Triage – Pflichtenkollision beim Lebensschutz – Diskussionsbericht des Online-Seminars „Digital Thursdays – Strafrecht in der Pandemie“ der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung WisteV e.V.

von Oliver Michaelis, LL.M., LL.M. und Dr. Angela Michaelis 

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Es bewahrheitet sich tagtäglich der Charles Darwin zugeschriebene Ausspruch, dass nichts beständiger ist, als der Wandel. Alleine nur durch das „Corona-Phänomen“ im Jahr 2020 hat sich vieles in rasantem Tempo und mit einer bisher ungeahnten und nie dagewesenen Dynamik verändert. Diese plötzlich-faktischen Veränderungen führen aber zwingend zu einer Auseinandersetzung mit den neuen Situationen, denn nicht nur die Gesellschaft und die Politik stehen vor großen Herausforderungen, auch die Strafrechtswissenschaft muss sich mit einigen Themen beschäftigen. So hat der WisteV kurzerhand eine Informationsrunde „Digital Thursdays – Strafrecht in der Pandemie“ in Form von kurzen Online-Seminaren initiiert, bei denen „über die strafrechtlichen Implikationen der Pandemie in einer kleinen Serie von kurzen Informationsrunden im Rahmen eines digitalen Lunchs“ (Infoflyer) diskutiert werden soll.

Die erste Veranstaltung dazu fand am Donnerstag den 17. Dezember 2020 statt. Als Referent konnte Dr. Oliver Harry Gerson (Universität Passau, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht bei Prof. Dr. Robert Esser) gewonnen werden sowie kommentierend dazu Prof. Dr. Frank Saliger (LMU München, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie). Moderiert wurde die Veranstaltung durch RA Prof. Dr. Michael Tsambikakis(Tsambikakis & Partner Rechtsanwälte, Köln). Teilgenommen haben über 60 Kollegen.

Das Thema könnte aktueller nicht sein. Am Dienstag den 15.12.2020 twitterte ein Reporter des Deutschlandfunks, dass „der Ärztliche Direktor des Klinikums Oberlausitzer Bergland, Dr. Mathias Mengel[1], in einem Online-Forum gesagt habe, dass am Standort Zittau bereits mehrfach triagiert werden musste, da nicht genügend Beatmungsbetten zur Verfügung standen.“[2] So musste bereits mehrfach abgewogen werden, wer Sauerstoff zur Beatmung bekommt kann und wer nicht – das entscheide dabei jeweils immer ein kleines Team direkt vor Ort. Diese Aussage sorgte deutschlandweit für Aufsehen. Daraufhin erklärte eine Klinik-Sprecherin gegenüber der „Sächsischen Zeitung“, „es seien keine Patienten verstorben, weil ihnen als Folge von Triage beispielsweise kein Intensivplatz zur Verfügung gestanden habe oder keine Sauerstoffgabe möglich gewesen sei. Alle Patienten erhielten die „bestmögliche Therapie“[3]. In einer weiteren Stellungnahme dementierte die Klinik-Sprecherin die o.g. Aussagen Mengelsgegenüber der Nachrichtenagentur dpa nicht – sie kommentierte sie nur nicht weiter.[4] Diese Berichterstattung sorgte im Ganzen für Irritation und Besorgnis – daher widmete sich die heutige Veranstaltung dieser akuten Thematik. Dort wurde auch geklärt, ob es sich bei der beschriebenen Verfahrensweise tatsächlich bereits um Triage handelte.

Nach einer einführenden Begrüßung durch RA Prof. Dr. Tsambikakis referierte Dr. Oliver Harry Gerson zu „Triage[5] – Pflichtenkollision beim Lebensschutz“.

Zur Einleitung visualisierte Gerson die Problematik, indem er die Teilnehmer aufforderte sich vorzustellen: wenn ein an Covid 19 erkrankter Patient, da er dringend intensiv-medizinische Behandlung benötigt, mit einer kollabierten Lunge zu einer Klinik geht und am Empfang der behandelnde Arzt dann zu erkennen gibt, dass die Klinik voll sei und keine bzw. nur noch 1 freies Bett habe, stellt das teilweise die aktuelle Situation dar. Aber wenn er dann dem Patienten anbietet, eine Münze zu werfen: Sollte das Ergebnis Kopf sein, erhält der Patient das letzte freie Bett, er wird behandelt und er wird wahrscheinlich auch überleben. Bei Zahl muss der Patient aber nach Hause gehen, er wird nicht behandelt werden und er wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dann auch sterben. Das klingt unrealistisch. Aber überall dort, wo im Intensivregister[6] das Krankenhaus aktuell schon mit der Farbe rot markiert wurde, sind die Kapazitäten für freie Betten mit ca. 85 % – 100 % Auslastung bereits fast erschöpft. Das hat zur Folge, dass dort kaum noch ein Patient aufgenommen werden kann. Zwar darf niemand „Gott“ spielen – nur was macht man nun konkret in einer solchen Notsituation, wenn die Kapazitäten erschöpft sind.

