Abstract
Thomas Weigend hat kürzlich in dieser Zeitschrift zur Idee einer Ergänzung des Mordtatbestandes um ein geschlechtsbezogenes Opfermerkmal und weitere Erscheinungsformen besonderer Vulnerabilität Stellung genommen. Bei der Würdigung dieser politischen Zielbestimmungen hat er die damit verbundenen Probleme benannt und kritischen Betrachtungen unterzogen. Völlig zu Recht hat Herr Weigend abschließend angemahnt, statt sich in kleinteiligen Operationen an Details zu verlieren das inzwischen eingeschlafene Projekt einer Gesamtreform des Lebensschutzstrafrechts wiederzubeleben. Dem schließt sich der Verfasser mit einigen ergänzenden Anmerkungen zu den Ausführungen des Kollegen und eigenen Vorschlägen zur Gesetzgebung gern an.
Thomas Weigend recently commented in this journal on the idea of adding a gender-related victim characteristic and other manifestations of particular vulnerability to the definition of murder. In assessing these political objectives, he identified the associated problems and subjected them to critical scrutiny. Weigend quite rightly concluded by calling for the now dormant project of a comprehensive reform of criminal law protecting life to be revived, rather than getting bogged down in minor details. The author is happy to endorse this, with a few additional comments on his colleague’s remarks and his own proposals for legislation.
I. Exklusiver Schutz weiblicher Opfer
1. Weibliches Geschlecht kein Grund einer Strafschärfung
Weiblichkeit oder Männlichkeit an sich ist kein Grund für eine gesetzliche Sonderbehandlung im Strafrecht. Dem dürfte schon Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG entgegenstehen.[1] Daher rechtfertigt weder die Tatsache, dass das Opfer eine Frau ist noch die Tatsache, dass der Täter ein Mann ist, die Hochstufung des Tötungsdelikts von der Unterstufe des Totschlags auf die Oberstufe des Mordes. Wenn eine Ergänzung des § 211 Abs. 2 StGB vorgeschlagen wird, um „Femizide“ zielgenauer erfassen zu können und nicht auf das fragwürdige Merkmal „niedrige Beweggründe“ angewiesen zu sein[2], ist Rechtssetzungsmotiv nicht das Geschlecht, sondern eine mit ihm zusammenhängende Strafwürdigkeit, die zu identifizieren, zu erklären und zu evaluieren ist. Naheliegend ist die Aussage, dass Frauen gefährdeter sind als Männer, schon weil sie physisch schwächer sind und sich weniger effektiv verteidigen können. Allerdings trifft das nicht auf jede Frau zu, hängt im konkreten Fall von der Stärke des Täters und sonstigen Umständen ab und kann deshalb gleichermaßen auch bei einem männlichen Opfer, sogar im Verhältnis zu einer weiblichen Täterin, vorliegen. Zur Vermeidung einer gegen Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG verstoßenden geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlung müsste also das Mordmerkmal einerseits geschlechtsneutral gestaltet sein, andererseits aber die Gründe hervorheben, die bei Frauen besonders verbreitet sind und – wenn auch nicht im gleichen Umfang – auch bei Männern anzutreffen sein können. Das dürfte eine nicht leicht zu erfüllende Aufgabe des Gesetzgebers sein.
