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Der Wutbürger aus der zweiten Reihe – Überlegungen zur Einschränkung des Notwehrrechts durch die Versammlungsfreiheit

von Prof. Dr. Christian Rückert 

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Abstract
Blockieren Klimaaktivist:innen Verkehrswege und wenden betroffene Autofahrer:innen Gewalt an, um die Aktivist:innen von der Straße zu entfernen, stellt sich die Frage, ob das gewaltsame Wegreißen und Wegtragen durch Notwehr gem. § 32 StGB gerechtfertigt ist. Besonders problematisch ist die Frage, ob trotz Vorliegens einer von Art. 8 GG geschützten Protestform ein rechtswidriger Angriff auf die Allgemeine Handlungsfreiheit der Autofahrer:innen vorliegt und ob das „scharfe Schwert“ des Notwehrrechts aufgrund einer mittelbaren Drittwirkung der Versammlungsfreiheit auf Ebene der Gebotenheit eingeschränkt werden muss. Diesen und weiteren Fragestellungen im Zusammenhang mit Notwehr gegen Klimaproteste widmet sich der folgende Tagungsbeitrag.

If climate activists block traffic routes and the affected motorists use force to remove the activists from the road, the question arises whether the forcible tearing away and carrying away is justified by self-defense according to § 32 StGB. Particularly problematic is the question of whether, even though the climate protests are protected by Article 8 of the German Constitution, there is an unlawful attack on the general freedom of action of the motorists and whether the „sharp sword“ of the right to self-defense must be limited due to an indirect third-party effect of the freedom of assembly at the level of necessity. These and other questions in connection with self-defense against climate protests are addressed in the following contribution.

I. Straßenblockaden als (wiederentdeckte) Protestform von Klimaaktivist:innen

Die Letzte Generation hat Straßenblockaden als Protestform wieder in die deutschen Gerichtssäle gebracht. In den meisten anhängigen oder abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahren geht es dabei um eine mögliche Strafbarkeit der Aktivist:innen wegen Nötigung gem. § 240 StGB. Überwiegend sind die Rechtsfragen in diesen Verfahren dabei seit Jahrzehnten höchstrichterlich geklärt, insbesondere die Tatbestandsmäßigkeit ist in aller Regel im Sinne der sog. Zweiten-Reihe-Rechtsprechung von BGH[1] und BVerfG[2] zu bejahen. Auch zur Verwerflichkeit i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB und der Berücksichtigung sog. Fernziele haben sich BGH[3] und BVerfG[4] in der Vergangenheit bereits geäußert, hier ist in den instanzgerichtlichen Verfahren dennoch ein unterschiedlicher Umgang mit den Vorgaben des BVerfG zu beobachten.[5] Höchstrichterlich bislang noch nicht geklärt ist dagegen die Frage, ob die von den Sitzblockaden betroffenen Bürger:innen gegen die festgeklebten Klimaaktivist:innen Notwehr üben dürfen, insbesondere, ob § 32 StGB auch das gewaltsame Abreißen der festgeklebten Körperteile mit Verursachung teilweise schwerer Verletzungen rechtfertigen kann. Vorfälle dieser Art hat es bereits gegeben, vereinzelt sind auch strafrechtliche Verfahren bekannt.[6] Auf den ersten Blick scheint § 32 StGB den Betroffenen tatsächlich das Recht zu geben, die Protestierenden gewaltsam von der Straße zu entfernen, da § 32 StGB insbesondere keine Verhältnismäßigkeitseinschränkungen kennt und daher auch die Anwendung gefährlicher Gewaltmittel gegen relativ harmlose Angriffe rechtfertigen kann, wenn den Betroffenen kein sonst gleich wirksames Mittel zur Abwehr zur Verfügung steht. Bei genauerer Betrachtung kommen allerdings Zweifel auf. Erstens stellt sich die Frage, ob die Protestaktion überhaupt einen rechtswidrigen Angriff darstellt oder ob nicht vielmehr eine rechtmäßige, von Art. 8 GG geschützte Versammlung vorliegt. Selbst wenn dennoch ein rechtswidriger Angriff angenommen werden würde, muss der Blick genauer darauf gerichtet werden, ob die Versammlungsfreiheit nicht im Wege einer mittelbaren Drittwirkung zu einer Einschränkung auf Ebene der Gebotenheit der Notwehr führen muss. Beiden Fragen geht der folgende Beitrag nach.