Die Triage sei ein Dilemma, bei dem der Arzt zwischen zwei Übeln wählen muss und nur eines davon bekämpfen kann. Dabei wird zwischen der „Triage (ex ante)“ und „Triage (ex post)“ unterschieden.

Bei der Triage (ex ante) gibt es zwei kranke Patienten. Der Arzt ist jeweils auch Garant gegenüber beiden Patienten. Vorliegend gibt es aber nur 1 Beatmungsgerät. Wer von den beiden soll es aber nun bekommen? Wenn der Arzt untätig bleibt, trifft ihn eine Strafbarkeit aus Tötungsdelikt gem. § 212 StGB bzw. im minder schweren Fall aus einem Körperverletzungsdelikt gem. §§ 223 ff. StGB durch Unterlassen gem. § 13 StGB. Ersichtlich stelle Gerson fest, dass der Arzt somit handeln muss – nur wie? Wen wählt er von den beiden Patienten aus? Und wann macht sich der Arzt strafbar, wenn er handelt bzw. wann macht er sich nicht strafbar, wenn er nicht handelt? Das Problem findet sich in der echten Pflichtenkollision wieder. Dabei ist der Täter stets mit mindestens zwei Handlungspflichten konfrontiert, von denen er aus faktischen Gründen aber nur eine erfüllen kann. Der Täter schädigt dabei eine Person durch Unterlassen, denn indem er den einen rettet, stirbt der andere. Bei ungleichrangigen Handlungspflichten muss der Handelnde sich so entscheiden, wo die höherrangige Handlungspflicht besteht, diese Person muss er retten – sind die Pflichten jedoch gleichrangig, so kann der Handelnde frei wählen. Als Schulbuchfall kennt jeder Jurist die Dilemma-Situation: wenn ein Vater seine zwei Kinder im Wasser sieht, die zu ertrinken drohen. Er kann aber nur eines retten – für welches soll er sich entscheiden? Das Handeln des Arztes (das Nicht-Behandeln eines Patienten) wird also in einer solchen Situation dann nicht bestraft werden, sein Handeln ist gerechtfertigt. Gerson führte dann zu der Bestimmung des konkreten Rangs der Pflicht aus und fragte weiter, ob auf die Dinglichkeit oder die klinische Erfolgsaussicht abgewogen werden darf und wonach sich die „freie Wahl des Arztes“ richten würde? Nach einem Scoring? Wie alt ist der Patient bereits und wie hat er bisher schon gelebt? Oder soll nach der Restlaufzeit des Patienten ausgewogen werden? Oder nach der Systemrelevanz der Patienten – ist dann der Arzt wichtiger, als der Bauarbeiter? Das Stichwort „Rettet die Retter“ geistert seit dem Zeitpunkt wieder durch die Medien, ab dem die ersten Impfstofferfolge vermeldet wurden. Oder soll doch einfach nur der Zufall entscheiden? Vielleicht mit einem klassischen Münzwurf? Statistiker streiten sich darüber, ob ein Münzwurf absolut oder weit-überwiegend gerecht ist – aber das ist ein anderes Thema. Gerson hält den Münzwurf als Ausdruck des Zufalls für absolut fair und stellt dann die Frage in den Raum: „Wie erklärt man aber einem Angehörigen, dass bspw. die Tochter sterben musste, weil Kopf statt Zahl gewonnen hat?“ Damit wird deutlich, dass der Arzt zum einen handeln muss und zum andern mittels nachvollziehbarer Kriterien auswählen muss.

