Carolin Arnemann: Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen. Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2019, Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-15647-4, S. 508, Euro 109,90.

Die Dissertation von Arnemann konzentriert sich auf den in der Praxis relevantesten Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel gem. § 359 Nr. 5 StPO. Allerdings werden zunächst die rechtlichen Voraussetzungen der Wiederaufnahmeverfahren umfassend vorgestellt und in einen historischen und verfassungsrechtlichen Kontext gestellt. Danach folgt eine empirische Erhebung einmal quantitativ nach Fallzahlen und einmal qualitativ durch Experteninterviews. Schließlich werden Anwendungsdefizite rund um den Novitätsbegriff des § 359 Nr. 5 StGB herausgearbeitet und de lege ferenda Vorschläge formuliert. Im Einzelnen:

In einem ersten Teil (S. 23-185) widmet sich die Verfasserin ausführlich den rechtlichen Grundlagen des geltenden Wiederaufnahmerechts. Hierfür beschreibt sie detailliert die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Wiederaufnahmeantrags sowie die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen bei einem Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten und zuungunsten des Freigesprochenen. Danach werden Aditions- und Probationsverfahren vorgestellt und kurze Ausführungen zur neuen Hauptverhandlung, Rechtsbehelfen, Bedeutung der Wiederaufnahme für die Strafvollstreckung und Entschädigung des Verurteilten bei erfolgreicher Wiederaufnahme gemacht.

Unter Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG stellt Arnemann fest, dass sich „durchaus wiederaufnahmerechtliche Tendenzen erkennen“ lassen, etwa wenn es um den Begriff der Novität einer Tatsache oder eines Beweismittels geht (S. 169). Allerdings habe es sich zu grundlegenden wiederaufnahmerechtlichen Fragen nicht positioniert.

Sehr knapp wird die historische Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen wiedergegeben. Auch die jüngsten Entwicklungen werden kurz nachgezeichnet, wobei darauf hingewiesen wird, dass zwar im Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode eine Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen geplant war, konkrete Gesetzesvorschläge allerdings nicht ergangen sind (S. 185).

Im zweiten empirischen Teil (S. 186 ff.) werden zunächst die Bund- und Länderstatistiken der in Deutschland eingereichten Wiederaufnahmeanträge in den Blick genommen, die allerdings leider nicht über Erfolg oder Misserfolg der Anträge Auskunft geben (S. 217). Unklar bleibt, warum sich die Verfasserin insofern methodisch nicht für eine Aktenanalyse entschieden hat, um so Auskünfte über den weiteren Verfahrensgang der Wiederaufnahmeanträge zu erhalten. Stattdessen wurden Experteninterviews durchgeführt und dies auch nur durch Befragung von Strafverteidigern (S. 217). Dies erscheint – auch wenn explizit Experten auf dem Gebiet des Wiederaufnahmeverfahrens ausgewählt wurden (S. 221 f.) – etwas einseitig.

Es wurden im Zeitraum zwischen dem 14.9.2015 und 18.3.2016 sechs Telefoninterviews und sieben Face-to-Face Befragungen durchgeführt (S. 222). Der Interviewleitfaden beinhaltete Fragen zu folgenden Themenkomplexen: Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen, Erarbeitung eines Wiederaufnahmeantrags, Praxis der Wiederaufnahme und Reformüberlegungen (S. 218 ff.). Die Experten bemängelten u.a. die eng gefassten Wiederaufnahmevorschriften, die dazu führten, dass nicht jedes Fehlurteil im Wege der Wiederaufnahme anfechtbar sei. Hinzu kämen die durch die Rechtsprechung entwickelten Hürden (S. 275). Als Kernproblem wurde zudem die tatsächliche Handhabung der Zulässigkeitsprüfung de facto als Begründetheitsprüfung genannt (S. 276). Außerdem sei eine fehlende Fehlerkultur zu beklagen (S. 277 f.).

Darüber hinaus äußerten die Experten auch diverse konkrete Reformvorschläge (S. 282 ff.), u.a. die Einführung eines Beweises des ersten Anscheins, um die Zulässigkeitsprüfung zu erleichtern; die Einführung einer Beweislastumkehr für neue und entscheidungserhebliche Tatsachen, die in den Urteilsgründen nicht erwähnt sind; die Anerkennung des Zweifelsgrundsatzes im Aditionsverfahren; die Normierung einer Hinweispflicht zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen; die Anerkennung des Untersuchungsgrundsatzes im Wiederaufnahmeverfahren; die Herabsenkung der Zulässigkeitsschwelle im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO durch Veränderung des Überzeugungsmaßstabes; die Dokumentation der Hauptverhandlung; die Einführung einer Legaldefinition des Begriffs der Novität i.S.d. § 359 Nr. 5 StPO; die Abschaffung des revisionsrechtlichen Rekonstruktionsverbots und die Einführung einer mündlichen Verhandlung über die Zulässigkeit des Antrags.