II. Der Ausgangsfall

Die folgenden Betrachtungen gehen dabei von folgendem (fiktiven) Beispielsfall aus:

Umweltaktivistin U klebt – gemeinsam mit anderen Aktivist:innen – ihre Handflächen mit stark haftendem Klebstoff auf den Straßenbelag einer vielbefahrenen Hauptstraße, um den Verkehr dort lahmzulegen und damit gegen die unzureichenden Maßnahmen des Staates und der Zivilgesellschaft gegen die Klimakatastrophe zu demonstrieren. Hierdurch entsteht ein Stau auf der Hauptstraße. Der in zweiter Reihe stehende Wutbürger W will das Eintreffen der Polizei nicht abwarten, reißt Us Hände gewaltsam von der Straße und trägt sie weg, um den Weg für sich freizumachen und weiterfahren zu können. Dabei erleidet U erhebliche Verletzungen.

Strafbarkeit des W?

III. Die Notwehrlage: Der rechtswidrige Angriff auf die Allgemeine Handlungsfreiheit

Zunächst liegt – und das dürfte weitgehend unstreitig sein – ein gegenwärtiger, da fortdauernder, Angriff auf die Allgemeine Handlungsfreiheit des W vor, da dieser sein Auto nicht weiterbewegen kann. Ob daneben auch ein Angriff auf die Fortbewegungsfreiheit vorliegt, hängt davon ab, ob es dem W im konkreten Fall rechtlich erlaubt ist, sein Fahrzeug zu verlassen und ggf. zu Fuß weiterzugehen. Dieser Frage wird mangels Relevanz für den hiesigen Beitrag nicht näher nachgegangen. Schwieriger zu beurteilen ist dagegen die Frage, ob der Angriff auf die Allgemeine Handlungsfreiheit des W auch rechtswidrig ist. Hinzuweisen ist dabei zunächst darauf, dass es hierfür nicht auf ein tatbestandsmäßiges Handeln nach § 240 Abs. 1 StGB ankommt. Denn ein rechtswidriger Angriff kann auch unterhalb der Schwelle der Verwirklichung eines Straftatbestandes bzw. auch bei der Bedrohung von Rechtsgütern, die in der konkreten Situation nicht durch einen Straftatbestand geschützt sind, vorliegen.[7] Vorausgesetzt wird lediglich, dass – zumindest nach h.M.[8] – der Angreifer Handlungsunrecht in Form von zumindest fahrlässigem Verhalten hinsichtlich der Rechtsgutsbedrohung verwirklicht und sein Verhalten nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt ist.[9] Während das Handeln der Klimaaktivist:innen in aller Regel vorsätzlich, sogar absichtlich, hinsichtlich der Einschränkung der Allgemeinen Handlungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer:innen erfolgt, kommen durchaus verschiedene Rechtfertigungsgründe in Betracht.

1. Keine Rechtfertigung durch den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des zivilen Ungehorsams

Zu Recht wird bislang einhellig eine Rechtfertigung durch den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des sog. zivilen Ungehorsams verneint. Eine solche Rechtfertigung kommt nur unter den Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG in Betracht, welche in den Fällen der Klimaproteste nicht vorliegen.[10] Andernfalls würde man die engen Voraussetzungen der geregelten Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, unterlaufen.

