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30 Briefe an israelische Schulklassen – Gesetzliche Alternativen zur Bestrafung alternder NS-Täter de lege lata et de lege ferenda

von Prof. Dr. Christian Fahl 

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Abstract
Der Beitrag untersucht vor dem Hintergrund jüngster Zeitungsartikel, inwieweit die gesetzlichen Vorschriften geändert werden müssten oder es schon heute ermöglichen, von Historikern geäußerten Vorschlägen nachzukommen, den letzten Zeitzeugen auf Seiten der Täter die Einstellung ihres Strafverfahrens im Gegenzug für Aufklärung anzubieten.

I. Einleitung

Als ich vor fünfzehn Jahren begann, selbst mit Studenten in ehemalige Konzen­tra­tions­lager – Dachau, Ravensbrück, Auschwitz – zu fahren,[1] da wurde ich von dem en­gagierten Gedenkstättenpersonal stets gefragt, warum ausgerechnet Jurastudenten sich für die Geschehnisse in den Lagern interessieren – statt der Historiker, Schul­klassen, Verfolgten, die dort offenbar sonst herumgeführt werden. Ich war dann im­mer ganz perplex: Es erschien mir selbstverständlich, dass sich Juristen – vor allem Strafrechtler – für das größte Verbrechen interessieren, das in der Menschheits­ge­schich­te je von Deutschen verübt wurde.

Das ist heute Gott sei Dank anders: Nach den Verurteilungen von John Demjanjuk[2] und Oskar Gröning[3] wundert sich niemand mehr über das Interesse der Juristen, zu Recht. Im Gegenteil erscheint es im Nachhinein kaum noch nachvollziehbar, wa­rum in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren praktisch keine Straf­ver­fol­gung von NS-Tätern mehr stattgefunden hat. Der für die Bedeutung der historischen Auf­ar­beitung des nationalsozialistischen Unrechts neben dem, allerdings von den alliierten „Siegermächten“ verantworteten Nürnberger Haupt­kriegs­­verbrecher­prozess gar nicht hoch genug einzuschätzenden, gegen alle Wi­der­stän­de maßgeblich von dem damaligen hessischen General­staats­anwalt Fritz Bauer durchgesetzte Frankfurter Auschwitz-Prozess[4] schien lange Zeit der Höhepunkt und zugleich der Endpunkt der bundesdeutschen Aufarbeitung des NS-Unrechts ge­we­sen zu sein. Man wird von einem Versagen nicht nur der Justiz, sondern auch der „Strafrechts­wis­sen­schaft“ sprechen müssen,[5] das es in Zukunft aufzuarbeiten gilt.[6] Da passen Rufe nach einem „Runden Tisch“ oder einer „Wahrheitskommission“ anstelle von Strafverfahren, wie sie der Historiker Thomas Weber von der University of Aberdeen ins Spiel gebracht hat, zumindest auf den ersten Blick, nicht ins Bild. In der Tat will es nicht recht einleuchten, warum die Antwort auf ein jahrelanges Zuwenig an Straf­­ver­folgung ausgerechnet das Ende der Strafverfolgung sein soll. Sollte man sich nicht eher freuen über die neu entfalteten Aktivitäten der Ludwigsburger Zentral­stelle,[7] die endlich Früchte tragen und zu zahlreichen neuen Anklagen führen?[8] Ich selbst habe andernorts für die längst überfällige[9] Verfolgung auch all der Wach­mann­­schaf­ten in Konzentrationslagern plädiert, die nicht – wie Auschwitz II, Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka – reine Vernichtungslager wa­ren,[10] und von einem hier erneut drohenden, später kaum noch gut zu machen­den Versäumnis ge­­­spro­chen.[11]

So wie Ralph Giordano einst von der „zweiten Schuld“ der Deutschen gesprochen hat,[12] und damit die Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld nach 1945 meinte, so droht hier womöglich eine „dritte Schuld“. Das BVerfG hat jüngst erst die Ab­lehnung des Antrags von Oskar Gröning auf Vollstreckungsaufschub nach § 455 Abs. 3 StPO bestätigt,[13] und in der Literatur wird – vor dem Hintergrund – auch aus kri­minalpolitischer Sicht für die strikte Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs plädiert.[14]

