2024, Mohr Siebeck, ISBN: 978-3-16-162136-9, S. 300, Euro 104,00
Schon im Vorwort weisen die Herausgeber zutreffend darauf hin, dass die Debatte um die Schuld beständig Renaissancen erlebt. Inwieweit diese Debatten Neues bereithalten, ist immer die Frage. Neben dem Wiederauftauchen des klassischen Willensfreiheitsproblems als Folge der Neuentwicklungen der Hirnforschung, wird schon seit langem darum gerungen, ob es ein „Unternehmensstrafrecht“ im Sinne eines Schuldstrafrechts auch in Deutschland geben sollte oder – in der neusten Entwicklung – ob sich künstliche Intelligenz in Zukunft schuldig machen kann. Spannende Fragen also, denen im Rahmen eines vom 20.-22.6.2022 in der Schweiz stattfindenden Workshops nachgegangen wurde und die auch zu grundsätzlicheren Referaten Anlass gegeben haben, die in dem vorliegenden Band vereint wurden.
Die Herausgeber Wohlers und Seelmann machen daher den Auftakt dieses Buches im Rahmen eines Grundlagenbeitrags, der den Schuldgrundsatz in seiner verfassungsrechtlichen Verankerung, aber auch in seiner Umsetzung im einfachen Gesetzesrecht der Rechtsordnungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorstellt und anschließend den Diskurs um den materiellen Gehalt des Schuldgrundsatzes nachzeichnet. Das Kernstück des Beitrags bildet dann das Kapitel um die aktuellen Herausforderungen für das tradierte Schuldstrafrecht, in dem die im Vorwort angerissenen Diskussionen vertieft werden. Daneben wird auch der von Hörnle propagierte Verzicht auf die Verwendung des Begriffs der Schuld thematisiert, allerdings meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, dass die Problematiken, die momentan im Rahmen der Schuld erörtert werden, in der Sache unverändert bestehen blieben.
Stübinger gibt im Anschluss einen Überblick über die Entstehung des modernen Schulddenkens und macht Lust darauf, noch einmal seine fabelhafte Dissertationsschrift über „Schuld, Strafrecht und Geschichte“ zur Hand zu nehmen. Im Fazit seines Beitrags resümiert der Autor, dass bereits in den Ansätzen im 13. Jahrhunderts einige Begründungslinien aufscheinen, die sich im Grunde bis heute wiederfinden. Einfluss habe das intuitiv durchaus naheliegende Freiheitsverständnis „libertas indifferentiae“ gehabt, das den Hintergrund jenes Schuldbegriffes bilde, den auch der BGH seit Mitte des 20. Jahrhunderts vertritt.
Auch Maihold blickt in seinem Aufsatz „Erlösen und Strafen: Die Spanische Spätscholastik als Wiege des modernen juristischen Schulddenkens“ zurück auf die rechts- geschichtliche Entwicklung. Da der ethische Tadel der Strafe aus der Zeit der spanischen Inquisition stamme, äußert der Verfasser Zweifel, ob er in einem aufgeklärten, modernen Strafrecht noch zeitgemäß ist oder nicht viel eher auf diesen ethischen Tadel in einem modernen Strafrecht verzichtet werden sollte. Dies wird, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt mit dem Hinweis abgelehnt, dass dies Opfer und Täter nicht gerecht werde. Als staatliche Reaktion zur Normbestätigung müsse man an einer Strafe festhalten, die einen Tadel ausspricht und dadurch den Täter als eine zu vernünftigem Handeln fähige moralische Person anspricht.
Schon fast märchenhaft beginnt der Beitrag von Montenegro/Renzikowski mit „es war einmal“ in Beantwortung der Frage, ob es tatsächlich eine Wende weg vom psychologischen hin zum normativen Schuldbegriff gegeben habe. Zunächst wird die Epoche des psychologischen Schuldbegriffs nachgezeichnet und sodann auf „die angebliche Wende“ eingegangen. Da es keinen herrschenden psychologischen Schuldbegriff gegeben habe, könne es natürlich auch keine Wende hin zu einem normativen Schuldbegriff gegeben haben. Letztlich sei es nur um systematische Verschiebungen innerhalb der Verbrechenslehre gegangen, also nicht um eine Wende, sondern lediglich um eine konsequentere Anwendung der bereits von Frank verbreiteten These, Schuld sei eine Form von Missbilligung oder Vorwurf.
