Abstract
Der Beitrag untersucht vor dem Hintergrund jüngster Zeitungsartikel, inwieweit die gesetzlichen Vorschriften geändert werden müssten oder es schon heute ermöglichen, von Historikern geäußerten Vorschlägen nachzukommen, den letzten Zeitzeugen auf Seiten der Täter die Einstellung ihres Strafverfahrens im Gegenzug für Aufklärung anzubieten.
I. Einleitung
Als ich vor fünfzehn Jahren begann, selbst mit Studenten in ehemalige Konzentrationslager – Dachau, Ravensbrück, Auschwitz – zu fahren,[1] da wurde ich von dem engagierten Gedenkstättenpersonal stets gefragt, warum ausgerechnet Jurastudenten sich für die Geschehnisse in den Lagern interessieren – statt der Historiker, Schulklassen, Verfolgten, die dort offenbar sonst herumgeführt werden. Ich war dann immer ganz perplex: Es erschien mir selbstverständlich, dass sich Juristen – vor allem Strafrechtler – für das größte Verbrechen interessieren, das in der Menschheitsgeschichte je von Deutschen verübt wurde.
Das ist heute Gott sei Dank anders: Nach den Verurteilungen von John Demjanjuk[2] und Oskar Gröning[3] wundert sich niemand mehr über das Interesse der Juristen, zu Recht. Im Gegenteil erscheint es im Nachhinein kaum noch nachvollziehbar, warum in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren praktisch keine Strafverfolgung von NS-Tätern mehr stattgefunden hat. Der für die Bedeutung der historischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts neben dem, allerdings von den alliierten „Siegermächten“ verantworteten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gar nicht hoch genug einzuschätzenden, gegen alle Widerstände maßgeblich von dem damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer durchgesetzte Frankfurter Auschwitz-Prozess[4] schien lange Zeit der Höhepunkt und zugleich der Endpunkt der bundesdeutschen Aufarbeitung des NS-Unrechts gewesen zu sein. Man wird von einem Versagen nicht nur der Justiz, sondern auch der „Strafrechtswissenschaft“ sprechen müssen,[5] das es in Zukunft aufzuarbeiten gilt.[6] Da passen Rufe nach einem „Runden Tisch“ oder einer „Wahrheitskommission“ anstelle von Strafverfahren, wie sie der Historiker Thomas Weber von der University of Aberdeen ins Spiel gebracht hat, zumindest auf den ersten Blick, nicht ins Bild. In der Tat will es nicht recht einleuchten, warum die Antwort auf ein jahrelanges Zuwenig an Strafverfolgung ausgerechnet das Ende der Strafverfolgung sein soll. Sollte man sich nicht eher freuen über die neu entfalteten Aktivitäten der Ludwigsburger Zentralstelle,[7] die endlich Früchte tragen und zu zahlreichen neuen Anklagen führen?[8] Ich selbst habe andernorts für die längst überfällige[9] Verfolgung auch all der Wachmannschaften in Konzentrationslagern plädiert, die nicht – wie Auschwitz II, Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka – reine Vernichtungslager waren,[10] und von einem hier erneut drohenden, später kaum noch gut zu machenden Versäumnis gesprochen.[11]
So wie Ralph Giordano einst von der „zweiten Schuld“ der Deutschen gesprochen hat,[12] und damit die Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld nach 1945 meinte, so droht hier womöglich eine „dritte Schuld“. Das BVerfG hat jüngst erst die Ablehnung des Antrags von Oskar Gröning auf Vollstreckungsaufschub nach § 455 Abs. 3 StPO bestätigt,[13] und in der Literatur wird – vor dem Hintergrund – auch aus kriminalpolitischer Sicht für die strikte Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs plädiert.[14]
II. Mögliche Einwände
Dafür, dass das BVerfG die Beschwerde Grönings nicht zur Entscheidung angenommen hat, weil alle verfassungsrechtlich maßgeblichen Fragen hinreichend geklärt seien, hat es seine Entscheidung relativ ausführlich begründet. Das BVerfG betont darin die humanitäre Seite, wonach ein „menschenwürdiger Vollzug der Strafe auch dem mit „besonders schwerer Tatschuld beladenen Verurteilten“ die grundsätzlich realisierbare Chance belassen muss, seine Freiheit wiederzugewinnen: „Fallgestaltungen, die den Verurteilten von vorneherein zum Versterben in der Haft verurteilen oder seine Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum oder Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduzieren, sind dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich fremd.“[15]
Darum geht es dem Professor für Geschichte und internationale Politik an der University of Aberdeen aber nicht, Thomas Weber geht es darum möglichst viel über die Vergangenheit zu erfahren, und er fragt sich „ob ein klassisches Gerichtsverfahren noch der beste Weg ist, um diese Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten oder ob es… nicht bessere Wege gibt“[16]– denn durch solche Verfahren bringe man „Leute zum Schweigen“. Er will aber mit Wahrheitskommissionen „Menschen zum Reden bringen“.[17]