2. Keine „Klimanotwehr“ nach § 32 StGB

Auch auf Notwehr können sich die Protestierenden nicht berufen. Zum einen, weil Angriffe auf Universalrechtsgüter wie den Erhalt der Umwelt keine Angriffe im Sinne von § 32 StGB sind. Die – heute kaum noch vertretene Gegenauffassung – würde § 32 StGB zu einer quasi-polizeirechtlichen Jedermanns-Generalklausel umfunktionieren und das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen.[11] Zum anderen fehlte es jedenfalls an der Rechtswidrigkeit des „Angriffs“ der Autofahrer:innen auf den Klimaschutz, da diese sich im Rahmen der erlaubten Nutzung von Straßen und Kraftfahrzeugen bewegen.[12]

3. Kein „Klimanotstand“ nach § 34 StGB

Zwar ermöglicht § 34 StGB auch die Abwehr von Gefahren für die Rechtsgüter der Allgemeinheit – wie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen i.S.v. Art. 20a GG – und setzt auch keine Rechtswidrigkeit der Gefahr voraus. Allerdings liegen nicht alle Voraussetzungen der Notstandshandlung vor. Nicht zweifeln kann man – vor dem Hintergrund des sehr niederschwelligen Maßstabs der Geeignetheitsprüfung und der Bestimmung aus der ex ante-Perspektive – an der Geeignetheit der Protestaktion zur Abwehr der Gefahr für den Klimaschutz durch die Generierung von Aufmerksamkeit und – eine hieraus folgende – Einflussnahme auf den politischen Diskurs, welcher schließlich in konkreten Maßnahmen münden kann.[13] Über das Vorhandensein eines milderen, aber gleich effektiven Mittels wird man – vor dem Hintergrund der bisher unzureichenden politischen Maßnahmen für den Klimaschutz – streiten können, insbesondere deshalb, weil das Tatgericht im Einzelfall konkret darlegen muss, welches mildere Mittel tatsächlich gleich effektiv gewesen wäre. Dies dürfte selten gelingen. Allerdings fehlt es sowohl an einem wesentlichen Überwiegen der Klimaschutzinteressen über die Allgemeine Handlungsfreiheit der einzelnen Verkehrsteilnehmer:innen, da die Wahrscheinlichkeit der „Rettung“ des Klimas durch die Protestaktion sehr klein, der Verlust der Allgemeinen Handlungsfreiheit dagegen als sicher gilt und die „Gesamtgefahr“ für das Klima auch nicht von den einzelnen Autofahrer:innen allein ausgeht. Gleichsam ist die Blockade auch nicht „angemessen“ iSv § 34 S. 2 StGB, weil für die Einflussnahme auf die politische Willensbildung in einem demokratischen Rechtsstaat andere Mittel vorrangig zu ergreifen sind.[14]

4. Verfassungs- und verwaltungsrechtlich erlaubte Versammlung als Rechtfertigung?

Schließlich kommt eine Rechtfertigung durch das Versammlungsrecht in Frage. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass eine nach Versammlungsrecht rechtmäßige Versammlung den Versammlungsteilnehmer:innen auch – in bestimmten Grenzen – erlauben muss, in die Rechte und Freiheiten anderer einzugreifen. Besonders bedeutsam ist dabei der Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit oder sogar Fortbewegungsfreiheit durch das Stattfinden der Versammlung selbst. Jede Versammlung behindert den Verkehr – und sei es nur den Fußgängerverkehr. Daher ist es im Ausgangspunkt zwingend, einer nach Versammlungsrecht erlaubten Versammlung auch rechtfertigende Wirkung im Straf- und Zivilrecht zuzubilligen. Dies gilt – da das Versammlungsrecht als besonderes Verwaltungsrecht die erlaubten Grenzen einfachgesetzlich festlegt – auch unabhängig davon, ob man Grundrechten unmittelbar rechtfertigende Wirkung im Strafrecht beimisst oder nicht.[15]