II. Mögliche Einwände

Dafür, dass das BVerfG die Beschwerde Grönings nicht zur Entscheidung angenommen hat, weil alle verfassungsrechtlich maßgeblichen Fragen hinreichend geklärt seien, hat es seine Entscheidung relativ ausführlich begründet. Das BVerfG be­tont darin die humanitäre Seite, wonach ein „menschenwürdiger Vollzug der Strafe auch dem mit „besonders schwerer Tatschuld beladenen Verurteilten“ die grundsätzlich re­a­lisierbare Chance belassen muss, seine Freiheit wiederzugewinnen: „Fall­ge­stal­tun­gen, die den Verurteilten von vorneherein zum Versterben in der Haft ver­­ur­tei­len oder seine Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siech­tum oder Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduzieren, sind dem Straf­vollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich fremd.“[15]

Darum geht es dem Professor für Geschichte und internationale Politik an der University of Aberdeen aber nicht, Thomas Weber geht es darum möglichst viel über die Vergangenheit zu erfahren, und er fragt sich „ob ein klassisches Ge­richts­ver­fah­ren noch der beste Weg ist, um diese Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten oder ob es… nicht bessere Wege gibt“[16]– denn durch solche Verfahren bringe man „Leute zum Schweigen“. Er will aber mit Wahrheitskommissionen „Menschen zum Reden bringen“.[17]

Der in Oxford und Harvard ausgebildete deutsche Professor und Publizist schrieb in einem Artikel in der FAZ im Jahre 2012:[18] „Die Zeit für eine strafrechtliche Auf­ar­bei­tung der NS-Verbrechen läuft ab, nicht selten steht sie einer historischen Auf­ar­beitung der NS-Verbrechen sogar im Weg, weil die öffentliche Aufmerk­sam­keit sich nicht mehr auf die Taten, sondern auf den Zustand der greisen Täter richtet. Und die schwiegen.“ Er plädiert dafür, Wahrheitskommissionen nach af­ri­ka­nischem[19] und lateinamerikanischem Vorbild einzurichten, um die schwei­gen­den Täter dazu zu be­we­gen, „im Gegenzug für Immunität vor weiterer Straf­ver­fol­gung of­fen und ehr­lich über die dunkelsten Kapitel ihres Lebens zu sprechen.“ Damit verbindet er die Hoff­nung, dass sich die häufig nur prozess­tak­tisch bedingten Er­inne­rungslücken wieder schlössen.

Für die Gesellschaft sei die historische Wahrheit bedeutsamer als die juristische Wahrheitsfindung. Darum halte er es „im Zweifel für wichtiger, diese hochbetagten Menschen zum Reden zu bringen“, wiederholt er auch in einem Interview, das er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland Ende 2018 gegeben hat und das von vielen Tageszeitungen auszugsweise abgedruckt wurde, und hebt darin noch einen weiteren Aspekt hervor, der bisher vernachlässigt wurde: das Wiedererstarken der rechten und nationalistischen Strömungen. So erinnert er daran, dass Gröning nicht zuletzt „auch deshalb angeklagt werden konnte, weil er – um Holocaust-Leugnern etwas entgegenzuset­zen – öffentlich über das redete, was er in Auschwitz gesehen hatte.“[20]

Weber befürchtet, dass die letzten Zeitzeugen „jetzt – kurz vor ihrem Lebensende – aus Angst vor Verfolgung ihre Lippen für immer verschließen“ werden. Für eine Wahr­heitskommission sei es jetzt, da die Tätergeneration mittlerweile zwischen 90 und 100 Jahren als sei, zu spät. Das Verfahren vor dem LG Neubrandenburg gegen Hu­bert Zafke, der als Sanitäter in Auschwitz Dienst tat, wurde nach einigen un­rühm­lichen Wendungen – die zahlreiche Befan­gen­­­­heitsanträge gegen die Richter, Be­schwer­den und Strafanzeigen wegen Rechts­beu­gung und Strafvereitelung involvierten – im September 2017 eingestellt. Im Juli 2018 ist Zafke im Alter von 97 Jah­ren verstorben. Bereits 2017 wurde auch ein heute 97-jäh­riger Wachmann des KZ Lub­lin-Majdanek vor der Schwurgerichts­kam­mer in Frankfurt a.M. angeklagt. Ein weiterer 94 Jahre alter früherer SS-Wachmann in Auschwitz steht derzeit vor der Ju­gend­kam­mer des LG Mann­heim. In Berlin hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen eine 95-Jährigen erhoben. Zuletzt ist ein Prozess vor dem LG Münster gegen einen 95-jährigen Wachmann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig be­kannt ge­wor­den. Der Prozess ist wegen einer schweren Herz- und Nierenerkrankung von Johann Reh­bo­gen jedoch vorerst ausgesetzt worden.[21]