2. Geschlechtsspezifische Vulnerabilität
Ein Blick in die Listen der Weltrekorde in den Sportarten Leichtathletik, Gewichtheben oder Schwimmen zeigt, dass bei der Gegenüberstellung gleichaltriger Männer und Frauen die männlichen Athleten die – zum Teil erheblich – besseren Leistungen erbringen. Sie sind stärker, schneller und ausdauernder. Es leuchtet ein, dass diese physische Ausstattung die Sieg- und Abwehrchancen in einer gewalttätigen Auseinandersetzung – bei Männern positiv, bei Frauen negativ − beeinflussen kann.[3] Frauen (das „zarte Geschlecht“) sind nicht nur als Opfer, sondern bekanntlich auch in der Täterrolle benachteiligt, weil sie gegenüber körperlich überlegenen männlichen Opfern zur Kompensation ihrer Schwäche auf Methoden angewiesen sind, die sie über das Merkmal „Heimtücke“ zu „Mörderinnen“ machen. Die Tötung des schlafenden „Haustyrannen“ ist idealtypisches Anschauungsbeispiel für diesen Zusammenhang. Zur Erhöhung der Notwehrchancen können Frauen – wie auch Männer – im Fitnessstudio Kraft und Kondition verbessern, Selbstverteidigungstechniken (Judo, Jiu Jitsu, Karate) erlernen und sich mit legalen Waffen und waffenähnlichen Gegenständen ausrüsten. Gleichwohl ist alles das nutzlos, wenn der Täter oder die Täterin aus der Distanz mit einer Schusswaffe angreift und einen tödlichen Schuss abfeuert. Gegenüber einem solchen Angriff wäre auch der Weltmeister im Schwergewichtsboxen machtlos. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen die genannten präventiven Selbstschutzmaßnahmen nicht durchführen können oder wollen. Was die Kräfteverhältnisse der beteiligten Täter und Opfer angeht, ist eine Vielzahl von Kombinationen möglich: Ein starker Täter tötet ein schwaches Opfer, ein schwacher Täter tötet ein starkes Opfer, Täter und Opfer sind gleich stark oder gleich schwach. Dabei können die Personen demselben Geschlecht oder verschiedenen Geschlechtern angehören.[4] Angesichts dieser Vielfalt und Komplexität einen Gesetzestext zu formulieren, der in einem Mordmerkmal spezifisch weibliche Vulnerabilität erfasst, dabei aber die Konstellationen nicht ausblendet[5], bei denen die Weiblichkeit nicht ausschlaggebend ist, dürfte ein nahezu unmögliches Unterfangen sein. Vielversprechender ist deswegen vielleicht der völlige Verzicht auf ein feminines Mordmerkmal und die Kreation von Varianten, die auf unterschiedlichen Gründen beruhende erhöhte Schutzbedürftigkeit zur Geltung bringen. Dies haben die Verfasser des Koalitionsvertrags selbst im Blick, indem sie neben den Frauen auch anderen besonders verletzlichen Personen wie Kindern, gebrechlichen Menschen und Menschen mit Behinderung strafrechtlichen Schutz mittels eines neuen Mordmerkmals in Aussicht stellen.
II. Schutz sonstiger besonders schwacher Opfer
1. Kinder
Säuglinge und Kleinkinder sind die schwächsten und verletzlichsten Mitglieder der Gemeinschaft und bedürfen verstärkten Schutzes. Heimtückische Tötung ist ihnen gegenüber bis zu einem nicht allgemein festlegbaren Alter kaum möglich.[6] Sie sind nicht wegen Arglosigkeit wehrlos, sondern weil ihr Körper schwach ist und ihnen zudem jegliche Lebenserfahrung fehlt. Eltern sind ihnen gegenüber Beschützergaranten und können durch bloßes Unterlassen eine strafbare Tötung begehen.[7] Zu überlegen ist, ob die Garantenstellung ein Grund ist, die aktive Tötung des Kindes durch Vater oder/und Mutter als Mord zu qualifizieren.[8] Eigenartigerweise sieht das Gesetz bei dem Lebensgefährdungsdelikt Aussetzung dies vor (§ 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB), bei dem Lebenszerstörungsdelikt dagegen nicht. Diese Lücke zu schließen ist eine Aufgabe, derer sich der Gesetzgeber, der Kindern besonderen strafrechtlichen Schutz verschaffen will, annehmen sollte. Die Partner des Koalitionsvertrags wollen darüber hinaus auch die Tötung eines Kindes durch einen Nichtgaranten zum Thema eines neuen Mordmerkmals machen. Das ist zu begrüßen. Im geltenden Strafrecht ist der Lebensschutz des Kindes an anderen Stellen nicht widerspruchsfrei implementiert. In § 235 Abs. 5 StGB wird die Verursachung des Todes eines vom Täter seinen Eltern entzogenen Kindes mit drei bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe sanktioniert. Lebenslange Freiheitsstrafe wie z.B. in §§ 178, 239a Abs. 3 oder § 316a Abs. 3 StGB ist also auch im Falle vorsätzlicher Todesverursachung nicht möglich. Auch in § 221 Abs. 3 StGB und in § 239 Abs. 4 StGB ist eine Anhebung des Sanktionsniveaus nach dem Muster des § 178 StGB zu empfehlen für die Fälle, in denen das Opfer ein Kind ist.