Der in Oxford und Harvard ausgebildete deutsche Professor und Publizist schrieb in einem Artikel in der FAZ im Jahre 2012:[18] „Die Zeit für eine strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen läuft ab, nicht selten steht sie einer historischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen sogar im Weg, weil die öffentliche Aufmerksamkeit sich nicht mehr auf die Taten, sondern auf den Zustand der greisen Täter richtet. Und die schwiegen.“ Er plädiert dafür, Wahrheitskommissionen nach afrikanischem[19] und lateinamerikanischem Vorbild einzurichten, um die schweigenden Täter dazu zu bewegen, „im Gegenzug für Immunität vor weiterer Strafverfolgung offen und ehrlich über die dunkelsten Kapitel ihres Lebens zu sprechen.“ Damit verbindet er die Hoffnung, dass sich die häufig nur prozesstaktisch bedingten Erinnerungslücken wieder schlössen.
Für die Gesellschaft sei die historische Wahrheit bedeutsamer als die juristische Wahrheitsfindung. Darum halte er es „im Zweifel für wichtiger, diese hochbetagten Menschen zum Reden zu bringen“, wiederholt er auch in einem Interview, das er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland Ende 2018 gegeben hat und das von vielen Tageszeitungen auszugsweise abgedruckt wurde, und hebt darin noch einen weiteren Aspekt hervor, der bisher vernachlässigt wurde: das Wiedererstarken der rechten und nationalistischen Strömungen. So erinnert er daran, dass Gröning nicht zuletzt „auch deshalb angeklagt werden konnte, weil er – um Holocaust-Leugnern etwas entgegenzusetzen – öffentlich über das redete, was er in Auschwitz gesehen hatte.“[20]
Weber befürchtet, dass die letzten Zeitzeugen „jetzt – kurz vor ihrem Lebensende – aus Angst vor Verfolgung ihre Lippen für immer verschließen“ werden. Für eine Wahrheitskommission sei es jetzt, da die Tätergeneration mittlerweile zwischen 90 und 100 Jahren als sei, zu spät. Das Verfahren vor dem LG Neubrandenburg gegen Hubert Zafke, der als Sanitäter in Auschwitz Dienst tat, wurde nach einigen unrühmlichen Wendungen – die zahlreiche Befangenheitsanträge gegen die Richter, Beschwerden und Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung involvierten – im September 2017 eingestellt. Im Juli 2018 ist Zafke im Alter von 97 Jahren verstorben. Bereits 2017 wurde auch ein heute 97-jähriger Wachmann des KZ Lublin-Majdanek vor der Schwurgerichtskammer in Frankfurt a.M. angeklagt. Ein weiterer 94 Jahre alter früherer SS-Wachmann in Auschwitz steht derzeit vor der Jugendkammer des LG Mannheim. In Berlin hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen eine 95-Jährigen erhoben. Zuletzt ist ein Prozess vor dem LG Münster gegen einen 95-jährigen Wachmann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig bekannt geworden. Der Prozess ist wegen einer schweren Herz- und Nierenerkrankung von Johann Rehbogen jedoch vorerst ausgesetzt worden.[21]
Anlässlich dieses Verfahrens hat Weber zuletzt folgenden, nachdenkenswerten Vorschlag unterbreitet: „Ein Modell wäre aber: Wenn du redest und umfassend über die Zeit im KZ aussagst, dann sichern wir dir zu, auf juristische Verfolgung zu verzichten. Oder dann wirst du lediglich verpflichtet, zum Beispiel 30 Briefe israelischer Schulklassen zu beantworten.“[22]
III. Die gegenwärtige Rechtslage
Früher enthielt § 153a StPO (Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen) einen abschließenden Katalog von Auflagen und Weisungen, zu denen auch die sog. Wiedergutmachungsauflage (§ 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO) gehörte. Und obwohl diese schon immer auch die Abgabe einer Entschuldigung oder Naturalobligation (bei materiellen wie aber vor allem auch bei immateriellen Schäden) umfasste,[23] stieß diese doch dort an ihre Grenzen, wo das Opfer von der „Wiedergutmachung“ nichts mehr hatte.[24] Mit der Öffnung des Katalogs in § 153a Abs. 1 S. 2 StPO durch das Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs usw. vom 20.12.1999[25] (Aufnahme des Wortes „insbesondere) ist das Bedürfnis für eine extrem weite Auslegung des Begriffes der Wiedergutmachung aber entfallen.[26] Von dem den Staatsanwaltschaften und Gerichten neuerdings eingeräumten „Auflagenerfindungsrecht“ sind prinzipiell auch solche Möglichkeiten wie von Weber angedacht – Aufklären bzw. Briefeschreiben – abgedeckt.