Die Systematik der Versammlungsgesetze der Länder und des Bundes sieht als Ausgestaltung der Schrankenregelung in Art. 8 Abs. 2 GG vor, dass Versammlungen, welche in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fallen, grundsätzlich erlaubt sind und nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der Beschränkungsvorschriften (z.B. § 15 VersG, Art. 15 BayVersG) eingeschränkt, verboten und – ggf. in einem zweiten Schritt nach Verbot der Versammlung – aufgelöst werden können. Dagegen existieren gerade keine einfachgesetzlichen Erlaubnisvorbehalte für Versammlungen – diese wären auch verfassungswidrig. Im Gegenteil: Einige Versammlungsgesetze der Länder stellen sogar klar, dass es keiner Erlaubnis zur Benutzung öffentlicher Verkehrsflächen durch die Versammlung bedarf (siehe z.B. § 12 VersFG SH und § 13 VersFG BE). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungen solange erlaubt sind, bis sie per Verwaltungsakt von der zuständigen Behörde verboten und/oder aufgelöst werden. Da bis zum Verbot oder der Auflösung die Versammlungen den Eingriff in die Allgemeine Handlungsfreiheit/Fortbewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer:innen rechtfertigen müssen, ist die ggf. tatbestandlich vorliegende Nötigung solange gerechtfertigt, bis die Versammlung verboten und/oder aufgelöst wurde.[16]

Für die Rechtfertigung der Klimaaktivist:innen ist damit entscheidend, ob ihre Straßenblockaden noch als friedlich eingestuft und damit vom Schutzbereich des Art. 8 GG umfasst werden können. Nach der Rspr. des BVerfG sind Sitzblockaden zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit, auch wenn dabei in die Allgemeine Handlungsfreiheit/Fortbewegungsfreiheit Dritter eingegriffen wird, weder allein deshalb unfriedlich noch aus anderen Gründen vom Schutzbereich des Art. 8 GG ausgenommen.[17] Auch ob eine Versammlung angemeldet ist oder nicht, spielt für die Eröffnung des Schutzbereichs keine Rolle (ggf. aber auf Ebene der Einschränkungsregelungen in den Versammlungsgesetzen).[18] Dabei hat das BVerfG auch entschieden, dass zwar grds. Behinderungen Dritter von Art. 8 GG nur insoweit gerechtfertigt sind als diese sozialadäquate Nebenfolge einer rechtmäßigen Demonstration seien,[19] Sitzblockaden zumindest aber dann von der Versammlungsfreiheit erfasst sind, wenn die Blockade dem Ziel der öffentlichen Meinungsäußerung oder -bildung dient, insbesondere Aufmerksamkeit für ein politisches Anliegen der Demonstrierenden generieren soll.[20] Dementsprechend sind Straßenblockaden zum Zweck der Generierung/Erhöhung von Aufmerksamkeit bzgl. der Ziele des Klimaschutzes als grds. vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gedeckt anzusehen. Daraus lässt sich nun der Schluss ziehen, dass die von den Blockaden ausgehenden Beeinträchtigungen der Allgemeinen Handlungsfreiheit, ggf. auch der Fortbewegungsfreiheit, solange als erlaubt und damit nicht rechtswidrig iSv § 32 StGB anzusehen sind, bis die Versammlung von der zuständigen Behörde auf Grundlage der Versammlungsgesetze des Bundes oder der Länder (soweit diese solche erlassen haben) verboten und/oder aufgelöst wurde. Eine andere Beurteilung – etwa deshalb, weil der Rechtswidrigkeitsbegriff in § 32 StGB nicht versammlungsrechtsakzessorisch behandelt wird – würde dazu führen, dass § 32 StGB die bewusst eng gezogenen Grenzen der Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten der Versammlungsgesetze umgeht, indem betroffene Bürger:innen eine rechtswidrige Versammlung ohne Beteiligung der Versammlungsbehörde eigenmächtig gewaltsam auflösen dürften. Eine solche Lösung würde in dem vorliegenden grundrechtssensiblen und mit einer erheblichen Eskalationsgefahr verbundenen Situation zu einem Teilverlust des staatlichen Gewaltmonopols führen.

5. Auswirkungen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB auf die Rechtswidrigkeit des Angriffs gem. § 32 Abs. 2 StGB?