Anlässlich dieses Verfahrens hat Weber zuletzt folgenden, nachdenkenswerten Vor­schlag unterbreitet: „Ein Modell wäre aber: Wenn du redest und umfassend über die Zeit im KZ aussagst, dann sichern wir dir zu, auf juristische Verfolgung zu ver­zich­ten. Oder dann wirst du lediglich verpflichtet, zum Beispiel 30 Briefe is­ra­e­li­scher Schul­klassen zu beantworten.“[22]

III. Die gegenwärtige Rechtslage

Früher enthielt § 153a StPO (Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Wei­sun­gen) einen abschließenden Katalog von Auflagen und Weisungen, zu denen auch die sog. Wiedergutmachungsauflage (§ 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO) gehörte. Und ob­wohl diese schon immer auch die Abgabe einer Entschuldigung oder Natural­obli­ga­­tion (bei materiellen wie aber vor allem auch bei immateriellen Schäden) um­fasste,[23] stieß diese doch dort an ihre Grenzen, wo das Opfer von der „Wiedergut­ma­chung“ nichts mehr hatte.[24] Mit der Öffnung des Katalogs in § 153a Abs. 1 S. 2 StPO durch das Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs usw. vom 20.12.1999[25] (Aufnahme des Wortes „insbesondere) ist das Bedürfnis für ei­­­ne extrem weite Auslegung des Begriffes der Wiedergutmachung aber entfallen.[26] Von dem den Staatsanwaltschaften und Gerichten neuerdings eingeräumten „Auf­la­ge­n­­­erfindungsrecht“ sind prinzipiell auch solche Möglichkeiten wie von Weber an­ge­­dacht – Aufklären bzw. Briefeschreiben – abgedeckt.

Allerdings setzt § 153a StPO genau wie § 153 StPO (Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit) voraus, dass es sich um Vergehen handelt – also solche Ta­ten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als ein Jahr oder mit Geld­­­strafe bedroht sind, § 12 Abs. 2 StGB. Das ist aber in den hier in Rede stehen­den Fällen von vornherein ausgeschlossen, da alle anderen Taten außer Mord ver­jährt sind (§ 78 Abs. 2 StGB) und Mord nach dem Gesetz nun einmal zwingend mit le­bens­lan­ger Freiheitsstrafe bedroht ist (§ 211 Abs. 1 StGB: „Der Mörder wird mit lebens­lan­ger Freiheitsstrafe bestraft.“).

An etwas versteckter Stelle lässt das Gesetz dennoch sogar die Einstellung (bzw. das Absehen von der Verfolgung) bei Verbrechen – also solchen Ta­ten, die im Min­dest­maß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind (§ 12 Abs. 1 StGB) – zu, und zwar in § 153b StPO i.V.m. § 46a StGB.[27] Nach der ersteren Vor­schrift kann die Staatsanwaltschaft mit der Zustimmung des Gerichts von der Ver­folgung absehen (Abs. 1) bzw. das Gericht mit der Zustimmung der Staats­an­walt­schaft und des Angeklagten das Verfahren unter denselben Voraus­set­zungen ein­­stellen (Abs. 2), unter denen das Gericht von Strafe absehen könnte – und nach § 46a StGB kann das Gericht im Falle des sog. Täter-Opfer-Ausgleichs (Nr. 1) oder der Schadenswiedergutmachung (Nr. 2) die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB mil­dern oder ganz von Strafe absehen.

