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Ruth Blufarb: Geschichten im Recht. Übertragbarkeit von „Law as Narrative“ auf die deutsche Rechtsordnung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2017, Nomos, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-4172-4, S. 572, Euro 119,00.

Wer meint, Literatur habe nichts mit Recht zu tun, der irrt. Umgekehrt hat auch Recht mehr mit Literatur zu tun, als man denkt. Dennoch ist die narratologische Perspektive des Rechts als Teil der „Law as Literature“-Bewegung in Deutschland bislang weitgehend unerforscht geblieben (S. 31). Diese Bewegung ist aber nicht nur für die Rechtswissenschaft an sich, sondern auch für die Rechtspolitik interessant, da sie durchaus rechtspolitische Forderungen stellt, denen die Dissertation von Blufarb neben einem Überblick über den Forschungsgegenstand an sich nachgeht.

Nach einer Einleitung wird in Kapitel 2 die facettenreiche Disziplin der Narratologie vorgestellt. Es gibt die unterschiedlichsten Vertreter, wobei wenig Konsens zur Reichweite der Narratologie sowie der diversen Konzepte besteht. Die Verfasserin nimmt daher eine Ordnung der Ansätze vor, um hierauf aufbauend die Anwendung auf Texte der deutschen Rechtsordnung zu ermöglichen (S. 145). Daher folgt in Kapitel 3 eine Übersicht über die „Law as Literature“-Bewegung, deren Ziel es ist, eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise an Texte auf die Rechtswissenschaft zu übertragen. Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung der Rechtswissenschaft mit dem Recht hat im deutschen Sprachraum noch keine lange Tradition, so dass hier primär angloamerikanische Forschungsarbeiten betrachtet werden. Das Kapitel 4 der narratologischen Perspektive des Rechts ist dann ebenfalls stark orientiert an englischsprachigen Studien, wobei aber auch Lüderssen als deutschsprachige Ausnahme seinen Platz erhält. Lüderssen hat sich bereits seit 2001 der „Law as Literature“-Bewegung gewidmet und dem Narrativen im Recht nachgespürt. Das Kapitel 4 nimmt mit fast 150 Seiten einen großen Raum ein, dennoch gesteht Blufarb, dass die narratologische Perspektive des Rechts aufgrund ihrer Zersplitterung und Uneinheitlichkeit nicht in all ihren Facetten abbildbar ist (S. 339).

Auf den vorderen Kapiteln aufbauend vergleicht die Verfasserin in Kapitel 5 die narratologische Perspektive des Rechts mit der Erzähltheorie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die narratologische Perspektive des Rechts stärker mit der Narratologie auseinandersetzen sollte, um eine  koordinierte Entwicklung  beider Disziplinen  zu  ermöglichen. Bislang sei nicht hinreichend deutlich, an welchen Stellen auf die Konzepte der Narratologie Bezug genommen wird. Daher seien klare methodische Grundsätze für das Forschungsgebiet „Law as Narrative“ zu entwickeln. Gerade das deutsche Recht sei von formalistischen Methoden  geprägt  und auf solche  Methoden  angesichts  des Bedürfnisses der Rechtssubjekte nach Rechtssicherheit angewiesen. So seien Definitionen der verwendeten Begrifflichkeiten notwendig und zu überprüfen, inwiefern strukturalistisch-narratologische Herangehensweisen dem deutschen Recht aufgrund seiner formalistischen Struktur auch inhaltlich gerecht werden. Diese inhaltlich orientierten Narratologien könnten der narratologischen Betrachtung des Rechts dann interessante weitere Aspekte hinzufügen. Auch die kulturtheoretische Betrachtung erscheint nach Ansicht der Verfasserin vielversprechend, so dass sich idealer Weise weitere wissenschaftliche Disziplinen im interdisziplinären Austausch im Rahmen der „Law as Narrative“-Forschung begegnen (S. 349).

