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Ein neues Mordmerkmal zum Schutz von Frauen und vulnerablen Personen? – Reform der Tötungsdelikte

von Prof. Dr. Thomas Weigend

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Abstract
Das Ziel, Frauen und besonders verletzliche Personen gegen Gewalttaten zu schützen, verdient Zustimmung. Eine generelle Einstufung der Tötung einer Frau als Mord ist jedoch nicht zu befürworten; eine solche Regelung wäre mit der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit gleichen Lebensschutzes für alle Geschlechter nicht zu vereinbaren. Erwägenswert ist eine Ausdehnung des Mordmerkmals der Heimtücke auf andere Fälle situativer Wehrlosigkeit des Opfers. Allerdings stellt es eher den Normalfall als einen besonders schweren Fall einer vorsätzlichen Tötung dar, dass der Täter eine erfolgversprechende Situation für die Tötung auswählt. An die Stelle isolierter Manipulationen in dem insgesamt misslungenen Gefüge der §§ 211, 212 StGB sollte ein neuer Anlauf zu einer Gesamtreform der Materie treten.

The goal of protecting women and particularly vulnerable persons from acts of violence deserves support. Not every killing of a woman should be treated as aggravated murder (Mord), however; such a solution would be irreconcilable with the constitutional principle of equal protection. The legislature might consider extending the offense element of treacherous killing (Heimtücke) to other instances in which the victim cannot well protect himself or herself. However, it is a normal rather than an extraordinarily reprehensive modus operandi for an offender to choose a situation in which he is likely to succeed. Instead of looking for isolated changes, the legislature should undertake another attempt at an overall reform of the law on intentional homicide.

I. Das gesetzgeberische Programm zum Schutz von Frauen vor Gewalt

„Wir wollen Gewaltkriminalität bekämpfen und insbesondere Frauen besser schützen. Deshalb verbessern wir den strafrechtlichen Schutz von Frauen und besonders verletzlichen Personen wie Kindern, gebrechlichen Menschen und Menschen mit Behinderung durch ein neues Qualifikationsmerkmal bei den Tatbeständen von Mord und prüfen dies bei gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub.“

Dieser Programmsatz steht im Koalitionsvertrag von 2025 (nicht etwa im Bereich „Strafrecht“, sondern) unter dem Titel „Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und schutzbedürftige Personen und Stärkung von Frauenrechten“.[1] Schon die Überschrift lässt eine gewisse Diffusität der Schutzrichtung des Vorhabens erkennen, und dieser Eindruck verstärkt sich bei der näheren Lektüre der beiden Sätze. Aber zunächst stoßen „Maßnahmen gegen Gewalt“ und die „Stärkung von Frauenrechten“ als Ziele sicher nicht auf Widerspruch. Ein politisches Programm, das diese Ziele verfolgt, entspricht vielmehr dem Zeitgeist und der verbreiteten Wahrnehmung, dass Gewalttaten speziell gegen Frauen in den letzten Jahren zugenommen haben.

II. Hintergrund: Gewalt gegen Frauen und Femizid

Das „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamts von 2024 scheint diese Annahme zu bestätigen. Danach ist die Zahl der bei der Polizei bekannt gewordenen Opfer von „Partnerschaftsgewalt“ zwischen 2019 und 2023 von 142.000 auf 168.000 (also um 18 %) gestiegen;[2] 79 % der Opfer im Jahr 2023 waren Frauen.[3] Allerdings umfasst der dort verwendete Begriff der „Partnerschaftsgewalt“ auch Taten wie Nötigung, Bedrohung, Freiheitsberaubung und Stalking,[4] geht also über den herkömmlichen Begriff der Gewalt deutlich hinaus. Ein Teil der Zunahme der Opferzahl in diesem Bereich kann möglicherweise auch mit erhöhter Sensibilität und Anzeigebereitschaft von Frauen aufgrund der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahren erklärt werden.

Blickt man nur auf die vollendeten und versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikte zwischen Partnern, so liegt der Anteil der Frauen unter den Opfern bei 67 %. Auch hier zeigt sich von 2019 bis 2023 eine erhebliche Steigerung: Die Zahl der weiblichen Opfer (incl. Versuchen) hat innerhalb dieser Jahre von 437 auf 509 (um 16,5 %) zugenommen.[5] Die Zahlen zeigen, dass die Annahme wachsender – auch tödlicher – Gewalt gegen Frauen speziell in Partnerschaften[6] nicht nur einem Gefühl entspricht, sondern durch die Polizeistatistik bestätigt wird.