Greco stellt in seinem Aufsatz „Vorüberlegungen zu einer Geschichte des Schuldbegriffs“ an, differenziert zunächst zwischen Begriff und Wort und zeichnet die Entwicklung von Wort- und Begriffsgeschichte nach. Danach nimmt auch er den psychologischen und normativen Schuldbegriff in den Blick und ergänzt diesen um einen funktionalen Schuldbegriff. Der Autor möchte den im 19. Jahrhundert gekappten Bezug von der Schuld zur Strafe wiederherstellen. Seiner Meinung nach müsse Schuld mehr sein als zurechenbare Normverletzung. Schuld sei der Grund, weshalb der Täter sich nicht über seine Strafe beklagen dürfe. Daher sei nicht die Tat, sondern die Strafe als archimedischer Punkt des Schuldbegriffs wiederzuentdecken.
Entwicklung, Diskussionsstand und Problematik des normativen Schuldbegriffs beleuchtet Frisch. Auch er widmet sich im Rückblick dem psychologischen und normativen Schuldbegriff, bevor er der Kritik und den Konkurrenten des traditionellen normativen Schuldbegriffs nachspürt. Auch diese neueren Begriffsbildungen der Schuld seien überwiegend und streng genommen normative Schuldbegriffe, die auf Wertungen bezogen seien. Der Verfasser sieht dies hinsichtlich einer Gruppe kritisch, da Begriffe zur Grundlage des Schuldurteils gemacht werden, die alles andere als klar seien. In Wahrheit führten all diese Versuche nicht zu akzeptablen Problemlösungen, sondern nur zur Problemvernebelung. Differenzierter zu beurteilen sei dagegen die zweite Gruppe, die sich für eine Einbeziehung präventionsbezogener Erwägungen ausspreche. Gleichwohl sei davor zu warnen, die Präventionsbedürfnisse in die Schuld einzubeziehen und Schuld als eine Funktion generalpräventiver Bedürfnisse zu verstehen.
Der Beitrag von Stuckenberg beschäftigt sich mit den funktionalen Schuldbegriffen und stellt die neukantianischen Anfänge, die Auffassung Felix Kaufmanns sowie Jakobs´ funktionalen Schuldbegriff vor. Anschließend werden die kritischen Einwände betrachtet, bevor sich eine Würdigung des Verfassers anschließt. Funktionale Ansätze, so Stuckenberg, stellten den Schuldbegriff in größere Theoriezusammenhänge und erzwängen dadurch Reflexion. Dadurch seien sie auch erklärungsmächtiger als bspw. ontologisierende Ansätze.
Neumann geht der Zeit- und Normstruktur des strafrechtlichen Schuldprinzips nach. Sehr ausführlich werden beide Komponenten vorgestellt, bevor „Konsequenzen“ hieraus gezogen werden. Für den Problembereich der actio libera in causa folge daraus, dass das zugunsten des Tatbestandsmodells ins Feld geführte Argument, das Ausnahmemodell verstoße gegen das Koinzidenzprinzip, nicht trägt. Es gäbe kein Prinzip der Gleichzeitigkeit von Tat und Schuld und könne es auch mangels einer zeitlichen Existenz von Schuld nicht geben. Dies könne nur im Hinblick auf Elemente des Schuldsachverhalts gelten. Ob und inwieweit diese schuldrelevanten Faktoren zeitgleich mit der Tat gegeben sein müssen, sei eine Frage der inhaltlichen Ausgestaltung des Schuldprinzips in der jeweiligen Rechtsordnung. Sie werde von Strukturprinzipien wie dem Koinzidenzprinzip nicht präjudiziert, sondern durch den entsprechenden Schuldtatbestand festgelegt. Der Sache nach gäbe es für Zurechnungsregeln wie denen der actio libera in causa gute Gründe, vor allem Gerechtigkeitserwägungen, aber auch kriminalpolitische Gesichtspunkte.
Verstehe man das Schuldprinzip auch im rechtstheoretischen Sinne als Prinzip, dann ergäben sich hinsichtlich der strafrechtlichen Wertung von im Rausch begangenen Straftaten Differenzierungen. Zwischen Regelungen, nach denen ein selbstverschuldeter Rausch die Schuldfähigkeit generell nicht ausschließt und einer Beschränkung der Strafbarkeit auf Fälle einer vorsätzlichen actio libera in causa liege ein breites Spektrum möglicher Zurechnungsmodelle.