Die bisher h.M. berücksichtigt die Wertungen des Art. 8 Abs. 1 GG dagegen auf Ebene der Rechtswidrigkeit des Angriffs im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB. Inhaltlich ist bei dieser Prüfung umstritten, ob bei der vorzunehmenden Mittel-Zweck-Relation als Zweck nur die Nahziele der Nötigungshandlung (Blockade des Verkehrs)[21] oder auch die Fernziele (Klima- und Umweltschutz)[22] zu berücksichtigen sind. Das BVerfG geht einen Mittelweg: Zu berücksichtigen ist – um Art. 8 GG ausreichend Rechnung zu tragen – zumindest das Zwischenziel der Generierung von Aufmerksamkeit für das politische Anliegen der Blockierenden.[23] Im Rahmen dieser Berücksichtigung des Aufmerksamkeitszwischenziels sind folgende Faktoren für die Abwägung im Rahmen von § 240 Abs. 2 StGB relevant: Soziale Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens, Dauer und Intensität der Blockade, vorherige Bekanntgabe der Protestaktion, Ausweichmöglichkeiten für die betroffenen Verkehrsteilnehmer, die Dringlichkeit des Anliegens der betroffenen Verkehrsteilnehmer (z.B. Krankentransport, Termin zum Vorstellungsgespräche etc.), der Sachbezug zwischen Protestgegenstand und den vom Protest betroffenen Personen.[24] Die Verwerflichkeit hängt danach von vielen Einzelfallfragen ab, bei denen keine abstrakte Bewertung möglich ist. Da jedenfalls aber die soziale Gewichtigkeit des Klimaschutzes als hoch einzuschätzen ist und bei der Blockade des Individualkraftfahrverkehrs auch ein enger Sachbezug zum Klimaschutz besteht, sind in vielen Fällen, in denen kein besonders dringliches Anliegen der Blockierten vorliegt (wie etwa ein Krankentransport o.ä.), zumindest „stau-übliche“ Beeinträchtigungsdauern in der Regel hinzunehmen und eine Verwerflichkeit in diesen Fällen zu verneinen.[25]

Wie Effer-Uhe unlängst jedoch überzeugend herausgearbeitet hat, kommt es für die Frage der Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne des Notwehrrechts gar nicht auf die Frage der Verwerflichkeit iSv § 240 Abs. 2 StGB an. Grund hierfür ist, dass der Verwerflichkeitsmaßstab für § 240 Abs. 2 StGB bewusst höher angesetzt ist als der allgemeine Rechtswidrigkeitsmaßstab bei § 32 StGB. Während für § 240 Abs. 2 StGB erforderlich ist, dass eine Mittel-Zweck-Relation unter Einbeziehung aller Tatumstände ergibt, dass das eingesetzte Nötigungsmittel zur Erreichung des angestrebten Nötigungszwecks als verwerflich anzusehen ist,[26] genügt für § 32 StGB, dass der Täter einfaches Handlungsunrecht in Form von mindestens fahrlässigem Handeln bzgl. der drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung verwirklicht und seinerseits nicht von einem allgemeinen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist.[27] Dabei kann der fehlenden Verwerflichkeit zwar eine rechtfertigende Wirkung hinsichtlich der Strafbarkeit des Nötigenden zukommen, jedoch gleichzeitig nicht die Rechtswidrigkeit des Angriffs auf die Handlungs- oder Willensfreiheit des Angegriffenen entfallen lassen. Andernfalls drohte für die Handlungs- oder Willensfreiheit eine Notwehrlücke bzw. eine ungeschriebene Notwehrbeschränkung, weil diese Rechtsgüter gegen Angriffe durch Gewalt oder Drohung nur bei bestehender Verwerflichkeit geschützt wären (anders als andere Rechtsgüter, für die eine allgemeine Rechtswidrigkeit unterhalb der Verwerflichkeitsschwelle ausreicht, um den Anwendungsbereich von § 32 StGB zu eröffnen). Die berechtigte Einschränkung der Anwendbarkeit des § 240 StGB, der andernfalls aufgrund seiner tatbestandlichen Weite auch alltägliches und nicht strafwürdiges Verhalten erfassen würde, würde so plötzlich zur Einschränkung der Verteidigung von Rechtsgütern bei den Betroffenen werden. Daher führt eine fehlende Verwerflichkeit nicht automatisch zu einem Entfallen der Rechtswidrigkeit des Angriffs auf die Handlungs- oder Willensfreiheit.[28]

