zu 11,3 % als männlich und zu 3,0 % als divers bzw. sonstiges. Als höchster Bildungsabschluss wurde in 30,3 % das Abitur bzw. die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife, in 23,7 % ein Bachelor-Abschluss und in 26,2 % ein Master-Abschluss bzw. Diplom genannt.[66]

Das Ausmaß von Catcalling wurde mithilfe 18 verschiedener Formen sexueller Belästigungen ohne Körperkontakt abgefragt. Die Befragten sollten auf einer fünf-stufigen Skala („nie“, „selten“, „manchmal“, „oft“ und „ständig“) angeben, wie häufig sie die Formen in den letzten drei Monaten erlebt haben. Ausgehend von den Überlegungen von Quell und Dietrich wurden diese Formen später in die Kategorien „nonverbales Catcalling“, „unterschwellige sexuelle Kommentare oder Gesten“, „konkrete sexuelle Kommentare“, „sexuelle Beleidigung“, „körpernahes Catcalling“ und „digitales Catcalling“ zusammengefasst.

Insgesamt haben 75,4 % der Befragten eine Form der Kategorie „konkrete sexuelle Kommentare“ und 72,2 % eine Form der Kategorie „körpernahes Catcalling“ mindestens einmal in den letzten drei Monaten erlebt. 64,7 % der Befragten gaben an, Formen aus beiden Kategorien erfahren zu haben. Abbildung 1 kann entnommen werden, wie sich die Catcalling-Erfahrungen der beiden genannten Kategorien auf die verschiedenen Catcalling-Formen verteilen. Dabei wird die Häufigkeit „selten“, „manchmal“, „oft“ und „ständig“ sowie die Summe dieser Ausprägungen angegeben. So kann abgelesen werden, wie viel Prozent der Befragten mindestens „selten“ die jeweilige Form erlebt haben. 64,0 % der Befragten waren mindestens einmal in den letzten drei Monaten von anzüglichen Bemerkungen und 33,7 % von sexuellen Aufforderungen betroffen. Eine sexuell konnotierte Frage wurde 37,7 % der Teilnehmenden gestellt und gegenüber 58,3% wurde ein obszöner Witz geäußert. Körpernahe Catcalling-Erfahrungen machten über die Hälfte der Befragten. 58,7 % wurden durch sexuelle Annäherungsversuche belästigt, 61,2 % kam eine Person aufdringlich zu nahe, und 52,6 % hatten das Gefühl oder das Wissen, dass jemand sie aufgrund einer sexuellen Motivation verfolgt. 

Abbildung 1: Ausmaß der Catcalling-Formen der Kategorien Konkrete sexuelle Kommentare und Körpernahes Catcalling; Befragte mussten mindestens „selten“ angegeben haben.

Hinsichtlich der Folgen sollten die Befragten zum einen angeben, inwiefern sie ihre alltägliche Lebensgestaltung aufgrund ihrer Catcalling-Erfahrungen verändert haben, zum anderen inwiefern sie von psychischen Folgen betroffen sind. Auch hier werden nur diejenigen Befragten betrachtet, die zuvor angaben, entweder eine Form der Kategorie „konkrete sexuelle Kommentare“ oder der Kategorie „körpernahes Catcalling“ erlebt zu haben.

Bezüglich der psychischen Folgen (Tabelle 1) gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sich nachts allein in der Stadt unwohl zu fühlen (64,5 %) oder ein Gefühl von Unsicherheit an bestimmten Orten zu verspüren (60,3 %). Zudem sind 55,7 % der Teilnehmenden aufgrund ihrer Catcalling-Erfahrung ängstlicher, 50,7 % erlebten ein Gefühl der Bloßstellung und 30,1 % fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt.

Tabelle 1: Psychische Folgen bei Betroffenen, Anteil an Befragten (N=2711)

In Tabelle 2 wird der Anteil an weiblichen, männlichen und diversgeschlechtlichen Personen angegeben, bei denen es zu Veränderungen der alltäglichen Lebensgestaltung gekommen ist. Es werden erneut nur Personen betrachtet, die mindestens „selten“ von Formen der Kategorien „konkrete sexuelle Kommentare“ oder „körpernahes Catcalling“ betroffen waren. 45,6 % der weiblichen, 8,5 % der männlichen und 39,6 % der diversgeschlechtlichen Befragten gaben an, aufgrund von Catalling bestimmte Routen zu umgehen. Bestimmte Orte vermeiden 42,3 % der weiblichen, 12,8 % der männlichen und 45,1 % der diversgeschlechtlichen Befragten. 9,0 % der weiblichen, 2,6 % der männlichen und 14,3 % der diversgeschlechtlichen Teilnehmenden änderten ihren Kleidungsstil.