Allerdings setzt § 153a StPO genau wie § 153 StPO (Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit) voraus, dass es sich um Vergehen handelt – also solche Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als ein Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind, § 12 Abs. 2 StGB. Das ist aber in den hier in Rede stehenden Fällen von vornherein ausgeschlossen, da alle anderen Taten außer Mord verjährt sind (§ 78 Abs. 2 StGB) und Mord nach dem Gesetz nun einmal zwingend mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist (§ 211 Abs. 1 StGB: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“).
An etwas versteckter Stelle lässt das Gesetz dennoch sogar die Einstellung (bzw. das Absehen von der Verfolgung) bei Verbrechen – also solchen Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind (§ 12 Abs. 1 StGB) – zu, und zwar in § 153b StPO i.V.m. § 46a StGB.[27] Nach der ersteren Vorschrift kann die Staatsanwaltschaft mit der Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen (Abs. 1) bzw. das Gericht mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten das Verfahren unter denselben Voraussetzungen einstellen (Abs. 2), unter denen das Gericht von Strafe absehen könnte – und nach § 46a StGB kann das Gericht im Falle des sog. Täter-Opfer-Ausgleichs (Nr. 1) oder der Schadenswiedergutmachung (Nr. 2) die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB mildern oder ganz von Strafe absehen.
So wichtig ist dem Gesetzgeber der TOA gewesen, dass er ihn sogar bei Verbrechen nicht von vornherein ausschließen wollte und in § 155a StPO sogar eine „Zentralnorm“ für den TOA etabliert hat, nach der Staatsanwaltschaft und Gericht „in jedem Stadium des Verfahrens“[28] die Möglichkeiten eine TOA prüfen und „in geeigneten Fällen“ darauf hinwirken sollen. Ob es sich hier um einen „geeigneten Fall“ handelt, darf freilich bezweifelt werden. Immerhin muss die ausgesprochen große Zahl von Opfern der Durchführung eines TOA nicht im Wege stehen, wenn die Opfer sich auf einen Repräsentanten ihrer Interessen – das könnte etwa das Internationale Auschwitz Komitee oder ein Opfer-Verband, wie z.B. eine Lagergemeinschaft, oder dergleichen sein – einigen können.[29] Auch kommt es zumindest nach den Buchstaben des Gesetzes in § 46a StGB (und auch in § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO) nur auf das „Bemühen“ (bzw. das „ernsthaftes Bemühen“ in § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO) des Täters an und nicht auf die Bereitschaft des Opfers.[30]
Freilich setzt das Absehen von Strafe nach § 46a StGB – und damit auch die Einstellung des Verfahrens bzw. das Absehen von der Verfolgung nach § 153b StPO – voraus, dass im Einzelfall keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr „verwirkt“ ist.[31] Nun könnte man fragen, ob eine so geringe Freiheitsstrafe den hier in Rede stehenden Verbrechen überhaupt noch „tat- und schuldangemessen“ ist. Das erübrigt sich aber in den hier interessierenden Fällen von vornherein dadurch, dass § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB für die Beihilfe zum Mord ein Mindestmaß von drei Jahren vorsieht.[32] Entsprechend ist Gröning zu vier Jahren und Demjanjuk sogar zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
IV. Vorschläge de lege ferenda
De lege ferenda böten sich verschiedene Stellschrauben an, um dem Anliegen von Thomas Weber noch zum Durchbruch zu verhelfen. So könnte – neben der Aufnahme einer Wahrheitskommission in das StGB (etwa als § 46c StGB) oder die StPO (etwa als § 153g StPO) nach ausländischem Vorbild – quasi „minimal-invasiv“ erwogen werden, die Worte „bis zu einem Jahr“ in § 46a StGB durch die Worte „bis zu fünf Jahren“ zu ersetzen. Freilich würden dann auch andere, jüngere Täter in den Genuss der Regelung kommen, was den Vorteil böte, dass es sich dabei um keine Spezialgesetz zugunsten von NS-Tätern handeln würde, aber auf der anderen Seite vielleicht als zu weit gehend empfunden würde.