Anders verhält es sich dagegen bei der Triage (ex post). Hier gibt es wieder zwei Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Der eine Patient hat bereits die benötigte Sauerstoffversorgung – der andere Patient bräuchte sie (auch). Die Frage ist nun: Darf das Gerät rotieren oder konkreter: darf das Beatmungsgerät vom ersten Patienten weggenommen werden, um es dem zweiten Patienten zu geben (Re-Allokation)? Gersonstellt hier fest, dass es sich zum einen um keinen Fall der Pflichtenkollision handelt. Denn nimmt der Arzt dem einen Patienten das Gerät weg, um es dem anderen Patienten zu geben, so handelt er vorliegend durch aktives Tun. Diese könnte nur durch die Regelung des § 34 S. 1 StGB gerechtfertigt sein. Das setzt aber voraus, dass das geschützte Interesse am Leben des zweiten Patienten, dem des ersten Patienten wesentlich überwiegen müsste. Und das ist fraglich, denn eine Abwägung „Leben gegen Leben“ soll nach Ansicht des BGH nicht möglich sein. Das führt zu dem Ergebnis, dass das Gerät dem ersten Patienten nicht mehr weggenommen werden könne, sofern die Behandlung damit bei ihm begonnen wurde. Hier soll das Prioritätsprinzip gelten – wer das Gerät zuerst hat, der hat und behält es auch, solange die Behandlungspflicht des Arztes zu dem Patienten besteht. Und dieses Prinzip darf nicht für das Leben eines anderen geopfert werden, auch wenn der andere jünger, gesünder und mit besseren Erfolgsaussichten ist. Diese Regelung sollte nur dann eine Ausnahme finden, wenn der Patient mit dem Gerät in das Stadium der „Unrettbarkeit“ gelangt ist, da dann keine Behandlungspflicht mehr besteht. Dann darf auch die Ressource Behandlungsgerät wieder neu verteilt werden. In den anderen Fällen bedeutet die Reglung des § 34 S. 1 StGB eine vom Gesetzgeber gewollte „Privilegierung des Status quo“.

Gerson forderte abschließend den Gesetzgeber auf, diese Thematik zu reformieren.

Dazu referierte im Anschluss Prof. Dr. Frank Saliger zu der Frage der Rechtmäßigkeit von Triage. Dabei zog er die von Gerson vorgetragene herrschende Auffassung bewusst in Zweifel und stellte eine andere, bisweilen diametrale Ansicht vor.

Passen eigentlich die bestehenden juristischen Kategorien zu der Auffassung der ex-ante und ex-post Triage? Warum soll bei der ex-ante-Triage (oder Aufnahmetriage) gerade nicht die Erfolgsaussicht des Patienten beachtet werden dürfen? Wie soll der Arzt auswählen und warum soll die Behandlung dann gerade auch vom Zufall abhängen? Gerson sah den Zufall (wie oben ausgeführt) als sehr gerecht an, Saliger findet den Zufall dagegen als das ungerechteste was er sich dabei vorstellen könne.

Bei der ex-post-Triage (oder Fortsetzungstriage) darf der Arzt bei einem Patienten eine einmal begonnene Intensivbeatmung nicht mehr abbrechen, um diese einem anderen Patienten zukommen zu lassen. Bricht der Arzt diese Behandlung dennoch ab, so stellt diese Handlung einen Totschlag gem. § 212 StGB dar. Aber ist denn diese Verfahrensweise der Nicht-Re-Allokation auch sinnvoll, wenn der erste Patient nur eine Überlebenschance von 20 % hat und die Beatmung bekam, aber der andere Patient mit einer Überlebenschance von 80 % die Beatmungsmaschine nicht bekommen würde, weil er „als zweiter“ seinen Anspruch anmeldete und die Maschine dann bereits vergeben war. Hätte dieser zweite Patient aber die Beatmungsmaschine bekommen, so würde er mit einer 80 %igen Wahrscheinlichkeit überleben. Da er die Maschine aber nicht bekam, wird er sterben. Der erste Patient mit der 20 %igen Chance verstirbt dann am nächsten Tag trotz der Beatmung  aber  auch. Was  ist  das  Ergebnis?  Am  Ende  sind beide tot. Hätte man die Ressource Beatmungsmaschine aber anders verteilt, so hätte man wahrscheinlich einen der beiden Patienten retten können – und zwar den Patienten mit der höheren Überlebenswahrscheinlichkeit.