2. Behinderte
Gegen Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung sind Behinderte − wie auch Kinder – strafrechtlich durch Tatbestände, die ausschließlich dieser Opfergruppe gewidmet sind, geschützt, §§ 174a Abs. 2, 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Körperliche Misshandlung ohne Sexualbezug und Tötung eines behinderten Menschen ist per se hingegen keine qualifizierte Straftat. § 225 StGB erfasst zwar diese Opfer, jedoch nur, wenn zum Täter eine Obhutsbeziehung besteht. Hochgradige Wehrlosigkeit, die vom Täter nicht hinterlistig oder heimtückisch herbeigeführt oder ausgenutzt worden ist, ist weder in § 224 StGB noch in § 211 StGB berücksichtigt. Diese Strafbarkeitslücken sollten geschlossen werden.
3. Alte und Gebrechliche
In einer Gesellschaft, deren demographische Struktur durch kontinuierliches Anwachsen des älteren Bevölkerungsanteils geprägt ist, wächst naheliegenderweise auch die Zahl potentieller Opfer von Gewalttaten gegen Angehörige dieser Gruppe. Auf Grund der schon jetzt offensichtlichen Überforderung des Sozialstaats birgt diese Entwicklung hochgefährlichen gesellschaftlichen Sprengstoff, der sich in Aggressionen der unter Steuer- und Abgabenlast ächzenden jüngeren Generationen gegen Angehörige der vermeintlich für die Misere mitverantwortlichen („Babyboomer“) und zudem vermeintlich bessergestellten „Alten“ entladen kann. Es ist zudem kein Geheimnis, dass mit der Pflege gebrechlicher Eltern oder Schwiegereltern überforderte Familienangehörige, wegen Personalknappheit Überstunden schiebende und schlecht bezahlte Bedienstete von Pflegeeinrichtungen Wut oder Verzweiflung manchmal an den ihnen anvertrauten Menschen auslassen, bis hin zur vorsätzlichen Tötung. Diese Opfer sind wehrlos, was nicht auf eigener[9] Arglosigkeit beruht. Ihnen neben den heimtückisch Getöteten denselben strafrechtlichen Schutz der Mordvorschrift zukommen zu lassen, ist somit geboten.[10] Soweit das Opfer wegen seiner Angewiesenheit auf Unterstützung, Beistand und Fürsorge in einer Beschützergaranten-Beziehung steht und die Tat vom Garanten begangen wird, kommt noch der unrechtssteigernde Aspekt der Garantenpflichtverletzung hinzu.[11]
4. Sonstige
Die knappe Skizze von Opfergruppen, deren Angehörige wegen ihrer auf körperlicher Schwäche beruhender Wehrlosigkeit vom Gesetzgeber qualifizierten Strafrechtsschutz gegen vorsätzliche Tötung fordern können, ist exemplarisch und keineswegs vollständig.[12] Sollte die Gesetzgebung die Technik einer generalklauselartigen Umschreibung wählen, brächte das möglicherweise Probleme mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, garantierte aber eine hundertprozentige Vermeidung von Strafbarkeitslücken. Einen höheren Grad an Bestimmtheit als § 212 Abs. 2 StGB, auf den bereits de lege lata zurückgegriffen werden kann, würde das Mordmerkmal allemal aufweisen.
III. Besonders geringe Abwehrchancen
1. Heimtücke
Auch „starke“ Opfer können in der Tatsituation schwach und wehrlos sein, weil sie in eine Lage geraten, in der sie keine ausreichenden Verteidigungs-, Ausweich- oder Fluchtmöglichkeiten haben. Ein Täter, der dies zur Tötung ausnutzt, verwirklicht erhöhtes Tötungsunrecht und muss auf einer Deliktsstufe oberhalb des § 212 StGB – auch oberhalb des § 212 Abs. 2 StGB − sanktioniert werden. De lege lata hat diese Erkenntnis im Mordtatbestand fragmentarisch Niederschlag gefunden. Das Mordmerkmal „Heimtücke“ ist ein Produkt der zutreffenden Strafwürdigkeitsdiagnose des Gesetzgebers. Es ist aber zu eng und berücksichtigt allein Fälle, in denen der Täter die Chancenlosigkeit des Opfers oftmals selbst herbeigeführt hat. Die von vornherein „schwachen“ Opfer, denen ihr Argwohn keine besseren Überlebenschancen verschafft (oben II.), bleiben außen vor. Dankenswerterweise erinnert der Koalitionsvertrag die Bundesregierung daran, bei einer Initiative zur Überarbeitung der §§ 211 ff StGB diese offenkundige Lücke zu schließen.