Die Frage, ob Schuld eine miasmatische Eigenschaft oder Resultat erfolgreicher Zurechnung sei, wirft Aichele in seinem Beitrag auf. Nach einem einleitenden rechtsphilosophischen Abriss, wird Kritik an der herrschenden Lehre zur „Definition“ von Schuld gegeben. Sodann wird ein „griechisches Intermezzo“ angeschlossen, bevor sich der Aufklärung gewidmet wird. Der Verfasser resümiert, dass Schuld aus einem vollendeten Zurechnungsurteil resultiere. Wenn sie dies nicht tue, dann gäbe es sie auch nicht. Eine solche Sichtweise harmoniere mit dem Prinzip, dass jedermann so lange als unschuldig zu gelten habe, bis ein ordentliches Gericht seine Schuld rechtskräftig feststellt. Aufgrund der Formalität des Zurechnungsverfahrens wäre dann auch eine Zurechnung zur Schuld an juristischen Personen möglich.
Weigend geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob Schuldausgleich und Prävention Strafe begründen können. Die Diskussion, ob Kriminalstrafe sich an der Schuld des Täters oder an kriminalpräventiven Bedürfnissen orientieren sollte, ziehe sich durch die Geschichte der staatlichen Strafe. Letztlich weise jeder der grundlegenden Ansätze für eine Begründung der Strafe eine gravierende Schwachstelle auf. Denn ein retributives, auf Schuldausgleich abzielendes Strafrecht gäbe mit der Wiederherstellung der Gerechtigkeit einen letztlich nur metaphysisch begründbaren Zweck für die Zufügung eines realen Übels an. Präventive Zielsetzungen dagegen könnten die mit der Bestrafung verbundenen Freiheitseingriffe zwar durch soziale und individuelle Zwecke legitimieren, aber sie ließen ein wesentliches Spezifikum der Strafe außer Acht, die ja eine rückwärtsgewandte Reaktion auf eine vergangene Tat darstelle.
Daher stellt Weigend zunächst die Legitimation staatlichen Strafens anhand der beiden Extrempositionen eines rein retributiven und eines allein spezialpräventiv ausgerichteten Strafrechts vor, um sich sodann Kombinationslösungen zuzuwenden. Er selbst spricht sich dann für eine gemischt-funktionale Lösung aus und stellt zusammenfassend fest, dass das Strafrecht als solches den Zweck hat, Straftaten sowie die aus ihnen folgende soziale Erosion zu verhüten. Das Mittel hierzu sei die retributive Strafe, deren Höhe der Schwere der Tatschuld entspräche und die so den Wunsch nach retributiver Gerechtigkeit befriedige.
Mit den freiheitsentziehenden Maßnahmen als „blinder Fleck“ des zweispurigen Sanktionenrechts beschäftigt sich der Aufsatz von Coninx. Ein blinder Fleck deswegen, weil die Frage nach der Legitimation freiheitsentziehender Maßnahmen deutlich weniger erforscht und beantwortet sei. Die Verfasserin skizziert zunächst die Grundprobleme der freiheitsentziehenden Maßnahmen sehr ausführlich. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein präventiv begründeter Freiheitsentzug im Rahmen einer Maßregel überhaupt nur dann akzeptiert werden dürfe, wenn schwerste Delikte drohen. Dies setze voraus, dass es sich bei dem Anlassdelikt ebenfalls um eine sehr schwere Strafe gehandelt hat. Aber auch dann dränge sich die Frage auf, ob die schuldüberschießende strafrechtliche Maßnahme überhaupt erforderlich sei. Denn in der Debatte werde oftmals vergessen, dass die primäre Reaktion auf Kriminalität eine schuldangemessene vergeltende Bestrafung sein müsse. Die vergeltende Freiheitsstrafe bei schweren Straftaten erfülle damit bereits eine wesentliche Sicherungsfunktion, weshalb die Maßnahme obsolet werde. Unklar bleibt an dieser Stelle, warum eine Freiheitsstrafe ohne Schuld verhängt werden kann. Denn das Maßregelrecht kommt bei Schuldunfähigkeit ja auch ganz ohne die Schuld aus und eine vergeltende Freiheitsstrafe kommt überhaupt nicht in Betracht. Die Verfasserin ist nun aber der Meinung, dass therapeutische Bemühungen auch unter der Schuldstrafe geleistet werden können, d.h. Straftäter könnten auch psychologisch und psychiatrisch betreut werden. Dies ist sicher richtig. Die Frage ist aber, ob der Strafvollzug so einfach auf einen Therapievollzug umstrukturiert werden kann. Die Forderung von Coninx, ganz auf die „Strafspur“ umzuwechseln, ist nicht neu. Er ist aber, jenseits unseres Schuldprinzips, auch mit vielen praktischen Unwägbarkeiten behaftet. Die Verfasserin zeigt in ihrem Beitrag diverse Vorteile der Vergeltungsstrafe im Gegensatz zur Zweckstrafe auf und plädiert – insoweit ist ihr wieder zuzustimmen – dafür, sich dem Maßnahmenrecht verstärkt zuzuwenden.