In einem weiteren Unterkapitel widmet sich Arnemann den Ursachen von Fehlurteilen und Möglichkeiten ihrer Verhinderung und Aufdeckung. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Fehlurteile zumeist auf menschlichem Versagen eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter zurückzuführen sind. Insofern helfe allein eine gesetzliche Verbesserung nicht, vielmehr sei ein wichtiger Schritt, die Strafjustiz personell besser auszugestalten. Zudem sei die Juristenausbildung anzupassen und die Hilfswissenschaften stärker in den Blick zu nehmen. Da Justizirrtümer häufig auf einem Tatsachenirrtum und selten auf einem Rechtsirrtum beruhten, könne die Revision Justizirrtümer weder aufdecken noch korrigieren. Erst das Wiederaufnahmeverfahren biete entsprechende Möglichkeiten. Allerdings sei die Aufarbeitung von Fehlern des Grundverfahrens weder Zweck des Wiederaufnahmeverfahrens, noch könne dies durch dieses Verfahren geleistet werden. Im Wiederaufnahmeverfahren gehe es vielmehr darum, richtig und rechtsfehlerfrei über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden.

In einem nächsten Schritt beleuchtet die Verfasserin die Möglichkeiten, die zur Aufdeckung von Fehlurteilen zur Verfügung stehen. Hier verweist sie auf ausländische Initiativen wie das Innocence Project in den USA. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland nicht. Zwar könne in Deutschland der Verteidiger auch eigene Ermittlungen zur Gewinnung von Wiederaufnahmegründen anstellen. Allerdings vermögen die gesetzlichen Vergütungsregeln den tatsächlichen Arbeitsaufwand nicht zu decken (S. 312 ff.).

Danach beschreibt Arnemann Defizite im geltenden Wiederaufnahmerecht (S. 318 ff.). Neben den eng begrenzten Wiederaufnahmevoraussetzungen, der problematischen Vermengung von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung, sieht sie Mängel auch in der restriktiven Handhabung von Wiederaufnahmeanträgen, die sich aus dem Mentalitätsproblem der Justiz, Fehler und Irrtümer einzugestehen, ergäben.

Die Verfasserin kann sich eine Verbesserung des Wideraufnahmerechts durch Verfahrenserleichterungen zur Rechtskraftdurchbrechung de lege ferenda vorstellen (S. 327 ff.). Hier schlägt sie die Einführung einer mündlichen Verhandlung über die Zulässigkeit des Wideraufnahmeantrags oder die gesetzliche Normierung einer Hinweispflicht vor. Die Wahl wird dem Gesetzgeber anheimgestellt, wobei Arnemann die Einführung einer Hinweispflicht als sachgerechter erachtet (S. 342). Außerdem spricht sie sich für die Einführung einer Untätigkeitsrüge mit Beschwerdemöglichkeit aus (S. 343). Ferner plädiert sie dafür, die Wiederaufnahmeanordnung de lege ferenda auf Mitverurteilte zu erstrecken (S. 344).

In einem weiteren Unterkapitel werden auf Grundlage der durchgeführten Expertenbefragung weitere Reformüberlegungen präsentiert (S. 346 ff.). Mit den Experten spricht sich die Verfasserin gegen die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz aus. Kritisch wird das Verbot der Strafmilderungswiederaufnahme gesehen. Außerdem wird der Gesetzgeber aufgefordert, für den Fall der fehlerhaften Gerichtsbesetzung einen § 359 Nr. 3 StPO nachgebildeten Wiederaufnahmegrund einzuführen. Außerdem empfiehlt Arnemann eine Klarstellung de lege ferenda, dass die §§ 359 ff. StPO analog auch auf Bewährungswiderrufsbeschlüsse anzuwenden sind. Daneben benennt sie ohne weitere Erläuterung noch folgende Reformvorschläge:

– Amtsaufklärungsgrundsatz im Vorschaltverfahren

– Anhebung der Entschädigungssummen im StrEG

– Gremienentscheidung außerhalb der Justiz über die Beiordnung eines Verteidigers

– Richteramt nur für Juristen mit mehrjähriger Berufserfahrung

– Beendigung der Laufbahnverzahnung zwischen Richter- und Staatsanwaltschaft.

Es ist schade, dass Arnemann zu diesen Punkten nicht ein wenig dezidierter Stellung bezieht. Auch wäre angesichts der wenigen Experteninterviews und der einseitigen Befragung ausschließlich von Verteidigern Methodenkritik und der Hinweis auf die beschränkte Aussagekraft angebracht gewesen.

In einem dritten Teil unterzieht die Verfasserin das Anwendungsdefizit um den Novitätsbegriff des § 359 Nr. 5 StPO einer besonderen Betrachtung (S. 371 ff.). Wiederaufnahmerechtlich neu seien solche Tatsachen und Beweismittel, die der erstinstanzlichen gerichtlichen Überzeugung gem. § 261 StPO nicht zugrunde gelegt wurden. Im Umkehrschluss seien daher solche Tatsachen und Beweismittel nicht neu, die das Gericht gekannt und seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat. Allein entscheidend für die Neuheit sei daher der Umstand der tatsächlich nachvollziehbaren Kenntnisnahme. Zum Zweck einer eindeutigen Rechtsanwendung sollte nach Auffassung Arnemanns der Begriff der Novität legaldefiniert werden (S. 390 f.).