Wollte man das vermeiden, so könnte man das – ohnehin wenig präzise[33]– Wörtchen „verwirkt“ durch eine Formulierung zu ersetzen versuchen, die statt auf die Höhe der zu erwartenden Strafe auf die erwartbare Dauer der Strafvollstreckung abstellte. Das würde der Tatsache Rechnung tragen, dass in den hier interessierenden Fällen von der ausgesprochenen Freiheitsstrafe aller Voraussicht nach ohnehin nur noch ein Bruchteil vollstreckt werden wird. Die damit ermöglichte Verfahrenseinstellung würde auch denjenigen entgegenkommen, die meinen, dass der Verfahrenszweck bei Todkranken und Uralten nicht mehr erreichbar sei.[34] Zwar sind ein hohes Lebensalter und eine begrenzte Lebenserwartung als solches kein Verfahrenshindernis,[35] aber das wäre ja auch nicht der Einstellungsgrund – Einstellungsgrund bliebe die Wiedergutmachung/TOA.
Tatsächlich ist zu überlegen, ob nicht schon heute das Verfahren abgebrochen werden müsste, wenn von vornherein feststünde, dass der Angeklagte im Falle einer Verurteilung „vollstreckungsuntauglich“ sein wird. Normalerweise sind „Verhandlungsunfähigkeit“ und „Vollstreckungsuntauglichkeit“ zwei ganz verschieden Paar Schuhe. Auch wird eine Prognose derart, dass der Angeklagte zwar momentan noch verhandlungsfähig ist, aber nach dem Urteil (sicher) vollstreckungsuntauglich sein wird, kaum je möglich sein. Wäre sie es aber, was bei Über-90-Jährigen immerhin nicht völlig abwegig erscheint, dann müsste man durchaus über solche Vorwirkungen nachdenken – was in diesem Zusammenhang freilich nicht mehr besagen will, als dass die von Teilen der Lit. (und auch vom BVerfG) favorisierte Vollstreckungslösung (s.o. I) dem nicht entgegensteht.
Auf die – dann allerdings noch immer – bestehenden grundsätzlichen Bedenken gegenüber einer Lösung unter der Fahne des „Täter-Opfer-Ausgleichs“[36] soll nicht weiter eingegangen werden, dazu nur soviel: Nachdem „Vergeltung“ überwiegend nicht mehr als legitimer Strafzweck angesehen wird, bleiben nur Präventionszwecke. Da aber ein spezialpräventives Strafbedürfnis ebenfalls ausscheidet bei Tätern, die jahrelang unbehelligt und gut integriert ihren Lebensabend gefristet haben, und auch negative Generalprävention unter den gegebenen gesellschaftspolitischen Umständen obsolet erscheint, bleibt nur die positive Generalprävention, also die Stärkung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit, übrig – aber selbst die ermöglicht nach Roxin eine befriedigende Lösung erst in Verbindung mit einem „kommunikationstheoretischen Strafzweck“, der das „Genugtuungsinteresse der Opfer und ihrer Hinterbliebenen“ in den Vordergrund stelle.[37]
V. Fazit
Die Besorgnis, dass die Täter, die zugleich die letzten Zeitzeugen sind, sich verteidigen, indem sie – zum Nachteil der Gesellschaft – schweigen oder die Unwahrheit sagen, ist groß. Das muss der Rechtsstaat hinnehmen, dennoch kann man nach besseren Alternativen suchen. Eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen könnte eine solche Alternative sein eingedenk der Tatsache, dass die Freiheitsstrafe aller Voraussicht nach ohnehin nicht mehr, jedenfalls nicht vollständig vollstreckt werden wird. Die tatsächliche Dauer der Vollstreckung dürfte in vielen Fällen nicht höher liegen als ein Jahr – der Grenze, bis zu der das Gesetz die Einstellung nach erfolgtem TOA äußerstenfalls hinnimmt. Dafür bräuchte es aber einer Gesetzesänderung. Sogar die Möglichkeit das gar nicht näher definierte Wörtchen „verwirkt“ schon jetzt in diesem Sinne auszulegen,[38] erscheint diskutabel, wird aber bei den Gerichten, die dann vor der Öffentlichkeit dafür gerade stehen müssten, voraussichtlich kaum Anklang finden. Überhaupt sehe ich momentan keine Bereitschaft, geschweige denn eine Mehrheit im Bundestag dafür, das heiße Eisen anzufassen, nachdem die Strafverfolgung mit 70-jähriger Verspätung gerade erst in Gang gekommen ist. Deshalb wird sich die Frage wohl eher durch Zeitablauf als durch proaktive Kriminalpolitik erledigen.