In Kapitel 6 wird dann der Übertragbarkeit des „Law as narrative“ auf die deutsche Rechtsordnung nachgegangen. Insbesondere könne die Pattern-Methode im deutschen Recht gut als Ergänzung und Korrektiv zu den etablierten Auslegungs- und Rechtsanwendungsmethoden dienen. Die Pattern-Methode ist kasuistisch ausgerichtet und kann besonders dort hilfreich sein, wo es auf den Gesamtcharakter des Falls ankommt und vergleichend gearbeitet wird. Das Rechtsstaatsgebot fordere es, sich bei der Auslegung, insbesondere bei der Analogiebildung, eng am Gesetz zu bewegen und sich ausgehend von dessen Wortlaut den historischen und gesellschaftlichen Ebenen zu nähern. Sinnvoll sei es, wenn in der Kommentarliteratur eine entsprechende kasuistische Ergänzung nach der Pattern-Methode erfolge, um so neben den „Mehrheitsgeschichten“ auch „Minderheitsgeschichten“ und die entsprechenden Abweichungen deutlich zu machen. Als Beispiel hierfür beleuchtet Blufarb § 177 StGB und zeigt auf, dass „stock stories“ der Mehrheitsgesellschaft auch bei eigenschaftsneutral formulierten Vorschriften in die Sachverhaltsarbeit und Rechtsanwendung hineinwirken. Dies müsse man sich bewusstmachen.

Auch wenn die Rechtsdogmatik in der deutschen Rechtsordnung weniger narrative Strukturen aufweise als im common Law, so enthalten laut Verfasserin auch der rechtswissenschaftliche Diskurs und die Lehre narrative Strukturen, beispielsweise durch die Fallbeispiele in den Lehrbüchern. Mit Ausbildungsfällen seien Studenten während ihres gesamten Jurastudiums konfrontiert, so dass die durch die Fallgeschichten vermittelte Weltsicht Eingang in das Rechtsdenken der Studenten finde. Eine narratologische Analyse könne hier aufdecken, welche narrativen Mechanismen wirksam werden. Das „Legal Storytelling“ könne zudem die deutsche Rechtswissenschaft bereichern und zu einem „moralischeren bzw. gerechteren Recht beitragen“ (S. 486).

Narrative Strukturen fänden sich nicht nur in Gerichtserzählungen, sondern auch in Rechtsnormen. Auch hier können nach Auffassung von Blufarb narrativitätsorientierte Ansätze einen Mehrwert bieten. Die Schaffung neuer Rechtsnormen entstehe oftmals aus einer Anhäufung von Geschichten im gesellschaftlichen oder fachspezifischen Diskurs, die auf einen normativen Regelungsbedarf hinwiesen. Allerdings werden meiner Meinung nach diese „Geschichten“ oder Strömungen ohnehin im Rahmen einer historischen Auslegung eine Rolle spielen, ohne dass man dazu zwangsläufig eine „Law as Narrativ“-Konzeption bemühen müsste. Soweit die Verfasserin fordert, dass Gesetzeskommentare die für die Ermittlung der Musterfälle  erforderlichen Informationen  zur Verfügung stellen, so ist dies ebenfalls zumindest in den Großkommentaren meiner Einschätzung nach bereits jetzt der Fall.

Schließlich plädiert Blufarb insgesamt dafür, mehr Geschichten ins Recht zu übernehmen. Zuzustimmen ist ihr insbesondere darin, dass sich die Rechtsanwender ihrer eigenen narratologischen Beeinflussbarkeit bewusstwerden müssen (S. 540). Diese Befähigung würde zweifelsohne zunehmen, wenn Juristen ihre narratologische Methodenkompetenz ausbauen würden. Hier ist ganz sicher noch sehr viel Luft nach oben. Um diese Methodenkompetenz zu erwerben, lohnt sich zweifelsohne ein Blick in dieses umfangreiche Werk von Blufarb.

 

 

 

 

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