I. Einleitung
Am 20. Juni 2025 fanden sich die Mitglieder des Kriminalpolitischen Kreises (KriK) zu einer Zwischentagung zu den „Herausforderungen und Chancen des Koalitionsvertrages“ zusammen. Durch den Tag moderierten Frau Prof. Dr. Elisa Hoven, Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Heinrich und Herr Prof. Dr. Thomas Weigend. Das Programm erstreckte sich über die im Koalitionsvertrag angekündigten wichtigsten Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht und beinhaltete jeweils einen Vortrag sowie eine anschließende Diskussionsrunde.
II. Streichung überflüssiger Vorschriften – Wie kann das StGB entrümpelt werden?
Nach einer kurzen Begrüßung und Einführung durch Frau Prof. Dr. Elisa Hoven startete Prof. Dr. Christoph Sowada von der Universität Greifswald mit seinem Vortrag zur Streichung überflüssiger Vorschriften im StGB in den Tag und zog eine Bilanz zu den bisherigen Forderungen und Empfehlungen des KriK an den Gesetzgeber.[1] Zunächst nahm er Bezug auf die Stellungnahme zu kriminalpolitischen Reformen in der Legislaturperiode 2021-2025[2], in der die Mitglieder vordringliche Reformaufgaben in einer „A-Liste“ und weitere Reformanliegen in einer „B-Liste“ kategorisierten, je nach Dringlichkeit oder Längerfristigkeit der anstehenden Aufgaben. Das Eckpunktepapier des BMJ aus November 2023 zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs[3] griff bereits mehrere Straftatbestände auf, die angepasst, bzw. aufgehoben werden sollten. Mitte Dezember 2024 brachte die Fraktion der FDP kurz vor den Neuwahlen einen auf dem Eckpunktepapier basierenden Gesetzentwurf zur Modernisierung des Strafrechts[4] in den Bundestag ein. Mangels abschließender Abstimmung unterfiel der Vorschlag der Fraktion jedoch der Diskontinuität. Der Koalitionsvertrag zur 21. Legislaturperiode „Verantwortung für Deutschland“ zwischen CDU, CSU und SPD[5] verspricht nun unter der Überschrift „Modernisierung des Strafrechts“, dass das StGB weiterentwickelt und geprüft werde, welche Vorschriften überflüssig seien und gestrichen werden könnten.[6] Dieser Befund sei – so Sowada – grundsätzlich erfreulich, man dürfe sich mangels eines breit aufgestellten Entkriminalisierungskonzepts aber nicht der Illusion hingeben, dass alle wünschenswerten Änderungen auch angestrebt würden.
Bezüglich der wünschenswerten Änderungen im StGB verwies Prof. Sowada auf die zeitlich nach dem Eckpunktepapier erschienenen einschlägigen Beiträge aus der Wissenschaft.[7] Insbesondere der Beitrag von Thomas Fischer in der Festschrift für Werner Leitner liste über das Eckpunktepapier hinaus 28 weitere Tatbestände des Besonderen Teils des StGB auf, über deren Streichung oder zumindest Abmilderung nachgedacht werden sollte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Streichung überflüssiger Vorschriften zeige jedenfalls, dass der kurze Passus dazu im Koalitionsvertrag durchaus mit Leben gefüllt werden könne. Sowada äußerte sich jedoch dahingehend kritisch, ob der Schwerpunkt schließlich auf der Entkriminalisierung liegen werde. Dazu führte er einen Gastkommentar Fischers in LTO an, in dem es heißt: „Das (materielle) Strafrechtsprogramm der neuen Bundesregierung besteht, mit einer kleinen Ausnahme (Ankündigung, einmal mehr prüfen zu wollen, ob vielleicht Tatbestände überflüssig sind), ausschließlich aus Verschärfungen sowie Absichten, ‚Lücken‘ durch neue Tatbestände schließen zu wollen. Das gibt erneut Anlass zu dem Hinweis, dass die ‚Lücke‘ gerade das Wesen des Strafrechts ist und per se nicht kritikwürdig, sondern begrüßenswert ist – jedenfalls so lange nicht jegliches menschliche Verhalten unter Strafdrohung gestellt wird.“[8] Und auch hinsichtlich einer Streichung der Leistungserschleichung aus dem StGB habe sich das Justizministerium zuletzt zurückhaltend geäußert[9], so Sowada.