2. Gemeingefährliches Mittel
Geringe bzw. fehlende Selbstrettungschance ist das Wesen des Mordmerkmals „mit gemeingefährlichen Mitteln“. Der mit einer verfehlten Definition arbeitenden Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft[13], deren maximal absurde Konsequenz die angebliche Ausgrenzung der „schlichten Mehrfachtötung“ ist[14], kann trotz der willkommenen strafbarkeitseinschränkenden Tendenz ihrer Prämisse und deren Ableitungen nicht gefolgt werden. Nicht die Gefährdung oder Tötung von „Zufallsopfern“ („unbeteiligte Dritte“) treibt die Strafwürdigkeit in die Höhe, sondern das Auffahren eines „schweren Geschützes“, das dem Opfer nicht den Hauch einer Chance auf Entrinnen lässt.[15] Gewiss ist die großflächige Verwendung von Feuer, Sprengstoff, Gift, Kernenergie, biologischen und chemischen Stoffen usw. zugleich eine Vorgehensweise, bei der außer dem Opfer, auf das es der Täter – ausschließlich – abgesehen hat, auch eine nicht oder kaum überschaubare und nicht eingrenzbare Zahl weiterer Opfer in Mitleidenschaft gezogen werden können. Aber nicht diese Kollateralschäden erhöhen das Tötungsunrecht. Das Tötungsunrecht ist beschränkt auf Unrecht zum Nachteil des getöteten Individuums und dieses Unrecht kann nicht dadurch gesteigert werden, dass zugleich andere Rechtsgutsobjekte – seien es Menschen, Tiere, Sachen oder überindividuelle Interessen[16] − beeinträchtigt werden. Dies gehört in den Bereich der Konkurrenzen, sofern die Verursachung dieser Kollateralschäden weitere Verwirklichungen des Tötungstatbestandes oder anderer Tatbestände beinhaltet.[17] Wäre es anders, bliebe unverständlich, wieso beispielsweise die Tötung von Vater und Mutter, welche die minderjährigen Kinder zu Vollwaisen macht, nur Totschlag und nicht Mord ist, soweit kein Merkmal des § 211 Abs. 2 StGB erfüllt worden ist.
3. Angriff mehrerer
Im geltenden Strafrecht ist vieles unverständlich, vor allem im Bereich der Tötungs- und Körperverletzungsdelikte. So erkennen § 231 Abs. 1 StGB und § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB an, dass ein von mehreren verübter Angriff eine erhöhte Gefahr für Leib oder Leben verursachen kann. In §§ 211, 212 StGB findet das indessen keinen Niederschlag.[18] Prügeln drei oder noch mehr Grobiane einen Menschen mit Baseballschlägern zu Tode, ist das nicht mehr als Totschlag, wenn nicht – was keineswegs zwangsläufig immer der Fall ist – Mordlust, Grausamkeit oder niedrige Beweggründe involviert sind. Das Opfer befindet sich in einer ähnlich ausweglosen Lage wie bei Angriffen mit gemeingefährlichen Mitteln. Es gibt kein Entrinnen und Entkommen, erfolgreiche Verteidigung gegen eine Übermacht ist ohnehin illusorisch. Auf der Täterseite kommt hinzu, dass es ausgesprochen unfair, ja feige ist, zu dritt, zu viert, zu fünft einen einzelnen Menschen niederzumachen, der allein und auf verlorenem Posten steht. Das ist zwar ein Gesichtspunkt, der im Lichte eines modernen Wertekanons kein ausreichender Grund für die Hochstufung zum Mord mehr sein kann. Er verstärkt aber das Unbehagen daran, dass der „Angriff mehrerer“ in der Diskussion um die Reform der Mordvorschrift keine erkennbare Rolle spielt. In dem Gesetzesvorschlag[19], den die vom ehemaligen Bundesjustizminister Heiko Maas eingesetzte Expertenkommission mit ihrem Abschlussbericht im Jahr 2015 der Öffentlichkeit präsentierte, kommt dieses Merkmal nicht vor.
