Jörg Kinzig: Im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2020, Orell Füssli Verlag, ISBN: 978-3-280-05698-1, S. 121, Euro 10,00.

Der schmale Band von Kinzig zeigt, dass Bücher nicht viele Seiten haben müssen, um viele Inhalte zu vermitteln. Der Autor macht schon von Beginn an deutlich, worum es ihm geht: eine Stimme zu erheben gegen die stetigen Rufe nach immer härtere Strafen, die Unzufrieden mit der Justiz und immer neue kriminalpolitische Forderungen nach mehr Reglementierungen im Sinne eines Bekämpfungsstrafrechts.

Nach dem einführenden Kapitel „Das allgemeine Unbehagen mit der Strafjustiz“ schließen sich 11 weitere Kapitel an, die sich bspw. um die „Messbarkeit“ von Kriminalität, Sexualstrafrecht, Kriminalitätsfurcht, Strafzumessung, Strafvollzug und Sicherungsverwahrung drehen. Jedes Kapitel kann unabhängig vom anderen gelesen werden, so dass sich auch die kurze Lektüre eines Teilbereichs anbietet.

So räumt Kinzig mit dem Vorurteil auf, es würde zu einem eklatanten Anstieg von Sexualstraftaten kommen. In den Blick zu nehmen sei hierzu die vielfache Verschärfung des Sexualstrafrechts in den letzten Jahren. So sei nicht nur die Ausweitung des § 177 Abs. 1 StGB angesichts der Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/2016, sondern auch die Einführung des sog. „Grapschparagrafen“ § 184i StGB für den Anstieg der PKS-Zahlen verantwortlich. Ansonsten sei die Anzahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung weitgehend stabil. Allerdings sei von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen. Im Hellfeld seien es dagegen gerade die – wenigen – Sexualmorde, die medial große Aufmerksamkeit erhielten und somit zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führten. Auch die landläufig herrschende Auffassung, dass Sexualstraftäter häufig einschlägig rückfällig werden, sei in dieser Pauschalität unzutreffend.

Kinzig möchte zudem durch Präsentation zentraler Fakten zu einer rationalen Betrachtung der Thematik „Ausländer und Kriminalität“ besteuern, räumt aber gleichwohl ein, dass er dadurch nicht diejenigen wird erreichen können, die sich in den sozialen Medien ihr eigenes Kriminalitäts- und Menschenbild zusammenbasteln. Dies ist sicher richtig und hätte dazu führen können, der mehrfach gerügten verzerrten Darstellung durch die Medien ein eigenes Kapitel zu widmen. Neben diesen Verzerrungen durch die „vierte Gewalt“ kommt es zu einer Kumulierung von Fake News in sozialen Medien, zu Filterblasen und rechten Parallelwelten, deren Einfluss auf die Meinungsbilden gar nicht  stark  genug  eingeschätzt  werden  kann  und  sicher Anlass wäre, die Wechselwirkung von (sozialen) Medien und der immer höheren Punitivität der Bevölkerung zu untersuchen.

Auch wenn der Anteil ausländischer Tatverdächtiger hoch sei, werde diese Quote doch durch die Tatsache verzerrt, dass in der PKS auch sog. ausländerrechtliche Verstöße erfasst werden. Hinzu käme aus kriminologischer Sicht, dass Straftaten von Ausländern eher angezeigt und diese auch verstärkt ins Visier der Polizei geraten würden. Zudem weise die Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten tendenziell mehr Risikofaktoren auf, straffällig zu werden, da es sich im Gegensatz zu der deutschen Wohnbevölkerung um durchschnittlich wesentlich jüngere Menschen handelt und der Männeranteil ebenfalls höher sei. Kinzig benennt – zurückhaltend – auch schon erste Erklärungsansätze für die relativ hohe kriminelle Belastung der Zuwanderer aus den Maghreb-Staaten, betont aber, dass hier dringend Ursachenforschung betrieben werden müsse. Denn nur eine genauere Kenntnis über die Kriminalitätsursachen könne zu einer gelingenden Prävention beitragen.

Im nächsten Kapitel widmet sich der Autor der Kriminalitätsfurcht und setzt diese ins Verhältnis zur objektiven Kriminalitätslage. Der Frage, warum eine Lücke zwischen individuellem Empfinden und objektiver Betroffenheit klafft, wird dann anhand verschiedener Thesen nachgegangen. Am plausibelsten scheint Kinzig die Generalsierungsthese, nach der Kriminalitätsfurcht mit einem allgemeinen sozialen Unsicherheitsgefühl in Zusammenhang steht. Ganz geklärt seien die Gründe für die Kriminalitätsfurcht aber noch nicht.

Danach werden die Geld- und Freiheitsstrafe beleuchtet und auch ein kurzer kritischer Blick auf die Ersatzfreiheitsstrafe geworfen, d.h. eine Gefängnisstrafe, die auf die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe folgt. Das Dilemma, das hinter dieser „unbarmherzige(n) Vorgehensweise“ (S. 57) steht, wird leider nur angerissen, allerdings ist es auch nicht Ziel dieses Buches, für jedes Problem Lösungen zu präsentieren, als vielmehr auf Missstände und Missverständnisse hinzuweisen.