So wichtig ist dem Gesetzgeber der TOA gewesen, dass er ihn sogar bei Ver­brechen nicht von vornherein ausschließen wollte und in § 155a StPO sogar eine „Zen­tral­norm“ für den TOA etabliert hat, nach der Staatsanwaltschaft und Gericht „in je­dem Stadium des Verfahrens“[28] die Möglichkeiten eine TOA prüfen und „in ge­eig­ne­ten Fällen“ darauf hinwirken sollen. Ob es sich hier um einen „geeigneten Fall“ handelt, darf freilich bezweifelt werden. Immerhin muss die aus­ge­spro­chen große Zahl von Opfern der Durchführung eines TOA nicht im Wege ste­hen, wenn die Opfer sich auf einen Repräsentanten ihrer Interessen – das könnte etwa das Internationale Auschwitz Komitee oder ein Opfer-Verband, wie z.B. eine La­ger­ge­meinschaft, oder dergleichen sein – einigen können.[29] Auch kommt es zu­min­dest nach den Buchstaben des Gesetzes in § 46a StGB (und auch in § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO) nur auf das „Bemühen“ (bzw. das „ernsthaftes Be­mü­hen“ in § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO) des Täters an und nicht auf die Bereit­schaft des Opfers.[30]

Freilich setzt das Absehen von Strafe nach § 46a StGB – und damit auch die Ein­stel­lung des Verfahrens bzw. das Absehen von der Verfolgung nach § 153b StPO – voraus, dass im Einzelfall keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr „ver­­wirkt“ ist.[31] Nun könnte man fragen, ob eine so geringe Frei­heits­strafe den hier in Rede stehenden Verbrechen überhaupt noch „tat- und schuld­ange­messen“ ist. Das erübrigt sich aber in den hier interessierenden Fällen von vorn­herein dadurch, dass § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB für die Bei­hil­fe zum Mord ein Mindestmaß von drei Jah­­­­­ren vorsieht.[32] Entsprechend ist Gröning zu vier Jah­­ren und Demjanjuk so­gar zu fünf Jahren Frei­heitsstrafe verurteilt worden.

IV. Vorschläge de lege ferenda

De lege ferenda böten sich verschiedene Stellschrauben an, um dem Anliegen von Thomas Weber noch zum Durchbruch zu verhelfen. So könnte – neben der Aufnahme einer Wahrheitskommission in das StGB (etwa als § 46c StGB) oder die StPO (etwa als § 153g StPO) nach ausländischem Vor­bild – quasi „minimal-in­vasiv“ erwogen werden, die Worte „bis zu einem Jahr“ in § 46a StGB durch die Worte „bis zu fünf Jahren“ zu ersetzen. Freilich würden dann auch andere, jüngere Täter in den Ge­nuss der Re­ge­lung kommen, was den Vorteil böte, dass es sich dabei um keine Spe­zialgesetz zugunsten von NS-Tätern handeln würde, aber auf der anderen Seite vielleicht als zu weit gehend empfunden würde.

Wollte man das vermeiden, so könnte man das – ohnehin wenig präzise[33]– Wört­chen „ver­wirkt“ durch eine Formulierung zu ersetzen versuchen, die statt auf die Hö­he der zu erwartenden Straf­e auf die erwartbare Dauer der Strafvollstreckung ab­stellte. Das wür­de der Tatsache Rechnung tragen, dass in den hier interessierenden Fäl­len von der aus­gesprochenen Freiheitsstrafe aller Voraussicht nach ohnehin nur noch ein Bruchteil vollstreckt werden wird. Die da­mit ermöglichte Verfahrens­ein­stel­lung würde auch denjenigen entgegen­kom­men, die meinen, dass der Ver­fah­­­rens­zweck bei Todkranken und Uralten nicht mehr er­reich­bar sei.[34] Zwar sind ein hohes Le­­bens­­alter und eine begrenzte Le­bens­er­war­tung als solches kein Ver­­fah­rens­­hin­dernis,[35] aber das wäre ja auch nicht der Ein­stel­lungs­grund – Ein­stel­lungs­grund blie­­be die Wiedergutmachung/TOA.