Lehmkuhl widmet sich in ihrem Beitrag der Schuld im Unternehmensstrafrecht. Nach grundsätzlichen Ausführungen wird sich der Konstruktion der Unternehmensschuld im Schweizer Strafrecht gewidmet und Art. 102 Abs. 2 chStGB sowie dessen Auslegung durch die Bundesgerichte in den Blick genommen. Die Verfasserin kommt zu dem Ergebnis, dass die Etikettierung von Unternehmensstrafen als „Maßnahmen“ keine Lösung sei, sondern zum einen verschleierten, dass es dennoch der Formulierung konkreter Verantwortlichkeitskriterien bedürfe. Zum anderen stellte sie den strafrechtsdogmatisch absolut untauglichen Versuch dar, ahndende, mit einem klaren Unwerturteil verbundene und spezial- sowie generalpräventiv ausgerichtete Sanktionen als Maßnahmen oder Sanktionen sui generis zu tarnen. Hier werde nicht das Schuldprinzip gerettet, sondern strafrechtliche Grundprinzipien würden der Wirtschaftspolitik geopfert.
Personalität und Schuld von KI-Systemen beleuchtet Gless und stellt zunächst die Frage „What if?“, stellt sich also einem Gedankenexperiment, ob Roboter resp. KI-Systeme strafrechtlich verfolgt werden können, wenn automatisiertes Verhalten einen strafrechtlich relevanten Schaden auslöst. Dazu skizziert die Autorin zunächst die aktuellen Robotertechnologien und setzt diese insbesondere in Bezug zur KI-Verordnung (die zur Zeit der Beitragserstellung erst als Entwurf vorlag und mittlerweile in Kraft getreten ist). Im Anschluss daran wird festgestellt, dass Minimalvoraussetzung für eine Strafbarkeit von KI-Systemen die Zuschreibung einer Rechtspersönlichkeit sei. Allerdings würde die Strafrechtswissenschaft bei der Begründung einer „Roboterschuld“ mit einem traditionellen Schuldbegriff scheitern. Lediglich ein pragmatisch-funktionaler Schuldbegriff verspräche einen Ansatzpunkt für das Gedankenexperiment.
Immer stelle sich die Frage, was das Wesen einer Roboterschuld ist und worin das funktionsanaloge Pendant zur Schuld im Menschenstrafrecht liegen könnte. In Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Schuldbegriffen wird schließlich festgestellt, dass die strafrechtliche Zurechnung an die hinter einem Roboter stehende Person nur dann greife, wenn diese Person weiterhin Kontrolle über das Verhalten des Roboters habe. Nabelten sich die KI-Systeme von menschlicher Kontrolle ab, so ginge der Vorwurf an den Menschen hinter der Maschine ins Leere. Ohne Kontrolle bleibe lediglich der Vorwurf, ein unkontrollierbares Risiko geschaffen zu haben. Aber auch, wenn man eine mögliche Roboterschuld akzeptiere, so bleibe die fehlende Strafempfindlichkeit von KI-Systemen als ungelöstes Problem.