[1] Zuvor bin ich als Teilnehmer und Mitarbeiter erstmals mit Werner Beulke, von dem ich die Tradition übernommen habe (s. dazu Fahl, Beulke-FS, 2015, S. 81, 94), in den 90er Jahren in Auschwitz gewesen.
[2] LG München II, Urt. v. 12.5.2011 – 1 KS 115 JS 12496/08 – zum Demjanjuk-Prozess: Volk, Das letzte Urteil, Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, 2012; Welfing, Der Fall Demjanjuk – Der letzte große NS-Prozess, 2011; s. auch Fahl, HRRS 2015, 210; Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, S. 339; dazu auch schon Fahl, ZJS 2011, 229 (230).
[3] BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16 m. Anm. Fahl, HRRS 2017, 167; s. dazu auch Bode, NJ 2017, 227; Brüning, ZJS 2018, 285; Burghardt, ZJS 2019, 21; Grünewald, NJW 2017, 500; Momsen, StV 2017, 546; Rommel, NStZ 2017, 161; Roxin, JR 2017, 88; Safferling, JZ 2017, 258.
[4] LG Frankfurt a.M., Urt. v. 19./20.8.1965 – 4 Ks 2/63; s. dazu ungewöhnlich krit. jüngst Renz, Auschwitz vor Gericht – Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, 2018.
[5] So in der Tat Renz (Fn. 4), S. 179.
[6] Ein Anfang ist gemacht, etwa von Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, 2016 (Bespr. der Vorläufer bei Beulke, StV 2014, 572).
[7] Kritisch zu ihrer bisherigen Ineffektivität, insbes. zu ihrem ehemaligen Leiter Kurt Schrimm, Werner Renz, vormals Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut (Renz, Rezension zu Kurt Schrimm, Schuld, die nicht vergeht – Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur, 2017, in: HSozKult 2018-1-036).
[8] Zweifel daran bei Vormbaum, in: Transitional Justice, hrsg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 2016, S. 28 (33).
[9] So bereits Fahl, HRRS 2015, 210 (217).
[10] Abweichend – im Sinne der Beschränkung auf sog. Vernichtungslager – Kurz, ZIS 2013, 122 (128).
[11] Fahl, HRRS 2017, 167 (169).
[12] Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, 1987.
[13] Vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.12.2017 – 2 BvR 2772/17, NJW 2018, 289 = HRRS 2018 Nr. 4.
[14] Siehe etwa Kaltenhäuser, HRRS 2018, 104.
[15] BVerfG, NJW 2018, 289 (290).
[16] Vgl. auch Werle/Vormbaum, in: Transitional Justice (Fn. 8), S. 37 ff.
[17] https://www.deutschlandfunkkultur.de/mit-wahrheitskommissionen-menschen-zum-reden-bringen.954.de.html?dram:article_id=242995 (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[18] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatte/ns-aufabrbeitung-sollen-greise-tatverdaechtige-noch-vor-gericht-11642381.html (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[19] Siehe dazu etwa du Bois-Pedain, Die Aufarbeitung des Apartheid-Regimes in Südafrika, in: Transitional Justice (Fn. 8), S. 175 ff.
[20] Siehe etwa Ostseezeitung v. 30.11.2018, S. 3 – im Internet etwa abrufbar unter www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Politik/Deut
schland-Welt/Gerichtsprofessor-Thomas-Weber-Wir-verstehen-ja-viele-NS-Verbrechen-bis-heute-nicht (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[21] Wie zu erwarten, ging es an den bisherigen Prozesstagen hauptsächlich um den Gesundheitszustand des Angeklagten, es wurde aber auch eine von ihm selbst verfasste Erklärung verlesen, wonach er davon ausgegangen sei, dass es in Stutthof nur eine „Entlausungskammer“ (aber keine Gaskammer) gegeben habe.