Ein weiterer Hintergrund für das Vorhaben der Koalitionspartner liegt möglicherweise in der internationalen Bewegung gegen „Femizid“.[7] Dieser Bewegung liegt die Annahme zugrunde, dass die häufige Tötung von Frauen durch Männer, speziell durch aktuelle oder frühere Partner, eine Folge struktureller männlicher Dominanz in der Gesellschaft sei.[8] Allerdings ist sehr umstritten, wie der Begriff „Femizid“ definiert werden soll.[9] Die häufigste Formulierung, die auf die Soziologin Diana E.H. Russell zurückgeht, sieht in „Femizid“ die Tötung einer Frau durch einen Mann, „weil sie Frau ist“.[10] Dieses Konzept wirft die Frage auf, ob es auf die subjektive Motivation des Täters oder auf objektiv definierte Fallgruppen einer strukturellen Dominanz des Mannes[11] ankommen soll. Andere Varianten des Begriffsverständnisses von „Femizid“ verwenden als Kriterium die Tötung einer Frau durch einen (aktuellen oder früheren) männlichen Partner,[12] die fehlende Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers[13] oder die Verletzung bestimmter (männlicher) Rollenerwartungen durch die getötete Frau.[14] Alle diese abstrakten Begriffsverständnisse lassen sich allerdings in unterschiedlicher Weise operationalisieren; gemeinsam haben sie nur, dass nicht jede Tötung einer Frau die besondere Qualität eines Femizids haben soll. Wollte man den Koalitionsvertrag in dem Sinne verstehen, dass zukünftig jede Tötung einer Frau als Mord zu qualifizieren sein soll, so ginge dies also sogar über das hinaus, was die internationale Anti-Femizid-Bewegung fordert. 

Auch die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen[15] verlangt keine spezielle Qualifikation für Tötungen von Frauen. Nach Art. 46 lit. a der Konvention sollen die Mitgliedstaaten lediglich dafür sorgen, dass bestimmte Straftaten (darunter Tötung) nach dem staatlichen Recht strenger bestraft werden können, wenn sie sich gegen eine frühere oder derzeitige Ehefrau oder Partnerin beziehungsweise gegen einen früheren oder derzeitigen Ehemann oder Partner richten. Es handelt sich also um eine geschlechtsneutrale Bestimmung, die die Bekämpfung von häuslicher Gewalt im weitesten Sinne im Auge hat.

III. Effektive Maßnahmen gegen Gewalt

Männer, die aus Frauenhass oder -verachtung oder auch aus patriarchalischem Besitzdenken gewalttätig werden, gibt es – leider – nicht nur in fernen Weltgegenden, sondern auch in Deutschland. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Regierungskoalition auf diesem Gebiet aktiv werden möchte. Um Frauen und Kinder vor körperlichen Übergriffen zu schützen, gibt es auch eine ganze Reihe von staatlichen Maßnahmen, die effektive Abhilfe versprechen. Zu denken ist zunächst an die gezielte Hinführung von Jungen zu einem gewaltfreien, respektvollen Umgang mit dem anderen Geschlecht im Rahmen des Schulunterrichts. Im Vordergrund müsste jedoch die praktische Hilfe zur räumlichen Trennung der Frau von einem gewalttätigen Partner stehen, vor allem durch den Ausbau des derzeit noch sehr defizitären Netzes an Frauenhäusern, aber auch durch das Angebot von bezahlbarem Wohnraum für alleinerziehende Mütter. Hinzukommen sollte der präventive Schutz vor Gewalt durch Ex-Partner oder Stalker, etwa durch die Einführung einer wirksamen elektronischen Überwachung der Einhaltung von Kontaktverboten.[16]

Von solchen – zugegebenermaßen kostspieligen – Maßnahmen ist im Koalitionsvertrag leider nicht die Rede. Stattdessen setzen die Koalitionspartner (wieder einmal) auf die scheinbar kostengünstige Alternative, die Strafrahmen zu erhöhen, hier sogar in Richtung auf die nach § 211 StGB zwingend vorgeschriebene lebenslange Freiheitsstrafe. Dieser übliche gesetzgeberische Reflex ist schon deshalb kurzsichtig, weil eine Anhebung der Höchststrafe das Strafleiden der Betroffenen erhöht, aber dafür kaum einen nennenswerten spezial- oder generalpräventiven Gewinn verspricht.[17] Eine Rechtfertigung könnte also nur aus Gerechtigkeitserwägungen folgen, um normative Ungleichheiten zwischen gleich schweren Arten des Unrechts zu beseitigen. Die im Koalitionsvertrag apostrophierten Tötungsfälle müssten also mindestens ebenso schwer wiegen wie die heute schon von § 211 StGB erfassten.