IV. Sozial erwünschte Selbstviktimisierung
Seit die Lehre von der „objektiven Zurechnung“ ihren Siegeszug durch die Strafrechtslehre angetreten hat, gilt die Selbstgefährdung eines Verletzten als Grund für den Ausschluss der Zurechnung des Verletzungserfolges zum Handeln des Täters.[20] Wie Bernd Schünemann mit dem grandiosen Text seines Vortrages auf der Strafrechtslehrertagung 1977 in Gießen aufgeklärt hat[21], muss man aber zwischen freiwilliger und unfreiwilliger, vernünftiger und unvernünftiger, sozial erwünschter und unerwünschter bzw. neutraler Selbstgefährdung differenzieren. Wer sich einer Gefahr aussetzt und dabei einen gemeinwohlfördernden Beitrag leistet, verdient es, dass die dieser Selbstgefährdung entspringende Verletzung nicht täterentlastend ihm selbst zugerechnet wird. Vielmehr verdient er den gesteigerten Schutz der Gemeinschaft, für die er sich einsetzt, ja aufopfert. Wie aktuelle Ereignisse leider immer häufiger bestätigen, begibt sich in die Gefahr, Opfer gewalttätiger Angriffe – auch mit Todesfolge – zu werden, wer auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene politisch aktiv ist, in Justiz und Gefahrenabwehr als Richter, Staatsanwalt, Polizeibeamter, im Bildungswesen als Lehrer, in der Verwaltung als Bediensteter in einer Sozial- oder Ausländerbehörde, bei der Agentur für Arbeit, im Gesundheitswesen als Arzt, Krankenschwester, Pflegekraft, Rettungssanitäter, im öffentlichen Personenverkehr als Eisenbahnschaffner oder Busfahrer seinen Beruf ausübt und damit nicht nur für den eigenen Lebensunterhalt sorgt – das wäre auch mit anderen Beschäftigungen möglich –, sondern auch einen Dienst an der Gemeinschaft leistet. Die Aufzählung ist bei weitem nicht vollzählig, zumal ehrenamtlich Tätige bei der Feuerwehr, beim Technischen Hilfswerk und vielen anderen gemeinnützigen Einrichtungen ebenfalls einzubeziehen sind. Den bei Ausübung ihres Dienstes ums Leben gekommenen posthum nachzurufen (blaming the victim): „Du hättest das ja nicht machen müssen“, wäre zwar zynisch, träfe aber durchaus einen wahren Punkt. Wer sich heraushält, sich nicht einmischt, läuft nicht oder weniger Gefahr, Opfer zu werden. Aber man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der alle diese Funktionen nicht mehr ausgeübt, alle diese Stellen nicht mehr besetzt werden, weil Menschen aus begründeter Furcht vor Aggression diese Bereiche meiden. Rechtliche Konsequenz ist daher: Die bewusste Übernahme des Risikos ist in Fällen dieser Art keine zurechnungsausschließende Übernahme der Verantwortung für die erlittenen risikoadäquaten Schäden. Die Risikoübernahme ist erwünscht und macht den Betroffenen zum Mitglied der bereits oben umrissenen Opfergemeinschaft aus Personen, deren Selbstschutzmöglichkeiten gegen Angriffe herabgesetzt sind.[22] Das ist Grund für gesteigerten strafrechtlichen Schutz. Ein Blick über die Grenze in das Strafgesetzbuch des Nachbarlands Frankreich (Art. 221-4 Nr. 4 C. P.) zeigt, wie der Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“ ausgestaltet werden kann, wenn der Stoff für Mordmerkmale aus bestimmten gesellschaftlichen und beruflichen Positionen der Opfer gewonnen wird.