Die Strafrechtswissenschaft müsse sich perspektivisch also darüber erklären, ob eine Neuausrichtung des Personalitäts- und Schuldbegriffs möglich wäre oder ob hergebrachte Konzepte weiter geeignet seien, eine sinnvolle Strafjustiz zu bewerkstelligen. Werde die Frage nach der Machbarkeit eines Roboterstrafrechts an eine Rechtsordnung herangetragen, so dürfte es laut Verfasserin von Vorteil sein, wenn durch eine Praxis des Unternehmensstrafrechts bereits Erfahrungen für eine Strafverfolgung von nicht-menschlichen Entitäten gesammelt wurden. Allerdings sei ein unmodifizierter Rückgriff auf das Unternehmensstrafrecht nicht möglich. Es bedürfe zunächst noch eines Manuals zur Zuordnung von Rechtspersönlichkeiten an KI-Systemen. Danach müsse ein Funktionsäquivalent zur menschlichen Schuld herausgearbeitet werden, das einerseits eine Strafverfolgung rational begründen und andererseits begrenzen könne. Anschließend dürfe sich von der Unternehmensstrafbarkeit vieles ableiten lassen.
Wohlers wirft in seinem Beitrag die Frage auf, ob die „ePerson“ ein tauglicher Adressat strafrechtlicher Sanktionen sein könne. Schon seit längerem stehe die Frage nach Anerkennung neuer Adressaten für strafrechtliche Sanktionen im Hinblick auf Unternehmen und andere Verbände im Raum. Ein weiterer Bereich, bei dem sich das Auftreten potenzieller neuer Adressaten strafrechtlicher Sanktionen abzuzeichnen begönne, sei der Bereich, den man schlagwortartig mit dem Begriff der Künstlichen Intelligenz umschreibe. Aktuell seien Formen der KI noch weit davon entfernt, sie als eigenverantwortlich agierende autonome Akteure einstufen zu können. Allerdings stelle sich diese Frage, wenn smarte Produkte im Verlaufe der fortschreitenden Entwicklung immer smarter und noch smarter würden. Der Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen man Roboter und andere Formen künstlicher Intelligenz als taugliche Adressaten von Sanktionen einstufen kann, geht der Autor in mehreren Schritten nach.
Verantwortlich könnte KI nur dann sein, wenn sie mehr ist als eine Maschine mit einer raffinierten Programmierung, sondern als ein Akteur wahrgenommen wird, der ein Mitglied der Gesellschaft ist und auf dessen Verhalten mit guten Gründen mit reaktiven Attitüden reagiert werden müsse. Ein guter Grund könne sein, dass Roboter und andere KI-Formen die Anforderungen erfüllen, die wir an einen Akteur knüpfen, der sich schuldhaft verhalten kann. Ein solcher Grund ist laut Auffassung des Verfassers eher unwahrscheinlich. Daneben könnten die Anforderungen, die an schuldhaftes Verhalten geknüpft werden, Veränderungen erfahren bzw. das Konzept der als Adressat strafrechtlicher Sanktionen in Betracht kommender Personen könnte so modifiziert werden, dass auch Roboter und andere Formen von KI die entsprechenden Anforderungen erfüllen. Allerdings ändere auch ein funktionales Schuldverständnis nichts daran, dass die Einführung einer Strafbarkeit von Robotern und anderen KI-Formen nichts sei, was derzeit oder auf absehbare Zeit zu erwarten oder mit guten Gründen zu fordern sei.
Der sachgerechtere Weg zum Umgang mit den Risiken der Nutzung von KI dürfte eher dort liegen, wo es darum gehe, die Voraussetzungen der Zurechnung zu den natürlichen Personen zu überprüfen und ggf. zu modifizieren, die hinter dem Einsatz künstlicher Intelligenz stehe.
Im letzten Beitrag des Sammelbandes stellt Hörnle Überlegungen zu einer Re-Strukturierung der Verbrechenslehre an, indem sie den Verzicht auf den Schuldvorwurf und die Schuldsemantik sowie die Fokussierung auf den Unrechtsvorwurf fordert. Was das bedeutet, stellt die Verfasserin schon eingangs dar: „Der Tadel, der in einer strafrechtlichen Verurteilung zwangsläufig enthalten ist, sollte sich auf den Vorwurf beschränken, eine unrechtmäßige Handlung (oder Unterlassung) begangen zu haben, und nicht auf die innere Entscheidung für unrechtmäßiges Verhalten abstellen“. Unrecht sei also in seiner sozialen, äußeren Bedeutung als Beeinträchtigung anderer Bürger oder des Kollektivs aller Bürger zu bewerten. Aber ist das genug? Hörnle nennt den Schuldvorwurf „unfair“, da sich zum exakt selben Zeitpunkt und unter identischen Rahmenbedingungen niemand anders entscheiden könne. Des Weiteren zeigten sich durch die Bewertung, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, ältere Wurzeln, die für moderne Rechtsordnungen nicht mehr so gut passen.
