„Medizinrecht aktuell: COVID-19 – letzter Ausweg Impfpflicht?“

von Erik Scheiter und Tom Hendrik Becker

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Am 21.12.2021 fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Medizinrecht aktuell” des Göttinger Zentrums für Medizinrecht aufs Neue ein virtueller Diskussionsabend statt. Die Thematik hätte angesichts der jüngeren und aktuellen Entwicklung sowohl in Bezug auf das epidemiologische Geschehen als auch hinsichtlich der politischen und gesamtgesellschaftlichen Debatte nicht aktueller sein können. Solche Themen werden unter dem institutionellen Dach des Göttinger Zentrums für Medizinrecht in der Veranstaltungsreihe „Medizinrecht aktuell” seit mehreren Jahren regelmäßig behandelt. Das Göttinger Zentrum ist ein interfakultativer Zusammenschluss an der Georg-August-Universität, der sich eine vertiefte interdisziplinäre Erforschung von Fragestellungen im Querschnittsbereich des Medizinrechts und der Medizin- und Bioethik zum Ziel gesetzt hat.

Thema der jüngsten Veranstaltung war die momentan kontrovers diskutierte – nicht bloß einrichtungsbezogene, sondern allgemeine – Impfpflicht. Unter dem Titel „COVID-19 – letzter Ausweg Impfpflicht?” konnten mehrere hochkarätige Referenten aus unterschiedlichen fachlichen Bereichen gewonnen werden. Diese Diskussionsrunde wurde in Kooperation mit der studentischen Vereinigung ELSA – European Law Students Association – durchgeführt.

Fast auf den Tag genau vor einem Jahr lief in Deutschland die Impfkampagne gegen den SARS-Cov-2-Erreger an. Noch im Februar 2021 wurde in dem gleichen Veranstaltungsformat über „die Welt nach der Impfung” und die Frage einer Rückgewinnung von Freiheiten diskutiert. Nachdem allerdings in Teilen von Deutschland die Quote der vollständig geimpften Personen gegen Ende des Jahres lediglich die 60 %-Marke und im gesamtdeutschen Durchschnitt nur mehr 70 % erreichen konnte, verwundert es nicht, dass in Politik und Gesellschaft die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht lauter wurde. Viele Mediziner sehen dies inzwischen als letzten Ausweg aus der Pandemie. Insbesondere im Hinblick auf die neu aufgetauchte und sich mittlerweile vorrangig ausbreitende    Omikron-Variante müsse die Politik nun handeln. Diese zeigte sich neuerdings der Idee einer Impfpflicht nicht mehr abgeneigt und hat noch im Dezember 2021 eine einrichtungsbezogene Impfpflicht gesetzlich verabschiedet.

Vorher wurde eine solche Maßnahme noch in weiten Teilen der Politik kategorisch ausgeschlossen. Doch ist eine allgemeine Impfpflicht überhaupt ethisch und verfassungsrechtlich vertretbar? Und liegt hierin auch tatsächlich ein zielführender, womöglich sogar der einzige Ausweg aus immer neuen Corona-Wellen? 

Aufgrund der Aktualität der Thematik überraschte es nicht, dass die Veranstaltung auf ein breites Interesse im Publikum sowie der regionalen Presse stieß. Als Gäste und Referenten eingeladen waren Frau Prof. Dr. med. Christiane Hartog, Fachärztin für Allgemeinmedizin an der Charité Berlin, Klinik für Anästhesiologie mit dem Schwerpunkt operative Intensivmedizin und Mitglied der Sektion Ethik der DIVI, Herr Prof. Dr. Alfred Simon, Geschäftsführer der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) und Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees der Universitätsmedizin Göttingen, Frau PD Dr. Andrea Kießling, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum, sowie Herr Konstantin Kuhle (MdB), Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Göttingen und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Moderiert wurde die Veranstaltung von Herrn Prof. Dr. Gunnar Duttge, Direktor der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität sowie zugleich Vorstandsmitglied des Göttinger Zentrums für Medizinrecht.