Zur Identifizierung von überflüssigen Tatbeständen im StGB warf Sowada im Folgenden einen Blick auf eine Umfrage unter Strafrechtslehrer:innen aus dem Jahr 2016, die zu 72 Rückmeldungen und zu 195 Nennungen führte, die sich auf 74 Straftatbestände verteilten. Die damals am häufigsten genannten Tatbestände (mit mind. 5 Nennungen) seien die §§ 173, 217, 89a (b, c), 226a, 166, 167a, 183, 184, 184a, 184f, 299 Abs. 1 Nr. 2 (299) und 316a StGB gewesen, wobei sich die Streichung des § 217 StGB durch das Urteil des BVerfG erübrigt habe. Zum Vergleich zog er sodann die Liste der Streichungs- bzw. Änderungsvorschläge aus dem Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Modernisierung des Strafrechts[10] heran. Dort sei § 142 StGB prominent genannt (der zwar nicht gestrichen, aber geändert werden sollte) sowie die Umwandlung der Beförderungserschleichung (§ 265a Abs. 1 Var. 3 StGB) in eine Ordnungswidrigkeit vorgeschlagen worden. Als Streichkandidaten fanden sich in der Bundestagsdrucksache die §§ 134, 184f, 290, 316a, 323b, 352, 217 und 266b (bzgl. Scheckkarten) StGB. Des Weiteren sei die Änderung des § 235 StGB, die sprachliche Bereinigung der Tötungsdelikte und des jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgesystems sowie die Aufhebung der Rechtsmittelbeschränkung in § 55 Abs. 1 JGG angeklungen. Bis auf die Streichung des § 290 StGB seien die Übereinstimmungen im Übrigen zumindest erfreulich. Das Eckpunktepapier 2023[11] habe zusätzlich noch die Streichung der §§ 284 ff. StGB, die Reduzierung der Mindeststrafe des § 184b StGB auf 6 Monate (inzwischen umgesetzt) und die Streichung des § 219a StGB (inzwischen umgesetzt) vorgesehen. Die Änderung der §§ 202a StGB ff. sollte nach Fachsymposien gesondert angegangen werden. Eine große Erweiterung der Streich- und Änderungsliste ergebe sich danach nicht. Zwecks einer weiteren Entkriminalisierung sprach sich Prof. Sowada für eine Streichung des § 173 Abs. 2 StGB (Geschwisterinzest) aus. Dieser sei in der damaligen Umfrage unter Strafrechtslehrer:innen mit 19 Nennungen auf Platz 1 der Streichungsliste gewesen, aber auch das „Containern“[12] sowie der Schutz des Lebens i.w.S. (Suizidteilnahme, §§ 216, 218 ff. StGB) würden einen potentiellen Diskussionsgegenstand bilden.
III. Ein neues Mordmerkmal zum Schutz von Frauen und vulnerablen Personen? – Reform der Tötungsdelikte
Mit der Reform der Tötungsdelikte und insbesondere mit der Frage nach einem neuen Mordmerkmal zum Schutz von Frauen und vulnerablen Personen beschäftigte sich Prof. Dr. Thomas Weigend. Die Verschriftlichung seines Beitrags findet sich ebenfalls in diesem Heft,[13] auf eine Zusammenfassung wird an dieser Stelle daher verzichtet.
IV. Reformen im Sexualstrafrecht
Im Anschluss an den Beitrag von Prof. Weigend gab Prof. Dr. Elisa Hoven einen Überblick über mögliche Reformen im Sexualstrafrecht. Auch ihr Beitrag findet sich im Folgenden in diesem Heft.[14]
V. Wahrheitsschutz durch Strafrecht? – Deepfakes, Social Bots und Fake News auf Social Media
Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Frage des Wahrheitsschutzes durch Strafrecht in Bezug auf Deepfakes, Social Bots und Fake News auf Social Media. Er startete mit einem Zitat aus dem Koalitionsvertrag, in dem unter der Überschrift „Umgang mit Desinformation“ ausgeführt wird: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können. Systematisch eingesetzte manipulative Verbreitungstechniken wie der massenhafte und koordinierte Einsatz von Bots und Fake Accounts müssen verboten werden. Wir werden durchsetzen, dass Online-Plattformen ihren Pflichten hinsichtlich Transparenz und Mitwirkung gegenüber der Aufsicht nachkommen, sowie eine verstärkte Haftung für Inhalte übernehmen.“[15] Zunächst erläuterte Prof. Hilgendorf, was unter den Begriff der „Fake News“ überhaupt zu fassen sei. Dies seien im Kern falsche Tatsachenaussagen, die v.a. mit dem Ziel der gesellschaftlichen Desinformation, politischen Einflussnahme oder zu Bereicherungszwecken eingesetzt würden. Verwandte Konzepte wie Propaganda, „alternative Fakten“, „post truth“, oder „shit storm“ spielten eine ähnliche Rolle. Streng genommen gebe es falsche Tatsachen gar nicht, da Tatsachen weder falsch noch wahr sein könnten. Dies könnten lediglich Aussagen, wurde aber durch den Gesetzgeber schon vor langer Zeit bspw. in § 263 StGB falsch angelegt. Auch die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen oder Tatsachenaussagen und Meinungen oder Tatsachenaussagen und Werturteilen sei nicht geklärt, was es schwierig mache, sich mit Fake News angemessen zu beschäftigen. Hinter den von der Pressesprecherin Trumps benannten „alternativen Fakten“ stehe eine ganze postmoderne Theorie, dass Realität konstruiert werde, alles sei nur Sprache und auch „soziale Macht“ spiele eine Rolle. Postmoderne Theoretiker seien geschockt gewesen, als durch das Lager Trumps dieser Begriff aufgegriffen und genutzt wurde, um sehr problematische politische Botschaften zu unterstützen. Dahinter stehe ein Antirealismus.
Aber auch der Begriff der Wahrheit sei klärungsbedürftig. Hilgendorf warf die Frage auf, was Wahrheitsträger seien. Tatsachen seien es nicht, hingegen könnten Tatsachenbehauptungen wahr oder falsch sein. Werte oder Normen könnten nach heutiger h.M. ebenso weder wahr noch falsch sein. Im Rahmen der Wahrheitstheorie sei es interessant, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was der Begriff Wahrheit bedeute und wie festzustellen sei, ob die Bedeutung im Einzelfall erfüllt sei. All diese Themen seien wichtig, wenn man das Problemfeld dogmatisch durchdringen wolle.