Laut Hörnle ist es durchaus miteinander vereinbar, auf den Vorwurf des Anders-Entscheiden-Könnens, Schuld in der Verbrechenslehre und generell die Schuldsemantik zu verzichten und trotzdem an der Praxis des Tadelns für unrechtmäßiges Verhalten festzuhalten. Dafür zeigt sie auf, wie tief die Kategorie „Schuld“ als Ergänzung der Kategorie „Unrecht“ in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft verankert ist. Unter Aufzeigen der Rechtsprechung des BVerfG wird deutlich gemacht, dass das dort zugrunde gelegte Verständnis von Schuld viel weiter ist als die Kategorie in der Verbrechenslehre. Darüber hinaus zwinge diese Rechtsprechung nicht dazu, im Strafrecht die Schuldsemantik beizubehalten. Im Anschluss daran werden die Gründe benannt, warum die Fixierung auf die Schuldidee problematisch ist. Hier geht die Verfasserin nochmals auf den schon eingangs betonten Aspekt ein, dass der Vorwurf des anders Handeln Könnens unfair sei. Darüber hinaus wird auf die religiösen Wurzeln von Schuldsemantik und Schuldvorwürfen eingegangen. Dies mündet dann in ihren „Gegenentwurf“, der allein auf das unrechtmäßige Verhalten und den Unrechtsvorwurf abstellt. Auch wenn dies zunächst einmal einfach und einleuchtend klingt, so stellt sich doch sofort die Frage, wie ein allein unrechtmäßiges Verhalten einen so starken Grundrechtseingriff wie eine Freiheitsstrafe legitimieren soll. Braucht es hier nicht ein „Mehr“?
Hörnle zieht abschließend Konsequenzen für die Verbrechenslehre und den allgemeinen Teil. So seien Kinder auszunehmen als Personengruppe, die beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen und der Rechtswidrigkeit der Handlung oder Unterlassung dennoch von der Strafbarkeit auszuschließen seien. Gleiches gelte für Menschen infolge schwerwiegender psychischer Krankheiten oder sonstigen hirnorganischen Veränderungen, so dass sie den kognitiven und kommunikativen Minimalanforderungen nicht entsprechen, denen ein Angeklagter im Strafverfahren genügen muss. Diese Fragen seien vor dem Punkt „Unrecht“ als vorgelagerte Stufe zu prüfen. Da die Verfasserin zumindest nicht auf die Möglichkeit der Unterbringung nach § 63 StGB verzichten möchte, soll wohl die von Coninx kritisierte Zweispurigkeit beibehalten werden. Dann ist natürlich insgesamt die Frage, ob mit dieser Umkehrung der Struktur letztlich etwas gewonnen ist. Für §§ 17 und 35 StGB sieht Hörnle keinen inhaltlichen Änderungsbedarf.
Die Autorin kritisiert, dass die Debatten der letzten Jahre an der strafrechtstheoretisch zentralen Frage vorbeigingen, nämlich der, ob auf den Vorwurf „Du hättest anders entscheiden können“ und die übliche Schuldsemantik verzichtet werden kann, ohne in die Spur eines reinen Maßnahmenrechts zu wechseln. Ihr Apell ist es, sich in der Strafrechtstheorie mehr mit der Logik des Unrechtsvorwurfs zu beschäftigen. Allerdings sprächen pragmatische Überlegungen dafür, sich mit der Verwendung eines eher suboptimalen Begriffs wie „Schuld“ abzufinden. Dennoch bleibe es Aufgabe der Strafrechtstheorie für dieses Beispiel und andere darauf hinzuweisen, dass bessere Lösungen entwickelt werden können.
Dieser Aufgabe der Strafrechtstheorie stellt sich nicht nur Hörnle in ihrem Beitrag. Auch die anderen Aufsätze dieses Tagungsbandes bieten neben historischen Grundlegungen eine facettenreiche Auseinandersetzung mit den aktuellen und zukünftigen Fragen und Herausforderungen an ein – modernes – Schuldstrafrecht. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Tagungsband viele Leser findet. Denn viele der aufgeworfenen Fragen wird die Strafrechtswissenschaft auch in Zukunft beschäftigen.