[22] Wie Fn. 20.
[23] Beulke, in: LR-StPO, 26. Aufl. (2008), § 153a Rn. 54.
[24] Das war bei dem Passauer Projekt zur „Gewalt im sozialen Nah- raum“ etwa dann der Fall, wenn der Partner sich vom Täter bereits getrennt hatte; zum „Passauer Modellprojekt“: Beulke, MSchrKrim 1994, 363; Beulke/Theerkorn, NStZ 1995, 475 f.; krit. etwa Meier, JZ 1995, 438; ausf. zur Kritik des juristischen Schrifttums Beulke, FS Kaiser, 1998, S. 1421.
[25] BGBl. I S. 2491.
[26] Vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 54, wonach diese Auslegung als überholt anzusehen ist.
[27] Vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153b Rn. 11; zum Verhältnis von § 153b StPO zu § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO (Täter-Opfer-Ausgleich) Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153b Rn. 8 ff. – Ob das Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen und Einstellungsvoraussetzungen freilich besonders sinnvoll ist, erscheint zweifelhaft, s. Weber, DRiZ 2000, 43.
[28] Was bereits die Frage hat aufkommen lassen, ob es sich beim TOA möglicherweise sogar um einen neuen „Verfahrensgrundsatz“ unseres Strafverfahrens handelt, vgl. Buhlmann, Die Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs als Verfahrensgrundsatz?, 2004.
[29] Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 155a Rn. 9. – Ob von einem TOA freilich auch dann noch gesprochen werden kann, wenn ein Teil der Opfer durch die Tat des Täters umgekommen und ein anderer Teil bereits vor dem Täter verstorben ist, ist allerdings fraglich, vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 63: nicht anders als durch das Vorhandensein eines Opfers beschränkt. Das dürfte nur bei schon extrem weiter Gesetzesauslegung möglich sein; pauschal gegen die Anwendbarkeit des TOA auf vollendete Tötungsdelikte daher etwa Maier, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2016), § 46a Rn. 3.
[30] Das war schon im Gesetzgebungsverfahren ein zentraler Streitpunkt, vgl. den Beratungsverlauf im Rechtsausschuss, BT-Drs. 14/2258, S. 8; Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 61. – Immerhin bestimmt § 155a Satz 3 StPO: Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten darf die Eignung nicht angenommen werden – was sich bei einer solchen Vielzahl von Opfern (Beihilfe zum Mord in 36.000 Fällen im Berliner Fall bzw. in 13.335 Fällen im Mannheimer Fall) leicht als unüberwindliche Hürde erweisen kann.
[31] Mit der „Ein-Jahres-Grenze“ hat der Gesetzgeber „einer zu großzügigen Nutzung“ vorbeugen wollen, s. Streng, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 46a Rn. 23. – Damit ist das ursprünglich verschuldete Unrecht ohne Einbeziehung der Wiedergutmachungsleistungen gemeint, ein Abstellen auf den bereits geminderten Strafrahmen nach § 46a StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB (so aber z.B. Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. (2014), § 46a Rn. 7) wäre nach Streng (a.a.O., § 46a Rn. 24) zirkelschlüssig und widersprüchlich.
[32] Zur Kontroverse um die Möglichkeit der „doppelten Milderung“ infolge § 46a StGB, was einen Strafrahmen von 6 Mo. bis 11. J. 3. Mo. ergäbe und damit theoretisch schon heute das Absehen von Strafe und damit auch von Verfolgung in den hier interessierenden Fällen erlaubte, s.o. Fn. 31.
[33] Siehe oben Fn. 31. – Außer in § 46a, letzter Halbs. StGB kommt es auch in § 60 S. 2 StGB vor.
[34] Ausf. Limbach, Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis (1998). Damit wird jedoch das Feststellungsinteresse der Gemeinschaft als zu gering eingestuft, zur Wahrheitsfindung gehört zunächst die Aufklärung des Geschehens, vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. (2018), Rn. 12; s. dazu auch BVerfGE 77, 65, 77.
[35] Fahl, ZJS 2011, 229, 233; Prittwitz, StV 2010, 648 (653 f.); vgl. auch Beulke/Swoboda (Fn. 34), Rn. 289 (dort auch zum anders gelagerten Fall einer konkreten Todeserwartung).
[36] Siehe dazu oben Fn. 29 f.
[37] Roxin, JR 2017, 88 (91).
[38] Siehe im Übrigen auch schon oben Fn. 32.