V. Schluss
Das Bild des § 211 Abs. 2 StGB gleicht einem Flickenteppich, bei dem jemand ohne Plan und System Stofffetzen verschiedener Farbe und Form zusammengenäht hat. Das Fehlen einer tragenden und leitenden Rechtsidee, das als Grundkonzept dem Gesetzgeber bei der Schaffung einzelner Mordmerkmale die Richtung weist, ist offensichtlich. Deshalb sollte man vor der punktuellen Ergänzung des Gesetzestextes durch Einführung eines einzelnen neuen Mordmerkmals überlegen, was eigentlich der Grund für die Verlagerung eines Tatbildes von der Ebene des § 212 StGB in die Höhenlage des § 211 StGB ist. Das ist bei vorsätzlichen Tötungsdelikten schwierig, weil jedenfalls das Maximum an Erfolgsunwert bereits durch die Todesverursachung erreicht ist, § 212 StGB insoweit also nicht mehr übertroffen werden kann.[23] Da jedes Leben gleichen Wert hat, hat auch jeder Tod gleichen Unwert. Unrechtssteigernde Aspekte können deshalb nur im Bereich des Handlungsunrechts, im Stadium vor Eintritt des Todeserfolges, also in der Verwirklichungsphase des Versuchs, verankert sein. In dieser (vollendungstauglichen) Phase wird das Leben gefährdet. Anders als die Verletzung ist die Gefährdung auch in Bezug auf das Rechtsgut Leben steigerbar.[24] Der Todeserfolg kann auf einer Gefährdung mit geringem, mittelschweren oder erheblichem Unwertgehalt beruhen. Das bestätigt im geltenden Recht das Mordmerkmal „Heimtücke“, bei dem das Opfer schon bei Versuchsbeginn in einer besonders schwachen Position und somit besonders stark gefährdet ist. Erhöhte Gefährdung ist darüber hinaus das relevante Kennzeichen einer Vielzahl von anderen Opfern, wie oben exemplarisch aufgezeigt wurde. Wenn der Gesetzgeber an der Schaffung eines konsistenten Katalogs von Mordmerkmalen interessiert ist und die Neugestaltung der Vorschrift auf Grundlage einer einheitlichen „Mord-Idee“ in Angriff nehmen will, sollte er sich tatsächlich von dem Aspekt der „Vulnerabilität“ leiten lassen. Der Koalitionsvertrag weist deshalb an diesem Punkt den an der Gesetzgebung de lege ferenda Beteiligten den richtigen Weg.
[1] Weigend, KriPoZ 2025, 212 (214).
[2] Zutreffend weist Weigend, KriPoZ 2025, 212 (214) darauf hin, dass einer misogynen Einstellung entsprungene Tötungen von Frauen durch männliche Täter in der Regel niedrige Beweggründe zugrunde liegen werden.
[3] Darauf würde ich abstellen zur Beantwortung der Frage, worauf eigentlich der Zusammenhang zwischen weiblichem Geschlecht und besonderer Verletzlichkeit beruhe, Weigend, KriPoZ 2025, 212 (214).
[4] Verspricht die Politik besonderen Schutz von Frauen vor Gewalt, drängt sich die Frage auf, ob das nur gegen männliche Angreifer oder auch gegen angreifende Frauen gelten soll, Weigend, KriPoZ 2025, 212 (214).
[5] Berechtigt ist die Frage von Weigend, KriPoZ 2025, 212 (214), ob besonderer Schutz auch „physisch starken Frauen“, z.B. ausgebildeten Kampfsportlerinnen zugutekommen soll.
[6] Sternberg-Lieben/Steinberg, in: TK-StGB, 31. Aufl. (2025), § 211 Rn. 84.
[7] Bosch, in: TK-StGB, § 13 Rn. 18; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 180.
[8] Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 181.
[9] Auf die Arglosigkeit schutzbereiter Dritter abzustellen, um so das Mordmerkmal anwenden zu können (BGH, NStZ 2008, 93), hilft nicht, wenn der zum Schutz verpflichtete Dritte selbst der Täter ist.
[10] Als „kriminalpolitisch nachvollziehbar“ und „verständlich“ kommentiert Schneider, in: MüKo-StGB, Bd. 4, 4. Aufl. (2021), vor § 211 Rn. 229 den Vorschlag. Gleichwohl scheint er ihm eher ablehnend gegenüber zu stehen.
[11] Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 185.
[12] Weitere Beispiele bei Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 186 ff.
[13] Schneider, in: MüKo-StGB, § 211 Rn. 126.
[14] Zuletzt wieder BGH, Beschl. v. 18. 6. 2025 – 4 StR 65/25.
[15] Mitsch, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 4, § 1 Rn. 37.
[16] Darauf abstellend Schneider, in: MüKo-StGB, § 211 Rn. 126: „sozialpsychologisch vermittelte Verunsicherung der Allgemeinheit“.
[17] Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 176.
[18] Als Mittäter eines Mordes sind mehrere Täter strafbar, wenn wenigstens einer von ihnen ein Mordmerkmal erfüllt und dieses den anderen zugerechnet wird (was bei den Mordmerkmalen der ersten und dritten Gruppe nicht möglich ist), Saliger, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 211 Rn. 112.
[19] Nachlesbar bei Schneider, in: MüKo-StGB, vor § 211 Rn. 226.
[20] Eisele, in: TK-StGB, vor § 13 Rn. 101a.
[21] Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 ff.
[22] Ablehnend – basierend auf einer von der hiesigen abweichenden Rechtsidee – Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 189.
[23] Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 147.
[24] Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, S. 168.