Tatsächlich ist zu überlegen, ob nicht schon heute das Verfahren abgebrochen wer­den müsste, wenn von vornherein feststünde, dass der Angeklagte im Falle einer Ver­­­­­­urteilung „vollstreckungsuntauglich“ sein wird. Normalerweise sind „Ver­hand­lungs­­un­fähigkeit“ und „Vollstreckungsuntauglichkeit“ zwei ganz verschieden Paar Schuhe. Auch wird eine Prognose derart, dass der Angeklagte zwar momentan noch ver­­­­­handlungsfähig ist, aber nach dem Urteil (sicher) vollstreckungsuntauglich sein wird, kaum je möglich sein. Wäre sie es aber, was bei Über-90-Jährigen im­merhin nicht völlig abwegig erscheint, dann müsste man durchaus über solche Vor­­wir­­­kun­gen nachdenken – was in diesem Zusammenhang freilich nicht mehr be­­sagen will, als dass die von Teilen der Lit. (und auch vom BVerfG) favorisierte Voll­streckungs­lö­sung (s.o. I) dem nicht entgegensteht.

Auf die – dann allerdings noch immer – bestehenden grundsätzlichen Bedenken ge­gen­­über einer Lösung unter der Fahne des „Täter-Opfer-Ausgleichs“[36] soll nicht weiter eingegangen wer­den, dazu nur soviel: Nachdem „Vergeltung“ überwiegend nicht mehr als le­gi­timer Strafzweck angesehen wird, bleiben nur Prä­ventions­zwecke. Da aber ein spe­zialpräventives  Strafbedürfnis  ebenfalls aus­schei­det bei Tä­tern, die jahrelang unbehelligt und gut integriert ihren Lebensabend gefristet haben, und auch negative Generalprävention unter den gegebenen gesellschaftspolitischen Um­­ständen obsolet erscheint, bleibt nur die positive Generalprävention, also die Stär­­kung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit, übrig – aber selbst die er­möglicht nach Roxin eine befriedigende Lösung erst in Verbindung mit einem „kom­­muni­kations­theoretischen Strafzweck“, der das „Genugtuungsinteresse der Op­fer und ihrer Hinterbliebenen“ in den Vordergrund stelle.[37]

V. Fazit

Die Besorgnis, dass die Täter, die zugleich die letzten Zeitzeugen sind, sich ver­tei­digen, indem sie – zum Nachteil der Gesellschaft – schweigen oder die Unwahrheit sagen, ist groß. Das muss der Rechtsstaat hinnehmen, dennoch kann man nach besseren Alternativen suchen. Eine Einstellung des Verfahrens ge­gen Auflagen könnte eine solche Alternative sein eingedenk der Tatsache, dass die Freiheitsstra­fe aller Voraussicht nach ohnehin nicht mehr, jedenfalls nicht vollständig vollstreckt werden wird. Die tatsächliche Dauer der Vollstreckung dürfte in vielen Fällen nicht höher liegen als ein Jahr – der Grenze, bis zu der das Gesetz die Einstellung nach erfolgtem TOA äußerstenfalls hinnimmt. Dafür bräuchte es aber einer Geset­zes­än­derung. Sogar die Möglichkeit das gar nicht näher definierte Wört­chen „verwirkt“ schon jetzt in diesem Sinne auszulegen,[38] erscheint disku­tabel, wird aber bei den Ge­­­richten, die dann vor der Öffentlichkeit dafür gerade stehen müssten, voraus­sicht­­lich kaum Anklang finden. Überhaupt sehe ich momentan keine Be­reit­schaft, geschweige denn eine Mehrheit im Bundestag dafür, das heiße Eisen anzufassen, nach­dem die Strafverfolgung mit 70-jähriger Verspätung ge­rade erst in Gang ge­kom­men ist. Deshalb wird sich die Frage wohl eher durch Zeit­­ab­lauf als durch proaktive Kri­­minal­politik erledigen.