IV. Notwendigkeit einer Gesetzesänderung

Vorab ist allerdings zu fragen, ob manche der ins Auge gefassten Fälle nicht bereits von § 211 StGB in der geltenden Fassung abgedeckt sind. Das gilt insbesondere für die Tötung einer Frau aus misogyner oder patriarchalisch-bevormundender Motivation – sie lässt sich, insbesondere vor dem Hintergrund der Erweiterung der Strafzumessungsgründe in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB um „geschlechtsspezifische Beweggründe“,[18] ohne große Mühe als „niedriger Beweggrund“ klassifizieren.[19] Damit dürfte auch ein großer Teil der Tötungen der Partnerin wegen einer bevorstehenden oder von der Frau vollzogenen Trennung erfasst sein. Hier sollten die Gerichte allerdings die tatsächliche Motivation des Mannes im konkreten Fall zu ermitteln versuchen, da eine empfundene tiefe Verletzung nicht zwingend mit der Vorstellung verbunden sein muss, dass die Frau im Besitz des Mannes stehe.[20]

V. Zur Formulierung des Gesetzgebungsvorhabens

Bevor ich mich der grundsätzlichen Frage nach einer Definition besonders schutzbedürftiger Gruppen als Mordmerkmal zuwende, ein paar Bemerkungen zu der Formulierung des Vorhabens im Koalitionsvertrag:

  1. In der Beschreibung des Vorhabens ist davon die Rede, dass ein „neues Qualifikationsmerkmal bei den „Tatbeständen von Mord“ geschaffen werden soll. Da es bisher nur einen solchen Tatbestand gibt, stellt sich die Frage, ob ein weiterer Mord-Tatbestand (vielleicht ohne „Lebenslang“ als zwingende Rechtsfolge?) kreiert werden soll.
  2. Nach dem Text des Vertrages sollen „insbesondere Frauen“ besser vor Gewalt geschützt werden. Soll das auch für physisch starke Frauen (etwa ausgebildete Kampfsportlerinnen) gelten? Sollen Trans-Personen ebenfalls in den besonderen Schutz einbezogen werden? Wenn nein, warum nicht?
  3. Soll Frauen der erhöhte Schutz nur gegenüber Angriffen von Männern gewährt werden, oder auch gegenüber Frauen als Täterinnen?
  4. Unklar ist der Zusammenhang des Geschlechts mit dem Merkmal der besonderen Verletzlichkeit. Die Formulierung des Entwurfs bezieht sich auf den „Schutz von Frauen und besonders verletzlichen Personen“ wie Kindern und gebrechlichen Menschen. Wird bei Frauen damit generell eine größere Vulnerabilität als bei Männern angenommen? Wenn ja, auf welcher Grundlage? Werden Frauen bezüglich der Verletzlichkeit auf dieselbe Stufe wie Kinder und Gebrechliche gestellt? Wenn nein, was rechtfertigt das gleiche Schutzniveau für beide Gruppen? Die (möglicherweise) zugrunde gelegte Gleichung „Frau = Kind = besonders verletzlich“ würde jedenfalls nicht aufgehen.
  5. Erwogen wird auch die Einführung eines Qualifikationsmerkmals der Zugehörigkeit zu einer der besonders verletzlichen Personengruppen beim Schweren Raub (§ 250 StGB) und der Gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB). Bei diesen Tatbeständen wirkt bisher nur die gesundheitsgefährdende Ausführung der Tat strafschärfend (abstrakt durch Verwendung einer Waffe oder bei konkreter Gesundheits- oder Lebensgefährdung). Damit wird einer situativen besonderen Verletzlichkeit des Opfers bereits Rechnung getragen. Es stellt sich die Frage, weshalb darüber hinaus noch (unveränderliche) Umstände, die allein die Person des Opfers betreffen, zu einer Unrechtssteigerung führen sollen.