Der lebenslangen Freiheitsstrafe wird dann ein eigenes Kapitel gewidmet und kritisch auf die tatsächlichen Verweildauern im Gefängnis geblickt. Nachdem das BVerfG bereits im Jahr 1977 festgestellt hatte, dass auch dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleiben müsse, wieder in Freiheit zu kommen, hat sich eine 15jährige minimale Strafdauer etabliert. Im Durchschnitt verbringen „Lebenslange“ 19 Jahre im Gefängnis, es gibt aber auch bei der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld oder Gefährlichkeit deutlich längere Verweildauern.

Wer, wenn nicht Kinzig, wäre geeigneter, über die Sicherheitsverwahrung zu sprechen, ein Thema, das den Autor schon 30 Jahre beschäftigt und seit seiner Promotion nicht mehr loslässt. Kritisch und pointiert bezieht er Stellung von den Anfängen bis ins Heute, ohne das konsequente Scheitern der nachträglichen Sicherungsverwahrung und die praktischen Konsequenzen zu beschönigen. Auch die Entscheidung des BVerfG zur notwendigen Reform des Vollzugs der Sicherungsverwahrung findet Erwähnung mit dem Resümee, dass dadurch der „Etikettenschwindel“ beseitigt und die Unterbringungs- und Betreuungsbedingungen der Verwahrten spürbar verbessert wurde (S. 75).

Nicht beschönigt werden sodann die Probleme im Zusammenhang mit der Kriminalprognose. Die Gefährlichkeitsprognose schlage im Zweifel für die Sicherheit aus und führe zu einem „Sonderopfer“ des Sicherungsverwahrten (S. 76).

Mit „Strafzumessung und der Vorwurf der `Kuscheljustiz´“ ist das 9. Kapitel überschrieben (S.78). Aspekte einer angemessenen Strafsanktion werden beschrieben und das Schuldprinzip betont. Es folgt eine kurze Einführung in die Strafzumessungserwägungen, die gleichwohl in die Feststellung münden, dass es Strafzumessungsunterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, aber auch zwischen einzelnen Landgerichtsbezirken gibt. Diese Ungleichheiten leiten über zu der aktuellen Debatte um die Notwendigkeit sog. Strafzumessungsrichtlinien nach dem Vorbild US-amerikanischer Sentencing Guidelines. Diese wurden auf dem 72. Deutschen Juristentag 2018 abgelehnt. Kinzig konstatiert, dass für die richterliche Freiheit zur Festsetzung des Strafmaßes Ungleichheiten in Kauf genommen werden (S. 84).

Das Jugendstrafrecht, so Kinzig, habe sich nach Auffassung der überwiegenden Zahl der Fachleute im Wesentlichen bewährt. Der Sanktionskatalog sei deutlich vielfältiger als bei Erwachsenen, da das Jugendstrafrecht vom Prinzip der Erziehung getragen werde. Aber auch im Jugendstrafrecht habe es in den letzten Jahren eine Reihe an Verschärfungen gegeben, bspw. bei der Erhöhung der Höchstdauer der Jugendstrafe auf 15 Jahre. Außerdem wurde der sogenannte „Warnschussarrest“ eingeführt.

Das nächste Kapitel „Im Schatten: Der Strafvollzug“ widmet sich den Gefängnissen. Der Strafvollzug, so der Autor, hat keine Lobby (S. 92), doch muss man sagen, dass Bücher von Maelicke (Das Knast-Dilemma) oder Galli (Weggesperrt) doch für eine breitere Leserschaft diesen Schatten aufhellen und dafür sorgen, sich grundsätzlichere Gedanken über die Sinnhaftigkeit von Gefängnissen zu machen. Auch Kinzig räumt auf mit dem Vorurteil des Wellness-Knasts (S. 91) und führt plastisch die Limitierungen und Nachteile vor Augen.

Dem Opfer ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Neben Eckdaten zu den Opfern wird auch die Viktimologie beschrieben und die Verbesserung der Rechte der Opfer durch diverse Opferrechtsreformgesetze nachgezeichnet. Auch wird nicht verheimlicht, dass die – zu begrüßende – Ausweitung des Opferschutzes auf der anderen Seite nicht zu einem Ungleichgewicht zu Lasten des Angeklagten im Strafverfahren führen darf.

Die Bilanz im letzten Kapitel wirkt versöhnlich, wird doch in Umfragen das Rechtssystem in Deutschland von Richtern und Staatsanwälten für gut oder gar sehr gut befunden (S. 109). Nicht verheimlicht wird aber die Überlastung der Strafjustiz, da fehlende Ressourcen zu immer schlechteren Rahmenbedingungen führen (S. 111). Außerdem fiele es der Strafjustiz immer schwerer, die von ihr gefällten Entscheidungen einer breiten Bevölkerung verständlich zu machen. Die sozialen Medien tun dabei ihr übriges, diese Missverständnisse und Verstimmungen zu vertiefen, anstatt klärend zu einer Akzeptanz beizutragen.

Geeignet ist das Buch nicht nur für Studierende der Rechtswissenschaft, sondern für alle an Kriminalpolitik und Strafrecht Interessierte, da in leicht verständlicher Art und Weise komplexe Themen aufbereitet werden. So wird mit vielen Vorurteilen aufgeräumt und zu einer Versachlichung durchaus streitiger Komplexe innerhalb der Strafrechtswissenschaft beigetragen. Auch manchem zur Punitivität neigendem Politiker sei der Band empfohlen in der Hoffnung, dass die Expansion des derzeitigen Bekämpfungsstrafrechts wieder deutlich zurückgefahren wird.

 

 

 

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