 

[1]     Zuvor bin ich als Teilnehmer und Mitarbeiter erstmals mit Werner Beulke, von dem ich die Tradition übernommen habe (s. dazu Fahl, Beulke-FS, 2015, S. 81, 94), in den 90er Jahren in Auschwitz gewesen.
[2]     LG München II, Urt. v. 12.5.2011 – 1 KS 115 JS 12496/08 – zum Demjanjuk-Prozess: Volk, Das letzte Urteil, Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, 2012; Welfing, Der Fall Demjanjuk – Der letzte große NS-Prozess, 2011; s. auch Fahl, HRRS 2015, 210; Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, S. 339; dazu auch schon Fahl, ZJS 2011, 229 (230).
[3]     BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16 m. Anm. Fahl, HRRS 2017, 167; s. dazu auch Bode, NJ 2017, 227; Brü­ning, ZJS 2018, 285; Burghardt, ZJS 2019, 21; Grünewald, NJW 2017, 500; Momsen, StV 2017, 546; Rommel, NStZ 2017, 161; Roxin, JR 2017, 88; Safferling, JZ 2017, 258.
[4]     LG Frankfurt a.M., Urt. v. 19./20.8.1965 – 4 Ks 2/63; s. dazu ungewöhnlich krit. jüngst Renz, Auschwitz vor Gericht – Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, 2018.
[5]     So in der Tat Renz (Fn. 4), S. 179.
[6]     Ein Anfang ist gemacht, etwa von Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, 2016 (Bespr. der Vorläufer bei Beulke, StV 2014, 572).
[7]     Kritisch zu ihrer bisherigen Ineffektivität, insbes. zu ihrem ehemaligen Leiter Kurt Schrimm, Werner Renz, vormals Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut (Renz, Rezension zu Kurt Schrimm, Schuld, die nicht vergeht – Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur, 2017, in: HSozKult 2018-1-036).
[8]     Zweifel daran bei Vormbaum, in: Transitional Justice, hrsg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 2016, S. 28 (33).
[9]     So bereits Fahl, HRRS 2015, 210 (217).
[10]    Abweichend – im Sinne der Beschränkung auf sog. Ver­nich­tungs­lager – Kurz, ZIS 2013, 122 (128).
[11]   Fahl, HRRS 2017, 167 (169).
[12]   Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, 1987.
[13]   Vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.12.2017 – 2 BvR 2772/17, NJW 2018, 289 = HRRS 2018 Nr. 4.
[14]   Siehe etwa Kaltenhäuser, HRRS 2018, 104.
[15]   BVerfG, NJW 2018, 289 (290).
[16]    Vgl. auch Werle/Vormbaum, in: Transitional Jus­tice (Fn. 8), S. 37 ff.
[17]    https://www.deutschlandfunkkultur.de/mit-wahrheitskommissionen-menschen-zum-reden-brin­gen.954.de.html?dram:article_id=242995 (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[18]    https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatte/ns-aufabrbeitung-sollen-greise-tatverdaechtige-noch-vor-gericht-11642381.html (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[19]    Siehe dazu etwa du Bois-Pedain, Die Aufarbeitung des Apartheid-Regimes in Südafrika, in: Transitional Justice (Fn. 8), S. 175 ff.
[20]    Siehe etwa Ostseezeitung v. 30.11.2018, S. 3 – im Internet etwa abrufbar unter www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Politik/Deut
schland-Welt/Gerichtsprofessor-Thomas-Weber-Wir-verstehen-ja-viele-NS-Verbrechen-bis-heute-nicht (zuletzt abgerufen am 15.2.2019).
[21]    Wie zu erwarten, ging es an den bisherigen Prozesstagen hauptsächlich um den Gesundheitszustand des Angeklagten, es wurde aber auch eine von ihm selbst verfasste Erklärung verlesen, wonach er davon ausgegangen sei, dass es in Stutthof nur eine „Entlausungskammer“ (aber keine Gaskammer) gegeben habe.
[22]    Wie Fn. 20.
[23]    Beulke, in: LR-StPO, 26. Aufl. (2008), § 153a Rn. 54.
[24]    Das war bei dem Passauer Projekt zur „Gewalt im sozialen Nah- raum“ etwa dann der Fall, wenn der Partner sich vom Täter bereits getrennt hatte; zum „Passauer Modellprojekt“: Beulke, MSchrKrim 1994, 363; Beulke/Theerkorn, NStZ 1995, 475 f.; krit. etwa Meier, JZ 1995, 438; ausf. zur Kritik des juristischen Schrifttums Beulke, FS Kaiser, 1998, S. 1421.