Fake News seien in erster Linie im politischen Diskurs, aber auch im Journalismus und dort im traditionellen Journalismus sowie im Populärjournalismus (soziale Medien) zu finden. Werbeversprechen (bspw. „Katzen würden Whiskas kaufen“) seien diesbezüglich ein altes Thema, es gebe aber auch neue Bereiche, wie etwa Influencer, die vor einem großen Publikum Informationen streuten, die bspw. Kinder gefährden könnten. Letztlich gebe es aber auch in der Wissenschaft Bereiche, in denen Fake News eine Rolle spielen. Als Beispiel führte Hilgendorf Informationen zu Impfungen in der Corona-Krise an.
Ursache der heutigen Problemlage seien vor allem die technischen Möglichkeiten der Verbreitung (Internet, web 2.0, fake accounts, social bots, KI, deep fakes). Es gebe keine redaktionellen Kontrollen und die begrifflichen Konfusionen täten ihr Übriges. Dies führe dazu, dass das Problembewusstsein und die Rechtslage hinter den technischen Möglichkeiten zurückblieben. Insofern bestehe dort Handlungsbedarf. Im Strafrecht gebe es schon lange Regeln zum Umgang mit Unwahrheiten, wie bspw. den Betrugstatbestand, die üble Nachrede, Verleumdung, die Volksverhetzung, verhetzende Beleidigung, Aussagedelikte, Urkundenfälschung, die mittelbare Falschbeurkundung, Vortäuschen einer Straftat oder Strafbarkeiten im Bereich der Marktmanipulation. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Frage des weiteren Kriminalisierungsbedarfs stelle sich besonders in den Bereichen der:
- Falschnachrichten zum Zweck politischer Beeinflussung
- unzutreffender Katastrophenmeldungen
- unzutreffender (und gefahrschaffender) Behauptungen von Influencern
- Fälschungen in der Wissenschaft
- fingierten Bewertungen auf Konsumentenplattformen
- gezielt auf besonders vulnerable Gruppen abzielenden falschen Tatsachenbehauptungen
Immer wieder sei in der Diskussion auch die Frage nach einem allgemeingefassten Lügenverbot, für das strafrechtlich sehr wenig spreche.
Denke man jedenfalls über eine weitere Kriminalisierung nach, sei insbesondere auf eine begriffliche Klarheit zu achten und bspw. auf die Verwendung von Anglizismen zu verzichten. Auch sei es wichtig zu klären, um welches Schutzinteresse es letztlich gehen solle, bzw. welches Rechtsgut geschützt werden soll. Erst dann könne man über eine neue Strafbarkeit sprechen. Wichtig sei vor allem auch, die Meinungsfreiheit zu beachten und Abwägungsstrukturen zu entwickeln, die der Rechtsanwendung an die Hand gegeben werden könnten und die für Transparenz und Nachvollziehbarkeit sorgen.
Insgesamt sah Prof. Hilgendorf in seinem Resümee derzeit keinen akuten Kriminalisierungsbedarf, was nicht heiße, dass es keinen begrifflichen Klärungsbedarf oder einer Erklärung der empirischen Seite bedürfe oder der ein oder andere Straftatbestand diskutabel erscheine. Aktuell sollte eine verbesserte Aufklärung der Mediennutzer erfolgen, um bspw. für eine größere Skepsis gegenüber schriftlichen Äußerungen zu sorgen und auch eine gewisse Medienkompetenz (bspw. durch Trainings in der Schule) vermittelt werden. Es gebe bereits Trainingsprogramme, die helfen würden, Fake News zu identifizieren und damit angemessen umzugehen. Darüber hinaus sei sicherzustellen, dass die Verantwortung der Plattformbetreiber durchgesetzt werde. Dogmatische Grundlagen müssten sicherer gestaltet und präziser formuliert werden, so Hilgendorf. Es brauche begriffliche Klarstellungen, um rechtssichere Regeln formulieren zu können. Ebenso sollte aber auch die empirische Forschung vorangetrieben werden, um die Frage zu klären, wo Fake News und ähnliche Erscheinungsformen auftreten und wie sie – auch auf bestimmte Nutzergruppen – wirken. Psychologisch sei zu klären, was Menschen dazu treibe, Fake News zu publizieren und zu verbreiten und welche Faktoren die Verletzbarkeit von Opfern steigern oder minimieren. Unter den Stichworten Polarisierung und Schädigung der Demokratie sei ebenso darauf zu schauen, wie sich Fake News in der Gesellschaft auswirken.
VI. Volksverhetzung – Entziehung des passiven Wahlrechts und Strafbarkeit von Äußerungen in Chatgruppen
Frau Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski beleuchtete die Strafbarkeit wegen Volksverhetzung in Bezug auf Äußerungen in Chatgruppen sowie die mit der Strafbarkeit der Volksverhetzung einhergehende diskutierte Nebenfolge der Entziehung des passiven Wahlrechts.