6. Zwischenergebnis

Nach alledem hängt die Rechtswidrigkeit des Angriffs der Blockierenden auf die Handlungsfreiheit, ggf. auch die Fortbewegungsfreiheit, der Blockierten nach hier vertretener Auffassung vor allem davon ab, ob die Blockadeaktion in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG fällt (idR bei rein passivem Blockieren und sachbezogenem Anliegen wie dem Klimaschutz: ja) und ob die zuständige Versammlungsbehörde die Versammlung im Einzelfall verboten und ggf. aufgelöst oder im Vorfeld durch eine Allgemeinverfügung untersagt hat.

IV. Exkurs: Die Subsidiarität der privaten Notwehr gegenüber gleich effektiver staatlicher Hilfe

Soweit nach oben geschilderten Maßstäben ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff durch die Protestierenden bejaht wird, stellt sich in vielen Fällen die Frage, ob die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung der Blockierten deshalb verneint werden muss, weil staatliche Hilfe – hier durch Auflösung der Versammlung durch die Polizei – das vorrangig zu berücksichtigende Abwehrmittel darstellt. Die h.M. differenziert hier unter Berufung auf die Grundsätze zum Einsatz des sog. relativ mildesten Mittels (ein milderes Abwehrmittel muss nur gewählt werden, wenn es den Angriff gleich wirksam und gleich schnell beendet wie das schärfere Abwehrmittel) danach, ob die staatliche Hilfe bereits präsent ist und ob die staatliche Hilfe gleich effektiv ist.[29] Bei nicht präsenter Hilfe ist es offensichtlich, dass das eigene Handeln der Blockierten den Angriff schneller beendet als das Zuwarten auf das Eintreffen der staatlichen Hilfe (inklusive der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sicherheitsrecht verursachten weiteren Dauer bis zur tatsächlichen Auflösung unter Einsatz unmittelbaren Zwangs). Ist staatliche Hilfe präsent, wird häufig dennoch die eigene Abwehr (das gewaltsame Abreißen der angeklebten Hände von der Straße und das gewaltsame Wegtragen der Aktivist:innen) der schnellere Weg zur Abwehr des Angriffs sein. Die Bindung der Polizei an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – der für private Notwehr gerade nicht gilt – führt dazu, dass die Polizei das Ablösen der Hände grds. nicht gewaltsam, sondern unter Einsatz von Lösungsmitteln und unter möglichster Schonung der körperlichen Unversehrtheit der Protestierenden vornehmen muss. Ob sich die betroffenen Bürger:innen dennoch aufgrund der (mittelbaren Dritt-) Wirkung von Art. 8 GG auf die Auflösung durch die Polizei verweisen lassen müssen, wird sogleich noch näher im Rahmen der sog. sozialethischen Notwehreinschränkungen betrachtet. Allein unter dem Gesichtspunkt des sog. relativ mildesten Mittels ist dies jedenfalls selten der Fall.

V. Sozialethische Notwehreinschränkungen aufgrund der Versammlungsfreiheit?

Schließlich kann der Versammlungsfreiheit in den hier behandelten Fällen auf der Ebene der Gebotenheit im Wege sog. sozialethischer Notwehreinschränkungen Rechnung getragen werden. Dabei lässt sich ein Einfluss von Art. 8 GG auf die Gebotenheit der Notwehrhandlung auf Grundlage der herrschenden dualistischen Notwehrkonzeption leicht begründen. Im Rahmen dualistischer Notwehrkonzepte[30] können die ausdifferenzierten Wertungen des einfachgesetzlichen Versammlungsrechts und die notwendigen Abwägungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene der Versammlungsfreiheit die Notwendigkeit der Verteidigung der Rechtsordnung absenken und so eine Beschränkung des Notwehrrechts rechtfertigen. Es handelt sich um eine mittelbare Drittwirkung von Art. 8 GG auf das Notwehrverhältnis zwischen den beteiligten Bürger:innen.