VI. Grundsätzliche Fragen

1. Geschlecht des Opfers als Qualifikationsmerkmal?

Die zuletzt genannte Frage bezeichnet ein allgemeines Problem des hier besprochenen legislativen Programms. Denn in § 211 StGB würde durch die vorgeschlagene Erweiterung ein neues Paradigma der Unrechtssteigerung eingeführt: Nicht die verwerfliche Motivation des Täters oder die besonders gefährliche Tatausführung sollen die Tötung qualifizieren, sondern allein ein persönliches Merkmal des Opfers. Dies würde in doppelter Weise zu einem Konflikt mit dem Gleichheitssatz führen: Zum einen würde bestimmten, durch ein unveränderliches Merkmal beschriebenen Personengruppen die Fähigkeit zur individuellen Resilienz, also zur Abwehr drohender Gefahren, pauschal abgesprochen – sie sollen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Schwäche des besonderen staatlichen Schutzes bedürfen, ob sie wollen oder nicht.[21] Zum anderen wird der Rechtsschutz der (wiederum: pauschal und unabänderlich) nicht als vulnerabel definierten Personengruppen gegenüber dem Schutz der verletzlichen Gruppen verringert – die Tötung eines (nicht gebrechlichen) Mannes wird ceteris paribus milder bestraft als die Tötung einer Frau. Dies ließe sich mit Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG schwerlich vereinbaren.[22]  

2. Situative Verletzlichkeit als Qualifikationsmerkmal?

Eine Reform, die diesen Konflikt mit dem Verfassungsrecht vermeiden will, kann eine Strafschärfung nur auf eine gesteigerte, vom Täter ausgenutzte situative Verletzlichkeit des Opfers stützen. Ein solches Mordmerkmal enthält der geltende § 211 StGB bereits mit der Heimtücke. Der Grund für die strengere Bestrafung des „heimtückisch“ handelnden Täters soll ja gerade in der besonderen Gefährlichkeit seines Vorgehens für das Opfer liegen, oder anders ausgedrückt, in der verringerten Abwehrchance des Opfers gegenüber dem überraschend, „hinterrücks“ ausgeführten Angriff auf sein Leben.[23]  Wenn man die „unfaire“  Angriffstaktik des Täters, die dem Opfer gezielt die Abwehrmöglichkeit nimmt, als unrechtssteigernd ansieht,[24] sprechen Überlegungen der normativen Konsistenz dafür, die Mordstrafe auch für auch andere, ähnliche Fälle der situativen Chancenlosigkeit des Opfers gegenüber dem tödlichen Angriff vorzusehen.[25] Besonders streng zu bestrafen wäre dann auch die Tötung in einer Situation, in der das Opfer zwar nicht überrascht wird, aber dem Angriff dennoch schutzlos ausgesetzt ist, etwa weil es bewusstlos, gelähmt oder auch aufgrund seines geringen Lebensalters ohne Abwehrmöglichkeit ist. Eine vom Bundesministerium der Justiz einberufene Expertengruppe für die Reform der Tötungsdelikte hatte sich schon 2015 mehrheitlich für eine ähnliche Formulierung ausgesprochen: „Das Abgrenzungskriterium der heimtückischen Tatbegehung ist durch ‚oder Ausnutzung einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzlosigkeit‘ zu ergänzen.“[26] Mit einer solchen Ausdehnung würde sich auch die seltsame Unterscheidung der Rechtsprechung zwischen freiwillig eingeschlafenen (Heimtücke) und ohnmächtig gewordenen (keine Heimtücke) Opfern[27] erledigen. Eine Neu-Formulierung in diesem Sinne könnte an das Vorbild des Qualifikationsmerkmals bei der sexuellen Nötigung in § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB anknüpfen, wonach der Täter strenger bestraft wird, weil er „eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“.

Es bestehen jedoch Zweifel, ob die oben beschriebene „Gefährlichkeit“ des Vorgehens des Täters tatsächlich eine signifikante Steigerung des Tötungsunrechts zu bewirken vermag. Dies würde voraussetzen, dass der normative Normalfall der vorsätzlichen Tötung ein verabredetes, gewissermaßen ritterliches Duell zweier gleich starker Kontrahenten ist, bei dem einer von ihnen getötet wird; nur dann könnte man sagen, dass der Täter, der diese Form der chancengleichen Auseinandersetzung nicht einhält und sich eine situativ gegebene Schutzlosigkeit des Opfers zunutze macht, gesteigertes Unrecht verwirklicht. Wird aber nicht jeder rational handelnde Täter, der eine Tötung beabsichtigt, eine Situation suchen, in der die Tötungshandlung erfolgversprechend und für ihn möglichst risikoarm ist? Dies kann er etwa tun, indem er sich bewaffnet, seine vorhandene körperliche Überlegenheit ausnutzt oder eben auf das Überraschungsmoment setzt. Nicht nur empirisch, sondern auch normativ dürfte dies eher der „Normalfall“ der Tötung als eine unrechtssteigernde Ausnahme sein.[28] Daher besteht kein Anlass, das Ausnutzen einer situativen Schutzlosigkeit des Opfers als Mordmerkmal zu definieren. Eher könnte man in den seltenen Fällen, in denen die Tötung in einer Zweikampf-ähnlichen Situation zwischen gleich starken Gegnern geschieht, an eine Minderung der Schuld des Täters (wegen einer provokationsähnlichen Konfliktlage) denken.