Nachdem Saliger viele Aspekte der herrschenden Lehre kritisch in Frage stellte, unterbreitete er aber auch konstruktive Vorschläge. Im Bereich der ex-ante-Triage (oder Aufnahmetriage) sollte eine Rechtfertigung der unterlassenen Behandlungsaufnahme nach Maßgabe der klinischen Erfolgsaussicht zulässig sein. Es soll gerade kein Losverfahren, keinen Münzwurf und auch kein freies Entscheidungsermessen der Ärzte geben. Feste Kriterien seinen sinnvoll und würden die Ärzte auch weniger stark belasten, als wenn sie (und gerade auch junge, unerfahrene Ärzte) im Zustand der Aufnahme-Triage vielleicht auch mit der Situation und der Abwägung überfordern wären. Auch würde es das Vertrauen der Patienten in die medizinische Versorgung stärken, wenn der Patient weiß, dass die Auswahl nur mittels objektiver Kriterien erfolgt und nicht durch schwer nachprüfbare Aspekte oder durch den Zufall wie beim Münzwurf.

Bei der ex-post-Triage (oder Fortsetzungstriage) soll es keinen Unterschied mehr zwischen den Zuständen ex-ante und ex-post geben. Es soll auch gerade ausdrücklich die evident bessere Überlebenschance der Maßstab für die rechtmäßige Neuverteilung knapper Ressourcen sein.

Nach einigen Fragen von den Seminarteilnehmern war diese Fortbildung leider auch schon wieder vorbei. Man war sich einig, dass die Situation in den eingangs erwähnten Medienberichten noch nicht den Zustand einer wirklichen Triage darstellen würden.

Das Format dieser Fortbildung hat sich bewährt.

 

[1]      Dr. Mathias Mengel ist Ärztlicher Direktor des Klinikum Oberlausitzer Bergland gGmbH, Zittau, Sachsen.
[2]      Decke, Lage auf der Intensivstation – Corona: Erste Fälle von Triage in Deutschland? Professor zur Lage in NRW, in: WA.de v. 17.12.2020, https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/triage-corona-deutschland-bedeutung-nrw-sachsen-intensivbetten-krankenhaus-mathias-mengel-90133485.html (zuletzt abgerufen am 20.1.2021); Wienand, Überlastete Intensivstation – Arzt: Klinik in Sachsen muss wegen Corona Triage anwenden, t-online.de v. 16.12.2020, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_89130022/
saechsische-klinik-bestaetigt-triage-wegen-corona.html (zuletzt ab gerufen am 20.1.2021).
[3]      Wienand, Überlastete Intensivstation – Arzt: Klinik in Sachsen muss wegen Corona Triage anwenden, t-online.de v. 16.12.2020 (Fn. 2).
[4]      Wienand, Not in Klinik – Kretschmer nennt Triage-Äußerung aus Zittau „Hilferuf“, t-online.de v. 16.12.2020, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_89134856/triage-in-sachsen-michael-kretschmer-nennt-aeusserung-aus-zittau-hilferuf-.html (zuletzt abgerufen am 20.1.2021).
[5]      Das Wort „Triage“ leitet sich aus dem französischen Verb „trier“ ab und bedeutet sortieren, aussortieren, auslesen. Damit wird der ethisch schwierige Umstand beschreiben, wer etwa bei einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten darüber entscheiden muss, auf wen die knappen personellen und/oder technischen Ressourcen zu verteilen sind. Dabei werden die Personen nahezu weltweit einheitlich grundsätzlich in 4 bzw. 5 Kategorien eingeteilt: 1) rot: es besteht eine akute, vitale Bedrohung, die eine sofortige Behandlung notwendig macht; 2) gelb: der Patient ist nur schwer verletzt/erkrankt, so dass eine aufgeschobene Behandlungsdringlichkeit mit kontinuierlicher Überwachung besteht; 3) grün: der Patient ist lediglich leicht verletzt/erkrankt, mit der Folge einer späteren und ggfs. nur ambulanten Behandlung; 4) blau: der Patient ist bereits sterbend, er hat keine Überlebenschance mehr mit der Folge, dass er nur noch eine Sterbebegleitung erfährt bzw. betreuend abwartend behandelt wird; Ex: der Patient ist bereits tot – er wird nur noch als solches gekennzeichnet.
[6]      Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) in Berlin führt das Intensivregister. Das DIVI-Intensivregister erfasst von etwa 1.300 Akut-Krankenhäusern in Deutschland die stets aktuellen freien und belegten Behandlungskapazitäten in der Intensivmedizin, siehe dazu:  https://www.intensivregister.de/#/intensivregister.

 

 

 

 

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