Die Norm des §130 StGB (Volksverhetzung) sei bereits seit Jahren umstritten, auch wenn die Kritik leiser geworden sei. Hierbei könnte ein gewisser Gewöhnungseffekt eine Rolle spielen, aber auch eine wachsende Sensibilität in der Gesellschaft für Verletzungen durch Kommunikation. Hauptkritikpunkte an § 130 StGB seien die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit sowie die Konturlosigkeit bzw. Dysfunktionalität des Rechtsguts „Öffentlicher Friede“. Zum Schutz dieses Rechtsguts werde in die Meinungsfreiheit weit eingegriffen, wobei die Begrenzungsversuche durch Tatbestandsmerkmale bzw. Rechtsprechung bislang wenig effektiv geblieben seien. Auch die letzte Erweiterung des § 130 StGB durch einen Absatz 5, der unter bestimmten Voraussetzungen das Billigen, Leugnen oder das gröbliche Verharmlosen völkerstrafrechtlicher Verbrechen unter Strafe stellt, sei viel diskutiert und kritisiert worden. Dieser Trend scheine sich auch in der neuen Legislaturperiode fortzusetzen. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Im Rahmen der Resilienzstärkung unserer Demokratie regeln wir den Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung. Wir wollen Terrorismus, Antisemitismus, Hass und Hetze noch intensiver bekämpfen und dazu insbesondere den Tatbestand der Volksverhetzung verschärfen. Wir prüfen, inwiefern eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten, die im Zusammenhang mit der Dienstausübung antisemitische und extremistische Hetze in geschlossenen Chatgruppen teilen, eingeführt werden kann.“[16]
Zunächst widmete sich Prof. Rostalski dem Entzug des passiven Wahlrechts (§ 45 StGB). § 45 Abs. 1 StGB regelt den Kraft Gesetzes eintretenden Verlust der Amtsfähigkeit und das passive Wahlrecht, § 45 Abs. 2-5 StGB stellen es ins Ermessen des Gerichts, ob die Amtsfähigkeit und das passive Wahlrecht oder sogar das aktive Wahlrecht entzogen werden, soweit es das Gesetz besonders vorsieht (z.B. bei den Staatsschutzdelikten §§ 92a, 101, 102, 108c, 109i, 129a StGB, beim Subventionsbetrug und bei Amtsdelikten). Der Rechtscharakter der Norm werfe allerdings Fragen auf. § 45 Abs. 1 StGB werde als bloße Nebenfolge ohne Strafcharakter und § 45 Abs. 2-5 StGB als Nebenstrafe bzw. Sanktion mit strafrechtlichem Charakter gewertet, so dass man darüber diskutieren könne, in welchem Umfang überhaupt präventive Erwägungen bei der Anwendung der Norm einbezogen werden können oder sollen. § 45 StGB stehe insbesondere deshalb in der Kritik, weil die Nebenfolge den Status einer Person betreffe und daher an Ehrenstrafen erinnere und sei zudem „vormodern“ und stigmatisierend. Ferner trage die Nebenfolge nicht dem Schuldausgleich oder der Prävention Rechnung, sondern sei stattdessen ein Ausdruck von Feindstrafrecht. Ebenso sei sie unvereinbar mit dem Resozialisierungsgedanken und bevormunde den Bürger, der keine freie Entscheidung mehr treffen könne, ob er eine Person wähle, die sich wegen einer entsprechenden Tat strafbar gemacht hat. In der Praxis falle die Anwendung des § 45 StGB jedoch auch gering aus. Zwischen 2002 und 2021 seien insgesamt lediglich 24 Anordnungen in den Strafverfolgungsstatistiken registriert.
Rostalski äußerte sich hinsichtlich der Pläne der Koalition, § 130 StGB zu einem Anwendungsfall des § 45 Abs. 2 StGB zu machen, kritisch. Ihrer Ansicht nach widerspreche dies der Systematik. Bislang würden Straftaten erfasst, die den Staat und seine Einrichtungen gefährden und damit einen von § 130 StGB abweichenden Unrechtscharakter aufweisen. Trotz aller Kritik stehe aber auch hinter § 45 StGB eine gewisse Logik. Der Tatbestand stelle die Befähigung infrage, Repräsentant des deutschen Volkes zu sein und einen vertrauensvollen Dienst am Gemeinwesen zu leisten, wenn diese Person bereits durch eine Tat den demokratischen Rechtsstaat gefährdet, Landesverrat begangen oder die äußere Sicherheit gefährdet habe. Dadurch habe sie demonstriert, dass sie keine notwendige Loyalität gegenüber dem Verfassungsstaat begründe, um sie im In- und Ausland zum Ausdruck zu bringen. Das erschütterte Vertrauen sei jedoch vom jeweiligen Delikt abhängig, daher stehe es auch im Ermessen des Gerichts, dieses im Einzelfall zu prüfen, wobei angesichts der schweren Folge, die Hürde nach Ansicht Rostalskis hoch anzusetzen sei. Man könne § 45 StGB also eine präventive (Schutz des deutschen Volkes vor nicht vertrauenswürdigen Amtsträgern) als auch eine schuldausgleichende Ratio (den zeitweisen Entzug der Teilnahmemöglichkeit am Staat) entnehmen. Auf § 130 StGB ließen sich diese Erwägungen jedoch nicht übertragen, da es sich zum einen bei § 130 StGB um ein Äußerungsdelikt handle, das den öffentlichen Frieden und in einzelnen Teilen die Menschenwürde schütze, zum anderen sei die Tat nach § 130 StGB kein Angriff auf den freiheitlich verfassten Rechtsstaat. Taten i.S.d. § 130 StGB könnten allenfalls einen Einblick in die Gesinnung des Einzelnen geben und ggf. ein Indiz dafür sein, ob eine Person künftig ähnlich gelagerte Straftaten begehe. Daher ließe es sich nach Ansicht Rostalskis nicht rechtfertigen, auf Straftaten nach § 130 StGB mit dem Entzug des passiven Wahlrechts zu reagieren, da sie keinen hinreichenden Bezug zum Verhaltensunrecht aufwiesen, das typischerweise verwirklicht sein müsse, um diese Nebenfolge auszulösen. Sicherlich werde derjenige sich bei der Verkörperung seines Amtes an bestimmten Interessen orientieren, aber dies gehöre zur Politik dazu. Sie sei in gewisser Form immer eine Interessenvertretung einseitiger Art.