Inhaltlich könnte eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts aufgrund der Versammlungsfreiheit unterschiedlich ausgestaltet sein. Eine Möglichkeit wäre es, die Subsidiarität der privaten Notwehr gegenüber staatlichen Maßnahmen zur Auflösung der Versammlung zu verschärfen und die Blockierten auch bei nicht präsenter, jedoch herannahender staatlicher Hilfe auf ein Zuwarten zu verweisen. Hiervon wiederrum könnten bei besonders gewichtigen Anliegen (z.B. zeitkritischer Krankentransport) Rückausnahmen gemacht werden. Eine zweite Möglichkeit wäre es, den Maßstab für die Annahme eines sog. krassen Missverhältnisses abzusenken. In der Fallgruppe des krassen Missverhältnisses ist von der h.M. bereits jetzt anerkannt, dass bei geringfügigen Angriffen – insbesondere auf Eigentum, Besitz und Ehre – keine schweren Verletzungen oder Tötungen des Angreifers vom Notwehrrecht gedeckt sind.[31] Unter dem Eindruck der Versammlungsfreiheit ließe sich argumentieren, dass – wenn nicht ein besonders zeitkritischer Fortbewegungsgrund besteht – bereits dann ein solches Missverhältnis angenommen werden muss, wenn die notwendigen Verletzungen der Protestierenden über die leichten Verletzungen des gewaltsamen Wegtragens hinausgehen. Insbesondere das Abreißen der festgeklebten Hände wäre dann unzulässig.

VI. Thesen/Takeaways

1. Einfallstore für die Wertungen der Versammlungsfreiheit im Notwehrrecht sind die Rechtswidrigkeit des Angriffs und die Gebotenheit.

2. Die Nötigung durch Straßenblockaden im Rahmen von Klimaprotesten ist idR nicht von einem allgemeinen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund gedeckt. Allerdings wirkt eine von Art. 8 GG gedeckte und den Versammlungsgesetzen erfasste Versammlung solange auch strafrechtlich rechtfertigend, bis die zuständige Versammlungsbehörde die Versammlung im Wege eines Verwaltungsakts (ggf. einer Allgemeinverfügung im Vorfeld) auf Grundlage des jeweiligen Versammlungsgesetzes verboten, ggf. aufgelöst hat. Vorher liegt kein rechtswidriger Angriff vor.

3. Dagegen liegt auch bei Verneinung der Verwerflichkeit der Nötigung durch die Protestierenden dennoch ein rechtswidriger Angriff gegenüber den Blockierten vor (soweit ein solcher nach den Maßstäben unter 2. vorliegt), weil der Rechtswidrigkeitsbegriff in § 32 StGB nicht deckungsgleich mit dem Rechtswidrigkeitsbegriff in § 240 Abs. 2 StGB ist.

4. Die Erforderlichkeit der Notwehr ist zu verneinen, wenn staatliche, gleich effektive Hilfe präsent ist.

5. Art. 8 GG entfaltet mittelbare Drittwirkung auf der Ebene der Gebotenheit. Möglich wäre eine verschärfte Subsidiarität der privaten Notwehr gegenüber noch nicht präsenter staatlicher Hilfe oder die Absenkung der Schwelle für die Annahme eines sog. krassen Missverhältnisses.