[25]    BGBl. I S. 2491.
[26]    Vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 54, wonach diese Auslegung als überholt anzusehen ist.
[27]    Vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153b Rn. 11; zum Verhältnis von § 153b StPO zu § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO (Täter-Opfer-Ausgleich) Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153b Rn. 8 ff. – Ob das Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen und Einstellungsvoraussetzungen freilich besonders sinnvoll ist, erscheint zweifelhaft, s. Weber, DRiZ 2000, 43.
[28]    Was bereits die Frage hat aufkommen lassen, ob es sich beim TOA möglicherweise sogar um einen neuen „Verfahrensgrundsatz“ unseres Strafverfahrens handelt, vgl. Buhlmann, Die Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs als Verfahrensgrundsatz?, 2004.
[29]    Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 155a Rn. 9. – Ob von einem TOA freilich auch dann noch gesprochen werden kann, wenn ein Teil der Opfer durch die Tat des Täters umgekommen und ein anderer Teil bereits vor dem Täter verstorben ist, ist allerdings fraglich, vgl. Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 63: nicht anders als durch das Vorhandensein eines Opfers beschränkt. Das dürfte nur bei schon extrem weiter Gesetzesauslegung möglich sein; pauschal gegen die Anwendbarkeit des TOA auf vollendete Tötungsdelikte daher etwa Maier, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2016), § 46a Rn. 3.
[30]    Das war schon im Gesetzgebungsverfahren ein zentraler Streit­punkt, vgl. den Beratungsverlauf im Rechtsausschuss, BT-Drs. 14/2258, S. 8; Beulke, in: LR-StPO (Fn. 23), § 153a Rn. 61. – Immerhin bestimmt § 155a Satz 3 StPO: Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten darf die Eignung nicht angenommen werden – was sich bei einer solchen Vielzahl von Opfern (Beihilfe zum Mord in 36.000 Fällen im Berliner Fall bzw. in 13.335 Fällen im Mannheimer Fall) leicht als unüberwindliche Hürde erweisen kann.
[31]    Mit der „Ein-Jahres-Grenze“ hat der Gesetzgeber „einer zu groß­zü­gi­gen Nutzung“ vorbeugen wollen, s. Streng, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 46a Rn. 23. – Damit ist das ursprünglich ver­­schul­de­te Unrecht ohne Einbeziehung der Wiedergutmachungsleistungen gemeint, ein Abstellen auf den bereits geminderten Strafrahmen nach § 46a StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB (so aber z.B. Stree/Kinzig, in:  Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. (2014), § 46a Rn. 7) wäre nach Streng (a.a.O., § 46a Rn. 24) zirkelschlüssig und widersprüchlich.
[32]    Zur Kontroverse um die Möglichkeit der „doppelten Milderung“ infolge § 46a StGB, was einen Strafrahmen von 6 Mo. bis 11. J. 3. Mo. ergäbe und damit theoretisch schon heute das Absehen von Strafe und damit auch von Verfolgung in den hier interessierenden Fällen erlaubte, s.o. Fn. 31.
[33]    Siehe oben Fn. 31. – Außer in § 46a, letzter Halbs. StGB kommt es auch in § 60 S. 2 StGB vor.
[34]    Ausf. Limbach, Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis (1998). Damit wird jedoch das Feststellungsinteresse der Ge­mein­schaft als zu gering eingestuft, zur Wahr­heits­findung gehört zunächst die Aufklärung des Geschehens, vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. (2018), Rn. 12; s. dazu auch BVerfGE 77, 65, 77.
[35]    Fahl, ZJS 2011, 229, 233; Prittwitz, StV 2010, 648 (653 f.); vgl. auch Beulke/Swoboda (Fn. 34), Rn. 289 (dort auch zum anders gelagerten Fall einer konkreten Todeserwartung).
[36]    Siehe dazu oben Fn. 29 f.
[37]    Roxin, JR 2017, 88 (91).
[38]    Siehe im Übrigen auch schon oben Fn. 32.

 

 

 

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