Sodann warf Prof. Rostalski die Frage auf, ob die Aufnahme des § 130 StGB in die Reihen der Vorschriften, die § 45 StGB als Nebenfolge vorsehen, gerechtfertigt sei, wenn der gewählte Volksvertreter eben nicht nur bestimmte Interessen verfolge, sondern bestimmte Gruppen oder Teile der Bevölkerung durch Äußerungen derart angreife, dass deren Menschenwürde tangiert werde. Auch dies verneinte sie und zog den Vergleich zu dem Fall, dass eine Person sich in mehreren Fällen zum Nachteil von Opfern bestimmter Bevölkerungsgruppen hinsichtlich einer gefährlichen Körperverletzung strafbar gemacht habe. Es ließe sich nicht rechtfertigen, dass dieser Täter nicht der Nebenfolge des § 45 StGB unterworfen werden könne. Ein Angriff auf die körperliche Integrität betreffe ebenso die Würde des Einzelnen und wiege besonders schwer, wenn er aus einer verachtenden Gesinnung heraus geschehe. Weiterhin zog sie eine Parallele zur Bedrohung oder zu sexuellen Übergriffen. Wenn also § 130 StGB der Nebenfolge des § 45 Abs. 2 StGB zugeordnet werden solle, weil es um einen Angriff auf die Menschenwürde gehe, der besonders schwer wiege, dann müsse man es vielen Vorschriften gleichtun, was die rechtliche Architektur des § 45 StGB ins Wanken brächte.
Im Fortgang ihres Vortrages ging Prof. Rostalski sodann auf geschlossene Chatgruppen und die Frage der Strafbarkeit von dort getätigten Äußerungen ein. Grund für die Diskussion um eine Strafbarkeit von antisemitischer und extremistischer Hetze in geschlossenen Chatgruppen dürfte ihrer Ansicht nach ein Fall des LG bzw. OLG Frankfurt a.M.[17] gewesen sein, wo mehrere Polizeibeamte in einer geschlossenen Gruppe mit maximal 10 Personen fortlaufend über viele Jahre hetzerische und illegale Inhalte teilten. Die Strafbarkeit scheiterte im Wesentlichen am Tatbestandsmerkmal des Verbreitens, da die Gruppe bewusst klein gehalten wurde und die Mitglieder untereinander befreundet waren: „Das Einstellen eines inkriminierten Inhalts in eine private, geschlossene WhatsApp-Gruppe mit überschaubarem Personenkreis erfüllt das Tatbestandsmerkmal des Verbreitens nur dann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Empfänger den Inhalt an eine größere, nicht mehr zu kontrollierende Personengruppe weiterleitet und der Versender dies zumindest billigend in Kauf nimmt.“[18] Diesen Öffentlichkeitsbezug wolle der Gesetzgeber nun für Soldaten und Amtsträger aufheben, was die Frage der Rechtfertigung aufwerfe. Dafür spreche die besondere Pflichtenstellung gegenüber dem Staat, die der Amtsträger selber übernommen hat und in dieser Eigenschaft auch ein besonderes Vertrauen genieße. Daher könne hier das Teilen illegaler Inhalte schon bei einer niedrigeren Schwelle untersagt sein. Dagegen spreche jedoch, dass die Rolle des Amtsträgers oder Soldaten nicht jeden privaten Lebensbereich überlagern könne. Auch ihnen verbleibe ein privater Raum, in dem sie sich persönlich oder politisch frei äußern können, denn Kommunikation sei ein wesentlicher Schlüssel zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Sofern der Personenkreis, der den Resonanzraum solcher Äußerungen bilde, ein kleiner sei und keine konkrete Gefahr bestehe, dass die Äußerungen den Kreis verlassen, erscheine es nicht gerechtfertigt, dem Soldaten oder dem Amtsträger diese Freiheit zu nehmen. Auch wenn mit der digitalen Kommunikation ein höheres Verbreitungsrisiko einhergehe, so verdiene sie ebenfalls denselben Schutz, da sie zudem mittlerweile den größten Anteil der sozialen Kommunikation der Menschen ausmache.
Insgesamt seien die Äußerungsdelikte, genau wie der Kampf gegen Hass und Hetze in den letzten Jahren zum strafrechtspolitischen Lieblingsprojekt des Gesetzgebers geworden. Rostalski verwies diesbezüglich auf zahlreiche Maßnahmen, die im Vorfeld des Strafrechts stattfinden. So seien Melde- und Beratungsstellen implementiert worden (bspw. Hate Aid, RESPECT, Beratungskompass Verschwörungsdenken, diskriminierung-melden.nrw), die ausdrücklich Äußerungen im vorstrafrechtlichen Bereich erfassen und dokumentieren. In diese Reihen aufzunehmen seien auch die sog. Trusted Flagger, die auf Basis der Digital Service Acts die Aufgabe haben, unerlaubte Inhalte in sozialen Medien zu kennzeichnen. Diese Inhalte würden von den Plattformbetreibern i.d.R. bevorzugt berücksichtigt und gelöscht. Problematisch sei insofern, dass ein von der Bundesnetzagentur herausgegebener Leitfaden für die Trusted Flagger weit über die Anforderungen des Digital Service Act hinausgehe und auch erlaubte Inhalte zu deren Inhalt erkläre und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz Äußerungen im vorstrafrechtlichen Bereich als für die Sicherheitsbehörde relevant[19] einstufe. Dies alles ereigne sich in einem Klima, in dem immer weniger Menschen das Gefühl hätten, ihre politische Meinung frei äußern zu können und die zunehmende Regulierung im Bereich von Äußerungen gebe dem Gefühl derer, die sich Sorgen um die Meinungsfreiheit machten, Recht. Die geplanten Änderungen der Koalition in Sachen § 130 StGB entsprächen dem Zeitgeist und einer politischen Linie, die mehr und mehr darauf setze, die Meinungsfreiheit zu begrenzen. Dies sei für eine freiheitliche Demokratie schädlich, die gerade von ihrem Diskurs lebe. Resilienz heiße nicht, sich davor zu drücken, Widerstandsfähigkeit heiße gerade, sich dem schwierigen Gespräch zu stellen, Argumente auszutauschen und offen dafür zu bleiben, sich von anderen Argumenten affizieren zu lassen. Dies rechtfertige keine Beleidigungen oder menschenverachtende Äußerungen, mahne aber zur staatlichen Zurückhaltung. Jede Beschränkung der Meinungsfreiheit provoziere Selbstzensur und schüre den Eindruck, der Staat könne sich gegen Andersdenkende auf keine andere Weise mehr erwehren.