 

[1]      BGH, NJW 1995, 2643.
[2]      BVerfG, NJW 2011, 3020.
[3]      BGH, NJW 1988, 1739 (1740).
[4]      BVerfG, NJW 2002, 1031 (1034).
[5]      AG Berlin-Tiergarten, NStZ 2023, 239; AG Freiburg, KlimR 2023, 59; AG Freiburg, BeckRS 2022, 38216; AG München, BeckRS 2022, 43646.
[6]      https://www.allgaeuer-zeitung.de/bayern/staatsanwaltschaft-ermittelt-nach-klimaprotest-auch-gegen-autofahrer_arid-525330 (zuletzt abgerufen am 26.9.2023).
[7]      Siehe Erb, in: MüKoStGB, 4. Aufl. (2020), § 32 Rn. 53.
[8]      Statt vieler Erb, in: MüKoStGB, 4. Aufl. (2020), § 32 Rn. 41 ff. m.w.N.
[9]      Statt vieler Erb, in: MüKoStGB, § 32 Rn. 48 ff. m.w.N.
[10]    OLG Celle, NStZ 2023, 113; BayObLG, BeckRS 2023, 8998; Preuß, NZV 2023, 60 (71 f.) m.w.N.
[11]    Zum Ganzen mit Nachweisen Erb, in: MüKoStGB, § 32 Rn. 100.
[12]    T. Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401 (403 f.).
[13]    Wie hier T. Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401 (404 f.); a.A. Rönnau, JuS 2023, 112 (114); offengelassen von AG Flensburg, KlimR 2023, 25.
[14]    Zum Ganzen: T. Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401 (405 f.) m.w.N. zu beiden Merkmalen.
[15]    Ablehnend z.B. Böse, ZStW 113 (2001), 40; bejahend z.B. Kudlich, JZ 2003, 127; zur Rechtfertigung von Klimaprotesten unmittelbar aus Art. 8 GG Homann, JA 2023, 649 (653 f.).
[16]    Vgl. hierzu auch BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 33 a.E. und BVerfG, NJW 2002, 1031 (1032) sowie BVerfG, NJW 1987, 43 (47).
[17]    BVerfGE 73, 206 (248) = NJW 1987, 43; BVerfGE 87, 399 (406) = NJW 1993, 581; BVerfGE 104, 92 (103 f.) = NJW 2002, 1031; BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 33.
[18]    BVerfGE 69, 315 (351) = NJW 1985, 2395; BVerfGK 4, 154 (158) = NJW 2005, 353 L; BVerfGK 11, 102 (108) = NVwZ 2007, 1180; BVerfG, NJW 2011, 3020 Rn. 33.
[19]    BVerfGE 73, 206 (250) = NJW 1987, 43; BVerfG, NJW 2002, 1031 (1033).
[20]    BVerfG, NJW 1987, 43; BVerfG, NJW 1993, 581; BVerfG, NJW 2002, 1031 (1032 f.).
[21]    So BGH, NJW 1988, 1739 (1740); BayObLG, NJW 1993, 212 (213); OLG Stuttgart, NJW 1991, 994 (995).
[22]    Siehe z.B. Neumann, ZStW 109 (1997), 1 (13 ff.); LG Bad Kreuznach, NJW 1988, 2624 (2627 ff.).
[23]    BVerfG, NJW 2002, 1031 (1034).
[24]    BVerfG, NJW 2002, 1031 (1034); Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401 (407 f.).
[25]    Zimmermann/Griesar, JuS 2023, 401 (407 f.).
[26]    Statt vieler Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 240 Rn. 17 m.w.N
[27]    Statt vieler Erb, in: MüKoStGB, § 32 Rn. 41 ff. m.w.N.
[28]    Zum Ganzen ausführlich und überzeugend: Effer-Uhe, NJOZ 2023, 576.
[29]    Statt vieler Engländer, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. (2020), § 32 Rn. 34 m.w.N.
[30]    Überblick über verschiedene Notwehrbegründungskonzepte bei Rückert, Effektive Selbstverteidigung und Notwehrrecht, 2017, S. 17 ff.
[31]    Statt vieler Momsen/Savic, in: BeckOK-StGB, 58. Ed. (2023), § 32 Rn. 35 m.w.N.

 

 

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