VII. Wo bleibt die Gesamtreform?

Abschließend sei noch die Frage erlaubt, weshalb die Koalitionsparteien, wenn sie schon Eingriffe in das Gefüge von §§ 211 und 212 StGB vornehmen wollen, keinen größeren Ehrgeiz für die längst fällige Gesamtreform der Materie entwickeln. Der Umstand, dass die ambitionierten Anläufe der Jahre 2015 und 2016[29] erfolglos versandet sind, sollte einem neuen Versuch zu einer Reform des Gesamtkomplexes durch frische politische Kräfte nicht im Wege stehen. An Vorschlägen für Lösungen, die weniger irrational sind als das geltende Recht, besteht ja kein Mangel.

 

[1]      Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperionde, 2025, Zeile 2916 ff.
[2]      BKA, Häusliche Gewalt. Bundeslagebild 2023, 2024, S. 13, online abrufbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/HaeuslicheGewalt/HaeuslicheGewalt2023.html (zuletzt abgerufen am 11.7.2025).
[3]      BKA (Fn. 2), S. 5.
[4]      BKA (Fn. 2), S. 1 f. Der Anteil der im Text genannten Straftaten an den gemeldeten Fällen von „Partnerschaftsgewalt“ betrug 24,6 %; a.a.O. S. 15.
[5]      BKA (Fn. 2), S. 72.
[6]      Bei (vollendeten und versuchten) vorsätzlichen Tötungsdelikten insgesamt lag der Anteil weiblicher Opfer 2023 nur bei 32,4 %; Bundesministerium des Innern und für Heimat, Polizeiliche Kriminalstatistik 2023. Ausgewählte Zahlen im Überblick, S. 44, online abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/pks-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 11.7.2025).
[7]      Dazu Russell/Radford (Hrsg.), Femicide. The Politics of Woman Killing, 1992; eingehend und informativ Schuchmann/Steinl, KritJ 54 (2021), 312.
[8]      In diese Richtung z.B. Taylor/Jasinski, Femicide and the Feminist Perspective, Homicide Studies 15 (2011), 341 (https://doi.org/10.1177/1088767911424541).
[9]      S. dazu Grzyb/Naudi/Marcuello-Servos, Femicide Definitions, in: Weil/Corradi/Naudi (Hrsg.), Femicide in Europe, 2018, S. 17; Fitz-Gibbon/Walklate, Cause of Death: Femicide, Mortality 28 (2023), 236 m.w.N.
[10]    S. zur Entwicklung der Begrifflichkeit Russell, Defining Femicide, 2012 (https://www.dianarussell.com/defining-femicide-.html).
[11]    Diesen Ansatz verfolgt etwa ein Arbeitspapier des U.N. Office on Drugs and Crime, Statistical framework for measuring the gender-related killing of women and girls (also referred to as “femicide/feminicide”), 2022, S. 9, online abrufbar unter: https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Statistical_framework_femicide_2022.pdf (zuletzt abgerufen am 11.7.2025). Dort wird femicide verstanden als “killings committed on the grounds of gender-related factors such as the ideology of men’s entitlement and privilege over women, social norms regarding masculinity, and the need to assert male control or power, enforce gender roles, or prevent, discourage or punish what is considered to be unacceptable female behaviour”.
[12]    In diesem Sinne etwa Baldry/Magalhães, in: Weil/Corradi/Naudi (Hrsg.), Femicide across Europe, 2018, S. 71 ff.
[13]    S. Cecchi et al., A medico-legal definition of femicide, Legal Medicine 59 (2022) (https://doi.org/10.1016/j.legalmed.2022.102101): “a murder perpetrated because of a failure to recognize the victim’s right to self-determination”.
[14]    Schuchmann/Steinl, KritJ 54 (2021), 314 f.
[15]    Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt v. 11.5.2011, online abrufbar unter: https://rm.coe.int/1680462535 (zuletzt abgerufen am 11.7.2025).