VII. Reformen in der StPO
Prof. Dr. Matthias Jahn widmete sich in seinem Vortrag der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Reform im Strafprozessrecht. Bevor er sich mit den Zielen und Wünschen der Legislaturperiode auseinandersetzte, äußerte er sich kritisch hinsichtlich der im Koalitionsvertrag unter dem Punkt „Bürokratierückbau, Staatsmodernisierung und moderne Justiz“[20] genannten Praxischecks.[21] Diese sollen zum Zwecke einer gründlichen, integrativen und transparenten Gesetzgebung bereits in der Frühphase von Gesetzgebungsverfahren mit Expert:innen in einer angemessenen Frist (in der Regel 4 Wochen) durchgeführt werden. Praxischecks – gerade im Strafprozessrecht – sollten methodisch ausgestaltet werden und benötigten daher typischerweise durchaus länger als vier Wochen, um eine fundierte Stellungnahme hervorzubringen, so Jahn. Eine Beteiligung der Strafrechtswissenschaft am Gesetzgebungsprozess sei zudem nicht explizit in gleicher Weise wie diejenige der „Praxis“ vorgesehen. Im Rahmen einer guten Gesetzgebung[22] sieht der Koalitionsvertrag des Weiteren Erfolgsindikatoren vor, um den Wirkungsgrad von Gesetzen nachprüfbar zu machen. Dies sei nach der Ansicht Jahns gerade im Strafprozessrecht eine besondere Herausforderung, da Fairness und Funktionalität schwierig zu messen seien. Einen Gruß Montesquieus erkannte er in Zeile 1866 des Koalitionsvertrages, in der es heißt: „Gesetze, Verordnungen und Regelungen, die nicht gemacht werden müssen, werden wir nicht machen“. Man werde sehen, was die Koalition daraus mache – oder auch nicht.
Im Folgenden betrachtete Prof. Jahn den Koalitionsvertrag für den Bereich des Strafprozessrechts mit einer „Haben“- und einer „Soll“-Seite. Auf der Haben-Seite sei der Koalitionsvertrag im Bereich wegweisender strafprozessualer Vorhaben nicht umfangreich. Es fänden sich zum Teil Blackbox-Begriffe, deren Inhalte flexibel seien. So bietet der Koalitionsvertrag in Zeile 2017 ff. Ausführungen zum Pakt für den Rechtsstaat: „Er basiert auf drei Säulen: einer verbesserten Digitalisierung, einer Verschlankung und Beschleunigung von Verfahrensabläufen und einer personellen Stärkung“. Die Beschleunigung von Verfahrensabläufen sei ebenso ein zentraler Punkt der Justizministerkonferenz vom 5. und 6. Juni 2025 gewesen und wurde in zahlreichen Presseartikeln bereits behandelt. Es bleibe allerdings offen, wo für die Praxis nach zahlreichen Modernisierungs-, Fortentwicklungs- und Effektivierungskaskaden des letzten Jahrzehnts noch unentdeckte Potentiale in dieser Richtung stecken könnten. Jahn äußerte sich besorgt, dass bereits ad acta gelegte Projekte wie die Einführung des Wahlrechtsmittels im Erwachsenenstrafrecht, die Abschaffung der zweiten Tatsacheninstanz oder die weitgehende Abschaffung der Revisionshauptverhandlung reaktiviert werden könnten. Als weitere Säule des Pakts für den Rechtsstaat führt der Koalitionsvertrag die Digitalisierung der Justiz an.[23] Verfahrensplattformen sollen die klassischen Akten ersetzen und eine Bundesjustizcloud soll digitale Beweismittel aufnehmen. Daher sei klar, so Jahn, dass es nicht bei der bisherigen Ausgestaltung des Besichtigungsrechts bei Beweisstücken bleiben könne. Die rechtspolitische Stoßrichtung aus Sicht der effizienzorientierten Justizverwaltung mit Blick auf den Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz sei jedoch eindeutig und lasse sich in einem Zitat aus dem JuMiKo-Beschluss unter der Überschrift „Reformstau beenden und Digitalisierung im Strafprozess weiterdenken“[24] erkennen: „Dabei besteht insbesondere bei der Erfassung, Verarbeitung und Einführung digitaler Beweismittel der Bedarf einer Prüfung gesetzlicher Optimierung“.[25] Neben der Ausweitung des Selbstleseverfahrens betreffe dies etwa die Durchführung von Videovernehmungen sowie die Einführung von Vernehmungsprotokollen aus den Ermittlungsverfahren.