In ihrem einleitenden Beitrag illustrierte Prof. Dr. med. Hartog die inzwischen ausgedehnte Unzufriedenheit des medizinischen Personals über das gehäufte Antreffen von Ungeimpften auf den Intensivstationen. Die jüngst eingeführte Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen verstärke die Gefahr, dass die Stimmung innerhalb des medizinischen Personals vollständig kippen könnte. Vielfach fragten sich die Beschäftigten dabei, wer sie selbst eigentlich vor den Ungeimpften schütze. Zudem würde es als Ungerechtigkeit aufgefasst werden, nun auch noch die alleinige Last der Impfpflicht tragen zu müssen. Dass sich Teile der Gesellschaft gegen Impfungen wehrten, sei dabei kein neues Phänomen, wie Hartog unter Verweis auf Gegner der Pockenimpfung bereits im Jahr 1879 anführte. Die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen und Institutionen sei daher ein fataler „Schnellschuss” der Politik, die es bisher versäumt habe, strukturelle Verbesserungen im Gesundheitssystem voranzubringen. Ab März 2022, mit dem Inkrafttreten der berufsbezogenen Impfpflicht, müsse man daher mit noch größeren Ausfällen beim ohnehin schon zu knappen Personal rechnen. Auch wenn die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht erforderlich sei, dürfe man andere Maßnahmen keinesfalls aus dem Blick verlieren. Man solle schließlich nicht vergessen, auch „Mut zu machen“. 

Die Frage des Moderators aufgreifend, was jetzt zu tun sei, stellte Prof. Dr. Simon klar, dass die am Anfang der Pandemie noch angestrebte Herdenimmunität wohl nicht mehr zu erreichen sei. Zur Erfüllung dieses Ziels sei eine Immunisierungsrate von über 90 Prozent erforderlich. Diese Rate könne jedoch nicht mithilfe der Impfpflicht erreicht werden, da schon aus medizinischer Sicht die Impfung bei annähernd 10 Prozent der Bevölkerung nicht indiziert sei. Überdies dürfe man die Möglichkeit sogenannter Escape-Mutationen (= Veränderungen des ursprünglichen Virus in einem Ausmaß, dass die Immunantwort von genesenen und geimpften Menschen deutlich abnimmt) nicht ignorieren, die schlimmstenfalls nicht mehr von Impfungen adressiert werden könnten. Einig sei man sich darüber, dass eine Zwangsimpfung (d.h. mittels körperlichen Zwangs) keinesfalls in Frage komme. Die Pflicht zum Impfen könne also höchstens durch straf- oder bußgeldrechtliche Sanktionen durchgesetzt werden. Jedoch bestünde laut Simon zwecks Bewirkung einer geringeren Belastung des Personals, einer Verringerung der Zahl von Intensivpatienten sowie einer Reduktion des Risikos von weiteren Mutationen eine „moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen.” Bei der Impfung handele es sich folglich um einen „Akt der geschuldeten Solidarität”. Allerdings dürfe man dabei auch nicht vergessen, dass die Pandemiebekämpfung insgesamt nur über ein Maßnahmenbündel erfolgversprechend sei.

Die verfassungsrechtliche Sicht übernahm Frau PD Dr. Andrea Kießling und stellte dazu drei Punkte, die aus ihrer Sicht besonders notwendig wären, heraus – erstens: Was ist das legitime Ziel einer allgemeinen Impfpflicht? Gerade das Argument des Selbstschutzes der Ungeimpften sei aus ihrer Sicht hierfür nicht ausreichend. Vielmehr sei allein der resultierende Effekt auf den übrigen Teil der Bevölkerung ausschlaggebend. Dieser Schutz der Bevölkerung müsse wiederum nach Unterzielen weiter differenziert werden. Eine Impfpflicht für besonders gefährdete Gruppen als milderes Mittel gegenüber einer allgemeinen Impfpflicht müsse damit im Lichte der Möglichkeit betrachtet werden, dass jene Gruppen intensivpflichtig werden. Als zweiten Punkt nannte Kießling die Abwägung mit anderen Rechten. Konkret stünden sich hier der Bevölkerungsschutz sowie die körperliche Unversehrtheit des Individuums gegenüber. Zu letzterer dürfte man allerdings den Blick nicht auf den „Einstich der Impfung als solchen” verengen, sondern müsse auch das Risiko möglicher Neben- und Folgewirkungen, die aus einer Impfung resultieren können, mit einbeziehen. Große Probleme sah die Juristin jedoch beim dritten Aspekt, dem Thema der konkreten Umsetzung. So gebe es in Deutschland kein Impfregister, wie es beispielsweise in Österreich der Fall sei. Mithin haben die staatlichen Behörden nur wenig Übersicht darüber, wer bereits geimpft ist. 