[16]    Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren hat im Juni 2025 die Anwendung der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung auf die Einhaltung von Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz ausdrücklich begrüßt; Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 223. Sitzung der IMK, Nr. 33, online abrufbar unter: https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2025-06-13_DOK/beschl%C3%BCsse.pdf__blob=publicationFile&v=1 (zuletzt abgerufen am 11.7.2025).
[17]    Im Übrigen ist in gravierenden Fällen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe nach § 212 Abs. 2 StGB ja auch beim Fehlen eines Mordmerkmals möglich.
[18]    Dazu Steinl, NStZ 2025, 129.
[19]    Zu dem Zusammenhang zwischen der Neufassung von § 46 Abs. 2 StGB und der Motivgeneralklausel in § 211 StGB auch BT-Drs. 20/5913, S. 65 f.
[20]    BGH, NStZ 2019, 518. Zutr. differenzierend Rissing-van Saan/Zimmermann, in: LK-StGB, 13. Aufl. (2023), § 211 Rn. 69 f. mit Nachw. aus der Rspr.; s. auch Sternberg-Lieben/Steinberg, in: TK-StGB, 31. Aufl. (2025), § 211 Rn. 63. Hierbei ist allerdings nicht der Rechtsprechung des 1. Senats des BGH zu folgen, derzufolge es gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes zur Tötung der Partnerin sprechen soll, dass die Trennung von ihr ausgegangen ist (BGH, NStZ 2009, 568; NStZ 2019, 204 [205 f.]); mit Recht kritisch H. Schneider, ZRP 2021, 183 (185); Schuchmann/Steinl, KritJ 54 (2021), 312 (323 ff.); Steinl, NStZ 2025, 129 (130).
[21]    Eingehend zum Freiheitsverlust durch die vom Staat propagierte Ausdehnung der „Vulnerabilität“ Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft, 2024, S. 35 ff.
[22]    Einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz bei genereller Qualifikation einer Tötung von Frauen zum Mord sieht auch H. Schneider, ZRP 2021, 183 (186). Ignor, in: BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211-213, 57a StGB), S. 521 spricht von einem rechtshistorischen Atavismus, der in einem auf Gleichheit angelegten Strafrecht nicht mehr ohne Willkür begründbar sei.
[23]    Grundlegend dazu BGHSt 11, 139 (143): „Der Grund dafür, daß das Gesetz den, der heimtückisch einen Menschen tötet, als Mörder mit lebenslangem Zuchthause bedroht, liegt in der besonderen Gefährlichkeit seines Vorgehens. Er überrascht das Opfer in einer hilflosen Lage und hindert es dadurch, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen, den Angreifer umzustimmen, in sonstiger Weise dem Anschlage auf sein Leben zu begegnen oder die Durchführung wenigstens durch solche Bemühungen zu erschweren.“
[24]    Eschelbach, in: BeckOK-StGB, 65. Ed. (2025), § 211 Rn. 41 sieht hierin einen Grund für eine gesteigerte „Verwerflichkeit“ der Tat – das ist allerdings eine inhaltsarmes Allerweltskriterium.
[25]    Ähnliche Überlegung bei Eschelbach, in: BeckOK-StGB, § 211 Rn. 41.
[26]    BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211-213, 57a StGB), S. 44. Ähnlich der Vorschlag eines Regelbeispiels für Mord bei Rissing-van Saan, in: LK-StGB, 13. Aufl. (2023), vor § 211 Rn. 170 („unter Ausnutzung seiner Arg- und Wehrlosigkeit oder einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzlosigkeit tötet“).
[27]    S. dazu Saliger, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Aufl. (2023), § 211 Rn. 57.
[28]    Treffend Haas, ZStW 128 (2016), 316 (334 f.), unter Hinweis auf Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 125.
[29]    Neben dem Abschlussbericht einer hochkarätig besetzten Expertengruppe (Fn. 26) gab es einen ausformulierten Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz: Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Tötungsdelikte v. 21.3.2016, online abrufbar unter: file:///D:/User/Downloads/RefEReformderTtungsdelikte21.Mrz2016.pdf (zuletzt abgerufen am 11.7.2025).

 

 

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