Des Weiteren sieht der Koalitionsvertrag eine Kommission aus Wissenschaft und Praxis unter Beteiligung der Länder vor, um eine grundlegende Überarbeitung der StPO auf den Weg zu bringen.[26] Dass sich diese Kommission nach dem Wortlaut des Koalitionsvertrags lediglich mit zwei Punkten beschäftigen soll, nämlich der Gewährleistung effektiver Strafverfolgung und einer zügigen Verfahrensführung, sei unbefriedigend, so Jahn. Effektivität, Schnelligkeit und die weiteren Synonyme blieben hohle Begriffe, solange man nicht die Zielkonflikte der Grundprinzipien des Strafprozesses aus Sicht der Grundrechtsträger und der hoheitlichen Gewalt im Blick behalte. Man solle sich seiner Grundsätze versichern und sie zeitgemäß aktualisieren, sie aber keinesfalls zur Disposition stellen. Eine grundlegende Überarbeitung der StPO sei in der Tat unumgänglich, die Arbeit einer solchen Kommission müsse aber breiter angelegt werden, wenn man Effektivität auch in den Dimensionen des Grund- und Menschenrechtsschutzes – wie etwa die Strafverfahrensordnungen in Österreich und der Schweiz es in ihren ersten Abschnitten tun – versteht. Effizienz dürfe nicht nur ein einseitiges Streben nach Funktionalität sein. Die Kommission soll dem Vernehmen nach bereits im dritten Quartal 2025 eingesetzt werden.
Hinsichtlich der erneut geplanten Verbesserung des Opferschutzes[27] im Strafprozess, konstatierte Jahn, gebe es im Koalitionsvertrag viele kleinteilige Vorhaben, wie bspw. die audiovisuelle Vernehmung minderjähriger Zeugen,[28] Schwärzung von Angaben zu Wohn- und Aufenthaltsanschrift bei bestimmten Delikten[29] oder die Möglichkeit der anonymen Spurensicherung bei Gewalt gegen Frauen,[30] jedoch fehle es an der Beantwortung der Vorfrage nach der Erforderlichkeit weiterer gesetzgeberischer Tätigkeit angesichts der multiplen Erweiterungen der Verletztenrechte seit 1986.
Bisher wenig erkannt worden seien laut Jahn Folgeeffekte für das Strafprozessrecht aus den vorgeschlagenen materiellrechtlichen Änderungen im Einziehungsrecht, die sich aus dem Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Optimierung des Rechts der Vermögensabschöpfung[31] ergäben. Allen voran gelte dies für die vollständige Beweislastumkehr für die Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft, die sich in zwei Abschnitten des Koalitionsvertrages fast wortidentisch finden lasse.[32] Die Beweislastumkehr mache nicht nur die gerade geschaffene Beweiswürdigungsvorschrift des § 437 StPO (Besondere Regelung für das selbständige Einziehungsverfahren) schon wieder novellierungsbedürftig, sie würde ebenso die rote Begrenzungslinie sowohl der strafprozessualen Unschuldsvermutung als auch des nemo-tenetur-Grundsatzes betreten und, je nach Ausgestaltung von Rechtsvermutung und Auskunftspflichten des Beschuldigten, verletzen. In diesem Zusammenhang verwies Jahn auf ein Zitat aus der Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der BRAK:[33] „Eine reine Verdachtseinziehung auf Basis einer vollständigen Beweislastumkehr müsste rechtssystematisch den Regelungsort des Strafrechts und des Strafprozessrechts verlassen.“[34]
Als letzten Punkt auf der „Haben“- Seite des Koalitionsvertrages verwies Prof. Jahn auf die großflächige Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse.[35] In diesem Zuge sollen die Straftatenkataloge der §§ 100a ff. StPO ausgeweitet werden. Es folge eine lange Liste von vorgeschlagenen Änderungen, mitunter auch die KI-basierte Datenanalyse, zu der eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe (Künstliche Intelligenz im Strafverfahren)[36] ihre Arbeit schon aufgenommen habe. Vorläufig auf Ebene der JuMiKo gescheitert sei indes die biogeografische DNA-Analyse.[37]
Im Anschluss ging Prof. Jahn darauf ein, welche Punkte der Koalitionsvertrag vermissen lasse und betrachtete damit die „Soll“-Seite. Die digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung werde überhaupt nicht mehr erwähnt, so dass hierüber wohl erst wieder ab 2029 rechtspolitisch mit einer Realisierungschance diskutiert werde. Zudem sei die Regelungslücke im Rahmen der Grenzen des V-Personen Einsatzes und die ungeregelte agent provocateur-Problematik strafverfassungsrechtlich wegen des Wesentlichkeitskriteriums problematisch, die ebenfalls nicht mehr erwähnt würden. Das Regelungsbedürfnis könne nicht einfach vier Jahre unerfüllt bleiben.
Ebenfalls nicht adressiert werde der „Pflichtverteidiger der ersten Stunde“ und weitere Schutzlücken im Kontext der Kommunikation zwischen Strafverteidiger bzw. Anwalt und Mandant. Kurz vor Ende der 20. Legislaturperiode hatte die Fraktion der FDP noch einen im damaligen BMF erarbeiteten Entwurf zur modernen und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens, zur Modernisierung der Zeugnisverweigerungsrechte in gerichtlichen Verfahren und zur Überarbeitung von Vermögensabschöpfung und Unterbringung im Jugendstrafrecht[38] in den Bundestag eingebracht. Die dort angebrachten Lösungsvorschläge erachtete Jahn als inhaltlich begrüßenswert. Aufgrund der aktuellen Sitzverteilung im Bundestag sei mit einer erneuten Einbringung des Entwurfs jedoch kaum mehr zu rechnen. Die Verständigung im Strafverfahren sei ein weiterer Punkt, der angesichts der Rechtstatsachen unverständlicherweise keinen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden habe, ebenso wie das Verbandssanktionenrecht und damit verbundene prozessuale Regelungen.