Als Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Göttingen forderte Konstantin Kuhle ein erhöhtes Maß an Pragmatismus beim Impfen. Bei einer weiter eskalierenden Situation sei ein behäbiges und langsames Handeln der Entscheidungsträger der falsche Weg, auch wenn es der Politik zugestanden werden müsse, ihre Entscheidungen im Laufe der Pandemie anzupassen. Bezüglich der Impfpflicht stellte der Politiker und Jurist heraus, dass das Ziel der momentanen Bemühungen nicht die Impfpflicht als Selbstzweck sei, sondern es ausschließlich um die Erhöhung der Impfquote aus den bereits bekannten Gründen gehe. Dass dies auch mit den bestehenden staatlichen Strukturen möglich sei, zeige das mit Blick auf die Impfquote vorbildliche Beispiel Bremens.[1] Noch immer gebe es jedoch zu viele Menschen, die meinen, dass die Frage der Impfung an ihnen vorbeigehen werde und damit ein „Aussitzen“ möglich sei. Gerade diese Menschen müsse man im öffentlichen Raum mit der Frage nach einer Impfung konfrontieren. Dazu stünden noch zahlreiche, bislang wenig genutzte Wege offen, wie beispielsweise bei der Briefwahl ein Informationsblatt zur Impfung mitzusenden. Als milderes Mittel zu einer Impfpflicht sei zunächst auch ein verpflichtender Beratungstermin diskutabel. Die aktuelle Debatte bewege sich zu sehr in der binären Alternativenstellung „Impfpflicht ja oder nein” und müsse differenzierter werden. Kuhle könnte sich in der momentanen Situation (Stand: 21.12.2021) eine abgestufte Impfpflicht besser vorstellen als eine allgemeine. So ließe sich etwa neben der bereits eingeführten einrichtungsbezogenen auch an eine altersbezogene Impfpflicht denken, um ähnlich positive Effekte wie beispielsweise eine spürbare Entlastung auf den Intensivstationen zu erhalten. Ein Impfregister sei in Deutschland jedoch realistischerweise nicht machbar.

Der Moderator merkte daraufhin an, dass man schon bei der „Ansprache“ der Bevölkerung stärker solche Gruppen, die in ihrer Impfquote auffällig zurückliegen (wie Familien mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge etc.), auf besonderen Wegen ansprechen müsse. Auch sei zu bemängeln, dass einzelne mit diesem Ziel entwickelte Start-up-Projekte – etwa zur Etablierung einer „Impf-App mit Fremdsprachenmodi“[2] – vom Bundesgesundheitsministerium offenbar nur zurückhaltend oder gar nicht gefördert wurden. Insgesamt stimmten die Gäste dem Vorwurf zu, dass es ersichtlich erhebliche organisatorische und logistische Probleme bei der Umsetzung der Impfungen gebe, was Simon durch die vielfach gemachten Erfahrungen langer Warteschlangen vor den Impfzentren trotz Termin zu illustrieren wusste.

Im Anschluss richtete der Moderator an Hartog die Frage, was ihr zu den Debatten und Vorschlägen der Juristen und Juristinnen in den Sinn komme. Mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht bohre die Politik – so Hartog – ein „dünnes Brett”. Wenn sich die Beschäftigten dort nicht schon Mitte Januar impfen ließen, läge der „schwarze Peter” wieder bei den Kliniken, deren Personal dann sukzessive abzuwandern drohe. Es sei außerdem unfair, diejenigen Gruppen heranzuziehen, die ohnehin schon sehr unter der Epidemie zu leiden hätten. Simon wandte ergänzend ein, dass der Effekt einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht wohl ohnehin nur begrenzt sein werde.