Tabelle 2. Veränderung der alltäglichen Lebensgestaltung aufgrund von Catcalling, Anteil an Befragten (N=2666)

Die Ergebnisse zeigen, dass Erfahrungen mit Catcalling unter den befragten Personen weit verbreitet sind. Je drei Viertel aller Befragten haben in den letzten drei Monaten mindestens eine Erfahrung mit konkret sexuellen Kommentaren und/oder körpernahen Formen von Catcalling gemacht. Jedenfalls für die befragte Stichprobe kann damit von einer sehr regelmäßigen und sich häufig wiederholenden Gefährdung der sexuellen Selbstbestimmung gesprochen werden. Diese Gefährdungen der sexuellen Selbstbestimmung führen bei – insbesondere weiblichen und diversgeschlechtlichen – Betroffenen nicht nur zu einem Gefühl von Unsicherheit, Unwohlsein und Ängstlichkeit, auch wirken sie sich durch das Meiden bestimmter Routen und Orte auf das Verhalten der Betroffenen im öffentlichen Raum aus. Da Catcalling-Erfahrungen vor allem weibliche und diversgeschlechtliche Personen von bestimmten öffentlichen Orten fernhalten, wirken Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG verstärkend hinsichtlich der Wahrung wesentlicher Bedingungen der Autonomie.[68] In Anbetracht der Häufigkeit, der psychischen und behavioralen Folgen – auch vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG – wäre eine strafrechtliche Regelung entsprechend angemessen. Die im Vergleich zu körperlichen Übergriffen vergleichsweise geringere Betroffenheit der sexuellen Selbstbestimmung wäre durch das Erfordernis einer erheblichen Belästigung auf Tatbestandsseite[69] und einem Strafrahmen im unteren Bereich auf Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.

V. Fazit

Catcalling ist eine weit verbreitete Erscheinung, die insbesondere junge Frauen als alltäglichen Übergriff in ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht hinnehmen müssen. So haben in der befragten Stichprobe 7 von 10 Proband*innen in den letzten drei Monaten konkret sexuelle Kommentare oder körpernahe Formen von Catcalling erlebt. Dabei ist Catcalling nicht allein ein quantitatives Problem, vielmehr führt es zu mannigfaltigen psychischen Folgen und Verhaltensänderungen der Betroffenen. Demnach fühlen sich mehr als die Hälfte der Betroffenen unwohl, wenn sie nachts alleine in der Stadt unterwegs sind, unsicher, wenn sie sich an bestimmten Orten aufhalten, ängstlicher oder bloßgestellt. Daneben änderte fast jede zweite Person aufgrund von Catcalling-Erfahrungen ihre alltägliche Lebensgestaltung, indem sie bestimmte Routen oder Orte mied; immerhin jede 10. betroffene Person änderte aufgrund von Catcalling-Erfahrungen ihren Kleidungsstil. Zwar handelt es sich bei nicht körperlichen sexuellen Belästigungen um einen im Vergleich zu den übrigen Sexualdelikten eher weniger schwerwiegenden Eingriff in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, angesichts der Häufigkeit, der psychischen Folgen und Verhaltensänderungen, sind damit dennoch spürbare Beeinträchtigungen der Zugangskontrolle und damit der sexuellen Selbstbestimmung verbunden.

Catcalling stellt also einen empfindlichen Übergriff in die eigene Sphäre, in das eigene Sicherheitsgefühl und die empfundene Freiheit dar. Hierbei von einer bloßen „Bagatelle“ zu sprechen,[70] wird der Angst, die solches Verhalten auslösen kann, weder gerecht noch sollte dies – insbesondere von (männlichen) Personen, die von solchen Erfahrungen in aller Regel verschont bleiben – unbedacht geäußert werden. Die Bekämpfung patriarchaler Vorstellungen und Strukturen auf gute Erziehung in der Familie, in der Schule oder in der Jugendsozialarbeit zu verweisen,[71] erscheint vor dem Hintergrund über Jahrtausende gewachsener Vorstellungen über hegemoniale Männlichkeit doch etwas zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es gerade Aufgabe des Staates, die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu fördern und patriarchale Strukturen zu überwinden (s. Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG). Hierfür kann der Gesetzgeber auch zum Strafrecht greifen.