[1] In ZStW 2017 (Bd. 129), 334 ff. finden sich 15 Beiträge zu der Tagung des Kriminalpolitischen Kreis „Entbehrliche Straftatbestände“ vom 25.11.2016.
[2] Vorschläge des Kriminalpolitischen Kreises zu kriminalpolitischen Reformen in der Legislaturperiode 2021-2025, online abrufbar unter: https://www.kriminalpolitischerkreis.de/_files/ugd/b95945_ff97784b83314e2eba5bd4e5201a1eb9.pdf (zuletzt abgerufen am 26.6.2025).
[3] BMJ, Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs, online abrufbar und nähere Informationen unter: https://kripoz.de/2023/11/24/eckpunkte-des-bundesministeriums-der-justiz-zur-modernisierung-des-strafgesetzbuchs/ (zuletzt angerufen am 26.6.2025).
[4] BT-Drs. 20/14257, weitere Informationen unter: https://kripoz.de/2024/12/19/modernisierung-des-strafrechts/.
[5] Online abrufbar unter: https://www.koalitionsvertrag2025.de (zuletzt abgerufen am 26.6.2025).
[6] Koalitionsvertrag Zeile 2886 ff.
[7] Schiemann/Akay, KriPoZ 2024, 76 ff.; Kudlich/Oğlakcıoğlu, ZRP 2024, 47 ff.; Saliger, NK 2025, 21 ff.; Fischer: in: FS Leitner, 2025, S. 695 ff.
[8] Fischer, Gastkommentar in: LTO v. 11.4.2025, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/meinung/m/eine-frage-an-thomas-fischer-strafrecht-im-koalitionsvertrag (zuletzt abgerufen am 26.6.2025).
[9] Siehe dazu LTO Presseschau v. 18.6.2025, online abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/presseschau/p/presseschau-18-06-2025-sozialgerichte-verwaltungsgerichte-afd-blockade-gerhard-delling (zuletzt abgerufen am 26.6.2025).
[10] Siehe Fn. 4.
[11] Siehe Fn. 3.
[12] Siehe hierzu: https://kripoz.de/2019/04/15/containern-von-lebensmitteln-entkriminalisieren/ (zuletzt abgerufen am 26.6.2025).
[13] Weigend, KriPoZ 2024, 212 ff.
[14] Hoven, KriPoZ 2024, 216 ff.
[15] Koalitionsvertrag Zeile 3927 ff.
[16] Koalitionsvertrag Zeile 2890 ff.
[17] OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 8.7.2024 – 1 Ws 171/23, 1 Ws 174/23, 1 Ws 175/23, 1 Ws 176/23, 1 Ws 177/23.
[18] A.a.O., Leitsatz.
[19] Haldenwang, Welt online v. 4.4.2024, online abrufbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article250832354/Thomas-Haldenwang-wehrt-Kritik-am-Verfassungsschutz-ab-Meinungsfreiheit-kein-Freibrief.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2025).
[20] Koalitionsvertrag Zeile 1775 ff.
[21] Koalitionsvertrag Zeile 1870.
[22] Koalitionsvertrag Zeile 1865 ff.
[23] Koalitionsvertrag Zeile 2023 ff.
[24] Beschluss der Justizministerkonferenz 2025, TOP II.6, online abrufbar unter: https://www.justiz.nrw.de/sites/default/files/2025-06/TOP%20II.06%20-%20Reformstau%20beenden.pdf (zuletzt abgerufen am 25.6.2025).
[25] A.a.O., Nr. 4.
[26] Koalitionsvertrag Zeile 2048.
[27] Koalitionsvertrag Zeile 2049.
[28] A.a.O.
[29] Koalitionsvertrag Zeile 2940 ff.
[30] Koalitionsvertrag Zeile 3273 f.
[31] Online abrufbar unter: https://www.justiz.bremen.de/sixcms/media.php/13/Abschlussbericht%20BLAG%20Vermögensabschöpfung_2024.pdf (zuletzt abgerufen am 25.6.2025).
[32] Koalitionsvertrag Zeile 2879 ff. und Zeile 2660 ff.
[33] Online abrufbar unter: https://www.brak.de/fileadmin/05_zur_rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2025/stellungnahme-der-brak-2025-21.pdf (zuletzt abgerufen am 25.6.2025).
[34] Siehe dazu auch T. Zimmermann, KriPoZ 2022, 428 ff., online abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2022/11/wegner-ladwig-zimmermann-el-ghazi-vorschlag-eines-vermoegenseinziehungsgesetzes.pdf (zuletzt abgerufen am 25.5.2025).
[35] Koalitionsvertrag Zeile 2836 ff.
[36] Siehe Pressemitteilung des Hessischen Ministerium der Justiz und für den Rechtsstaat v. 1.10.2024, online abrufbar unter: https://hessen.de/presse/laenderarbeitsgruppe-kuenstliche-intelligenz-im-strafverfahren-hat-arbeit-aufgenommen (zuletzt abgerufen am 25.5.2025).
[37] Dazu FAZ v. 20.6.2025 – Mördersuche ist kein Rassismus, online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/forensische-genetik-moerdersuche-ist-kein-rassismus-110546526.html (zuletzt abgerufen am 25.5.2025).
[38] BT-Drs. 20/14258.