Kießling stimmte sodann mit der Überlegung des Moderators überein, dass man das Freiheitsverständnis im Kontext der Impfproblematik nicht nur von der abwehrrechtlichen Seite, sondern ebenso im Rahmen der Schutzpflichtdimension betrachten müsse. So lasse sich doch auch der Verzicht auf eine Impfpflicht als – womöglich noch größeres – Freiheitsproblem begreifen, wenn es infolgedessen – bei weiter zu gering bleibender Impfquote der Bevölkerung – erneut zu gravierenden Einschränkungen des sozialen Lebens, beispielsweise in Form eines weiteren Lockdowns, mit massiven Beeinträchtigungen für Schule, Familien, wirtschaftliche Unternehmen usw. kommen würde. Mit Blick auf die hiermit einhergehenden drastischen Freiheitseinschränkungen sei es unverzichtbar, auch diese Folgeprobleme in die Abwägung mit einzubeziehen. So merkte der Moderator weiterführend an, dass man nicht außer Acht lassen dürfe, welchen Folgen etwa Schulschließungen für die Entwicklung von Kindern und den familiären Frieden haben. Man dürfe sich also nicht   auf   die   abwehrrechtliche   Blickrichtung  fixieren, sondern müsse die Mehrdimensionalität der „Freiheit“ in den Blick nehmen.

Zum Abschluss lud der Moderator die Referenten ein, aus aktuellem Anlass einen „Wunsch zum Fest” zu äußern. In der Folge wurde daraufhin mehrfach die Hoffnung nach mehr Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung geäußert, was die Diskussion über eine rechtliche Inpflichtnahme überflüssig machen würde. Ebenso wurde noch einmal der Wunsch nach pragmatischen Lösungen der Politik geäußert. 

In welcher Form und Geschwindigkeit kann nun eine Antwort auf die Problemlage seitens der Politik erwartet werden? Im Interview mit der „Welt“ vom 4.1.2022[3] erwartete Justizminister Buschmann demnächst mehrere Anträge im Deutschen Bundestag zu diesem Thema. Für die bereits grassierende Omikron-Welle wird eine Impfpflicht aufgrund ihrer verzögerten Wirkung ohnehin keine Lösungen bieten können. Während einerseits auf die Chancen verwiesen wird, durch diese Virusvariante eine „Hybridimmunität” aus Impfung und Infektion zu erreichen, ist die Warnung der WHO vor neuen Virus-Varianten nicht zu vernachlässigen. Die bisherigen Erfahrungen mit der Pandemie sollten jedenfalls gezeigt haben, dass übersteigerter Optimismus nicht zielführend sein dürfte. 

Einigkeit der demokratischen Parteien besteht in dem Anliegen, die Impfquote der Bevölkerung zu steigern. Dass dafür ein ambitionierteres und koordinierteres Vorgehen als mit den bislang ergriffenen Steuerungsinstrumente erforderlich ist, dürfte allgemeiner Konsens sein. Ob jedoch eine – wie auch immer näher ausgestaltete – Impfpflicht dafür ein gangbarer Weg ist, wird der weitere Verlauf der Debatte zeigen. Passend zur aktuellen Lage ist dabei der einem bekannten Physiker zugeschriebene Ausspruch, der uns Mahnung und Ansporn zugleich sein sollte: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.” (Albert Einstein)

 

[1]      Die Impfquote der Freien Hansestadt Bremen belief sich laut RKI im wöchentlichen Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 16.12.2021 am 15.12.2021 auf 81,5% (Erstimpfungen) bzw. auf 85,3% (Zweitimpfungen). Dies war zu diesem Zeitpunkt deutschlandweit die höchste Quote verabreichter Impfungen.
[2]      Vgl. https://www.aidminutes.com/impfen.
[3]      Welt online v. 4.1.2022: „Dann spricht das eher gegen eine Impfpflicht“ – Interview mit Marco Buschmann, abrufbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article236023294/FDF-Dann-spricht-das-eher-gegen-eine-Impf‌pflicht.html (zuletzt abgerufen am 5.1.2022).

 

 

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