 

 

[1]      Quell, Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein., online abrufbar unter: https://www.openpetition.de/petition/online/es-ist-2020-catcalling-sollte-strafbar-sein (zuletzt abgerufen am 9.8.2022).
[2]      S. etwa „Catcallsofhannover“: https://www.instagram.com/catcallsofhannover/?utm_medium=copy_ (zuletzt abgerufen am 9.8.2022).
[3]      Gemmel/Immig, KriPoZ 2022, 83 (83); Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (183).
[4]      Gemmel/Immig, KriPoZ 2022, 83 (83); Goede/Lehmann/Ram, RPsych 2022, 53 (54); Steiner, ZRP 2021, 241 (242).
[5]      BVerwG, BeckRS 2020, 10047; Andresen/Dreyer, JMS 2021, 2 (3); Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 4; krit. hierzu Hörnle, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), § 184 Rn. 21; Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (180).
[6]      BGH, NStZ 1986, 453 (454); BGH, NStZ-RR 2012, 206 (206); BGH, NStZ 2018, 603 (604); Andresen/Dreyer, JMS 2021, 2 (4).
[7]      Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (183); Pörner, NStZ 2021, 336 (338).
[8]      Andresen/Dreyer, JMS 2021, 2 (4).
[9]      BGH, NStZ 2018, 603.
[10]    OLG Düsseldorf, NJW 2001, 3563.
[11]    Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 5.
[12]    Auch wenn als maßgebliche Rechtsgutsverletzung im Falle von Catcalling teils eine Beeinträchtigung der Ehre diskutiert wird (vgl. etwa Steiner, ZRP 2021, 241 [243]), sieht der überwiegende Teil der Literatur eine Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung als notwendige Voraussetzung für eine umfassende strafrechtliche Regulierung des Catcallings (Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 5; Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 [184]; Pörner, NStZ 2021, 340 [341]). Dementsprechend beschränkt sich der vorliegende Artikel auf die sexuelle Selbstbestimmung als potenziell beeinträchtigtes Rechtsgut.
[13]    Verortung unter dem „legitimen Zweck“, „da hierdurch jeder moralistische Missbrauch des Strafrechts schon a limine ausgeschlossen wird“, siehe hierzu Roxin, Strafrecht AT, 5. Aufl. (2020), Rn. 78.
[14]    Sachs, in: Sachs, GG, 9. Aufl. (2021), Art. 20 Rn. 149.
[15]    Roxin, § 2 Rn. 1a ff.
[16]    BGH, NJW 1969, 1818 (1819); BT-Drs. VI/3521; Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), Vorb. zu den §§ 174 ff. Rn. 1; Renzikowski, in: MüKo-StGB, Vorb. zu § 174 Rn. 2 ff.; Roxin, § 2 Rn. 17 ff.
[17]     BT-Drs. VI/3521; Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten, 2012, Rn. 28; Renzikowski, in: MüKo-StGB, Vorb. zu § 174 Rn. 2 ff.; Roxin, § 2 Rn. 18.
[18]    Zum Meinungsstand, vgl. Valentiner, Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, 2021, S. 201.
[19]    BVerfG, NJW 2020, 905; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 97. EL (2022), Art. 2 Abs. 1 Rn. 130; Rixen, in: Sachs, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 45; Valentiner, S. 383.
[20]    BVerfGE 7, 198; BVerfGE 88, 203; Sachs, Verfassungsrecht II — Grundrechte, 3. Aufl. (2017) S. 52 ff; Schilling, KritV 1999, 452 (454 ff.); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 26 ff.
[21]    BVerfGE 96, 56 (63); BVerfGE 54, 148 (153); BVerfGE 79, 256 (268); Eifert, JA 2015, 1181 (1188); Valentiner, S. 216.
[22]    Valentiner, S. 122 ff.
[23]    BVerfGE 83, 130 (140); BVerfG, NJW 2008, 1137 (1138); BVerfG, NJW 2008, 3117 (3118); Lang, in: BeckOK-GG, 51. Ed. (2022), Art. 2 Rn. 39a; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 200 ff.
[24]    Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 187 ff; Valentiner, S. 17 f.
[25]    BVerfG, NJW 2008, 1137 (1138).
[26]    Urteile zum Transsexuellengesetz werden im Folgenden nicht erwähnt, da Geschlechtsidentität in Anlehnung an Valentiner nicht als Teil der sexuellen Selbstbestimmung verstanden wird, zur Begründung vgl. Valentiner, S. 194 ff.
[27]    BVerfG, NJW 2009, 3357.
[28]    BVerfG, NJW 2016, 1229.
[29]    Pörner, NStZ 2021, 340 (340).
[30]    Hörnle, ZStW 2015, 851 (859); Laubenthal, Rn. 29; Renzikowski, in: MüKo-StGB, Vorb. zu § 174 Rn. 8; Pörner, NStZ 2021, 340 (340); Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. zu den §§ 174 ff. Rn. 1b; Sick/Renzikowski, in: FS Schroeder, 2006, S. 604; Bottke, in: FS Otto, 2007, S. 536 f., 540 f., 553 f.