Hinsichtlich der Geeignetheitsprüfung kritisiert die Autorin, dass es in der Praxis zu einer Vermengung der Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit komme. Sie spricht sich dafür aus, de lege ferenda die aktuell hingenommene umfassende Antizipation einer konkreten Beweiswürdigung zu unterbinden. Um zu vermeiden, dass das Wiederaufnahmerecht in der Praxis leerlaufe, solle der Gesetzgeber normieren, dass die Geeignetheit des Vorbringens i.S. des § 359 Nr. 5 StPO aus Sicht des Wiederaufnahmegerichts zu beurteilen ist. Der Begriff der Geeignetheit sollte durch eine Legaldefinition klar erfasst werden (S. 426 f.).

Kriminalpolitisch interessant sind die konkreten Vorschläge von Arnemann, um das geltende Wiederaufnahmerecht effektiver zu machen. Sie schlägt neben einer Streichung des § 363 Abs. 2 StPO die Aufgabe der erweiterten Darlegungslasten vor. Zudem sollte ein Wiederaufnahmevorbringen nur dann verbraucht sein, wenn im Rahmen des Probationsverfahrens Beweis darüber erhoben wurde. Des Weiteren sollen die §§ 359 ff. StPO analog auf die Korrektur von Bewährungswiderrufsbeschlüssen anwendbar sein. Falls der Gesetzgeber die umfassende Dokumentation von Aussageinhalten einführen sollte, müsse dem Gericht eine erweiterte Darlegungslast obliegen. Setze es sich mit entscheidungserheblichen Gründen nicht auseinander, so gelten diese als neu. Falls der Gesetzgeber eine umfassende Dokumentation nicht einführe, so seien entscheidungserhebliche Umstände wiederaufnahmerechtlich immer dann neu, wenn die Urteilsgründe zu ihnen schweigen (S. 479).

Es folgen umfassende Vorschläge de lege ferenda (S. 480 ff.). So sind nicht nur Änderungen des § 359 StPO vorgesehen, sondern auch die Neueinfügung eines § 363 Abs. 1 S. 2 StPO zur Wiederaufnahme im Hinblick auf die Strafzumessung: „Zulässig ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zu dem Zweck, eine andere Strafbemessung auf Grund benannter oder unbenannter Strafänderungsgründe herbeizuführen“ (S. 481). Außerdem formuliert die Verfasserin einen neu einzufügenden § 364c StPO-E:

„(1) Unbeschadet ihrer allgemeinen Befugnisse erteilt die Staatsanwaltschaft auf Antrag zur Vorbereitung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens diejenigen Auskünfte, die der Verurteilte oder sein Verteidiger zur Vorbereitung des Antrags benötigt und die ihm nicht zugänglich sind.

(2) Zur Vorbereitung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens erhält der Verurteilte, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Wiederaufnahmevorbereitungen nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Untersuchungskostenhilfe für die Vornahme der für den Antrag erforderlichen Ermittlungen, wenn die beabsichtigte Wiederaufnahme hinreichende Aussicht auf Erfolg hat“ (S. 481).

Des Weiteren wird eine gesetzliche Hinweispflicht in § 366 Abs. 1 lit. a StPO verankert und weitere Änderungen oder Einfügungen in den §§ 376 Abs. 3, § 368 Abs. 1 S. 2, 370, 372 S. 3  und  § 373 Abs. 2 S. 1 StPO  vorgenommen. Hier lohnt sich die Lektüre und die kriminalpolitische Auseinandersetzung mit den Vorschlägen. Schließ-lich spricht sich Arnemann für die Einführung einer umfassenden Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung aus und formuliert ergänzend § 273 Abs. 2 und 3 StPO-E. Da auch letzteres immer wieder diskutiert wird und es schon entsprechende Gesetzesvorstöße gab, die sich (leider) bislang nicht durchsetzen konnten, bietet der Formulierungsvorschlag eine Basis für die weitere Debatte.

Arnemann legt den Finger in die Wunde zahlreicher Defizite im Bereich der Wiederaufnahme in Strafsachen. Obwohl die Dissertation im Rückblick deutlich macht, dass diese Defizite schon sehr lange diskutiert worden sind, zeigt(e) sich der Gesetzgeber bisher doch ziemlich unbeeindruckt von der Kritik. Auch der aktuelle Koalitionsvertrag spricht sich nur für eine Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeit zu Ungunsten des freigesprochenen Angeklagten bei nicht verjährbaren Straftaten aus (S. 125). Eine Verbesserung der Wiederaufnahmemöglichkeit zu Gunsten des Angeklagten und die Stärkung seiner Rechte ist gerade nicht vorgesehen. Durch die Lektüre der Dissertation wird die Notwendigkeit einer Reform deutlich. Insofern bleibt zu hoffen, dass die Reformbedürftigkeit nicht nur von der Wissenschaft und der Strafverteidigungspraxis anerkannt wird, sondern sich auch der Gesetzgeber zu weitreichenderen Änderungen des Wiederaufnahmerechts in Strafsachen entschließt.

 

 

 

 

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