[31]    Ablehnend wohl Steiner, Rn. 243, der sich gegen die Ansiedlung im 13. Abschnitt ausspricht, da keine Körperlichkeit gegeben sei; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. (2018), § 183 Rn. 1, der bei Exhibitionismus lediglich die psychische und körperliche Integrität betroffen sieht; Frommel in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 183a Rn.1; Pörner, NStZ 2021, 340 (340); zustimmend: Laubenthal, Rn. 719; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 183 Rn. 2; Roxin (2020), S. 38; Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB,§ 183a Rn. 1.
[32]    Baer, in: Lohrenscheit (Hrsg.), Sexuelle Selbstbsetimmung als Menschenrecht, 2009, S. 89 (96); Valentiner, S. 17.
[33]    Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (184); Valentiner, S. 369 ff.
[34]    Valentiner, S. 154.
[35]    Valentiner, S. 415.
[36]    BVerfGE 96, 56 (61); 117, 202 (233); 138, 377 (387); 141, 186 (210); Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 200; Valentiner, S. 399.
[37]    Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. zu den §§ 174 ff. Rn. 1b; Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (184); Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 183 Rn. 9.
[38]    BT-Drs. 19/20668, S. 15.
[39]    BVerfG, NJW 1997, 1632 (1633).
[40]    Pörner, NStZ 2021, 340 (341).
[41]    Valentiner, S. 365.
[42]    Anders bei § 173 StGB, krit. hierzu Hassemer zu BVerfG, NJW 2008, 1137.
[43]    Valentiner, S. 370 f.
[44]    Pörner, NStZ 2021, 340 (341).
[45]    Valentiner, S. 388.
[46]    BVerfG, NVwZ 2018, 877 (878).
[47]    Valentiner, S. 365 f.
[48]    Ein vergleichbares Problem stellt sich im Rahmen von § 183, wobei Ziegler, in: BeckOK-StGB, 53. Ed. (2022), § 183 Rn. 5; Laue, in: Dölling/Duttge/Rössner, StGB, 5. Aufl. (2022), § 183 Rn. 3; Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 183 Rn. 4 eine subjektive Reaktion; Hörnle, in: MüKo-StGB, § 183 Rn. 10 ff.; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, § 183 Rn. 3 sowohl die objektive Eignung als auch eine subjektive Belästigung verlangen.
[49]    Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 6.
[50]    Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 Rn. 112.
[51]    Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 Rn. 122.
[52]    Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 Rn. 113.
[53]    Lembke, Regulierungen des Intimen, 2017, S. 288; Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 5 zieht beide Alternativen in Betracht; wohl auch Antonia Quell, die von Bußgeld spricht, vgl. Quell (Fn.1).
[54]    Steiner, ZRP 2021, 241 (243).
[55]    BVerfGE 37, 104 (118); 43, 291 (347); Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20 Rn. 116.
[56]    Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 154.
[57]    BVerfGE 7, 198 (208); BVerfG, NJW 2020, 2622 (2623); Valerius in: BeckOK-StGB, § 185 Rn. 31.
[58]    BVerfG, NJW 2005, 3274; BVerfG, NJW 2009, 749; Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, § 185 Rn. 9.
[59]    BVerfGE 7, 198 (208 f.); BVerfGE 42, 143 (150); Valerius in: BeckOK-StGB, § 193 Rn. 29.
[60]    BVerfGE 82, 272 (284); BVerfG, NJW 2009, 749 (749 f.); 2009, 3016 (3017); 2017, 1460 (1460 f.); 2020, 2622 (2624); 2020, 2631 (2633); 2020, 2636 (2637); Valerius, in: BeckOK-StGB, § 19
Rn. 35; Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, § 185 Rn. 9.
[61]    BVerfG, NJW 1994, 1577 (1579).
[62]    Renzikowski, in: MüKo-StGB, Einleitung Rn. 5; Rengier, Strafrecht AT, 12. Aufl. (2020), § 3 Rn. 5.
[63]    Valentiner, S. 231.
[64]    Valentiner, S. 235.
[65]    Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (184).
[66]    Für eine ausführlichere Beschreibung der Datenerhebung und der Stichprobe siehe Goede/Lehmann/Ram, RPsych 2022, 53.
[67]    Ergebnisse zu den anderen gebildeten Kategorien sind bei Goede/Lehmann/Ram, RPsych 2022, 53 zu finden.
[68]    Valentiner, S. 384.
[69]    So auch Deutscher Juristinnenbund, 2021, S. 5; Hoven/Rubitzsch/Wiedmer, KriPoZ 2022, 175 (185).
[70]    Pörner, NStZ 2021, 340 (341).
[71]    A.a.O.

 

 

 

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