Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer: Alternativ-Entwurf Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung (AE-ADH)

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2022, Nomos, ISBN: 978-3-8487-7530-9, S. 89, Euro 29,00.

Über die unzureichende Protokollierung und Dokumentation gerade der Hauptverhandlungen vor den Land- und Oberlandesgerichten und der Verbesserung dieses unzeitgemäßen strafprozessualen Zustands wird schon seit langem diskutiert. Bereits die Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens in den Jahren 2014/2015 hatte empfohlen, die Einführung der audiovisuellen Dokumentation näher zu prüfen. Anknüpfend daran hat das Bundesministerium der Justiz im Herbst 2019 eine Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung eingesetzt, die die Einführung einer technischen Dokumentation befürwortete. Im Koalitionsvertrag 2021-2025 ist dementsprechend eine gesetzliche Umsetzung vorgesehen. Mittlerweile liegt ein Referentenentwurf vor, der schlicht die Protokollierungsvorschriften anpasst und einen flankierenden materiell-rechtlichen Straftatbestand schafft.

Die rechtliche Implementierung der audiovisuellen Dokumentation in der Hauptverhandlung ist im Alternativ-Entwurf deutlich facettenreicher und ausgewogener. Insofern sollten die dortigen Überlegungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung finden – der Alternativ-Entwurf kommt also zur rechten Zeit! Neben der Papierversion steht er kostenlos zum Download bereit.

Nach einem kurzen geschichtlichen Rückblick legt der Alternativ-Entwurf den Finger in die Wunde der defizitären Protokollierungsvorschriften. Es wird ein „vollständiger Technologiewechsel in der Art der Dokumentation der Hauptverhandlung bei allen Strafgerichten“ vorgeschlagen (S. 14). Hier wird sich also, im Gegensatz zum Referentenentwurf, für eine Aufzeichnung nicht nur bei den Land- und Oberlandesgerichten, sondern auch bei den Amtsgerichten ausgesprochen. Die Videoaufzeichnung soll mit einem Index versehen werden, um die Handhabung und das Auffinden eines bestimmten Vorgangs zu erleichtern. Die Videodokumentation soll möglichst umgehend allen Verfahrensbeteiligten zur Verfügung stehen. Zur Verhinderung des Missbrauchs ist – ebenso wie im Referentenentwurf – eine flankierende Strafvorschrift mit § 353d Nr. 4 StGB vorgesehen.

Eine grundlegende Veränderung des bisherigen Rechtsmittelsystems hält der Arbeitskreis für nicht erforderlich. Ausreichend sei eine gesetzliche Klarstellung und Begrenzung. Die Videoaufzeichnung werde, so der Alternativ-Entwurf, durch die lückenlose Dokumentation erheblich  die  Möglichkeit  verbessern, Diskrepanzen zwischen der Beweisaufnahme und deren Wiedergabe in den Urteilsgründen nachzuweisen und solche Abweichungen mit der Verfahrensrüge zu beanstanden. Vereinfacht werde hier die Inbegriffs- und die Differenzrüge. Bislang hält die Rechtsprechung die Differenzrüge nur für zulässig, wenn der Widerspruch ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung mit Beweismitteln wie Sitzungsniederschrift oder Urkunden feststellbar ist. Dass ein Zeuge etwas anderes ausgesagt hat als im Urteil angegeben, kann von seltenen Ausnahmen abgesehen, nach geltendem Recht nicht gerügt werden. Der Arbeitskreis sieht keine Grundlage für ein so weitreichendes Rekonstruktionsverbot, zumal auch die Revisionsgerichte hier teilweise einen eher pragmatischen Ansatz vertreten. Mit dem Videoprotokoll läge zukünftig ein zuverlässiges und leicht zu handhabendes Dokumentationsformat vor, so dass eine Überprüfung generell ohne Weiteres möglich sei. Insofern erweitert hier der Alternativentwurf die Vorschriften zu den Revisionsgründen und der Revisionsbegründung (S. 19), was absolut zu begrüßen ist. Im Referentenentwurf dagegen findet sich gar keine Modifizierung oder Ergänzung des Revisionsrechts.

Der Arbeitskreis geht davon aus, dass eine Trennung zwischen der Beweiswürdigungsgrundlage und dem nachfolgenden Vorgang der Beweiswürdigung weiterhin durchführbar sei. Allerdings sei beim Personalbeweis zusätzlich zu beachten, dass das Verständnis von Aussagen nicht vollständig objektivierbar sei, so dass sich die Überprüfung durch das Revisionsgericht auf eine Vertretbarkeitskontrolle und offensichtliche Fehlwahrnehmungen der Beweismittel beschränken müsse. Weiterhin ergäben sich durch die Videodokumentation Verbesserungen für den Nachweis bei der Rüge der fehlenden oder unzureichenden Erörterung oder Ausschöpfung eines erhobenen Beweismittels. Eine Überlastung der Revisionsgerichte sei laut Arbeitskreis nicht zu befürchten (zu den Gründen S. 16).

Nach dieser Einführung wird ein dezidierter Gesetzesvorschlag gemacht, der über den des Referentenentwurfs hinausgeht. Ausführlicher im Referentenentwurf geregelt ist dagegen die Vorschrift zur Dokumentation der Hauptverhandlung (§ 271 StPO-E). Im Gegensatz zum Referentenentwurf sieht der Alternativ-Entwurf auch keine Verschriftlichung vor (S. 51).

Ansonsten finden sich diverse de lege ferenda Vorschläge im Alternativ-Entwurf zu Folgeänderungen der StPO, bspw. im Recht der Verteidigung, Vorschriften zum Nebenkläger, Privatkläger, zum Urkundenbeweis und vieles mehr. Insofern scheint der Alternativ-Entwurf doch deutlich weitsichtiger zu sein als der derzeit vorliegende Referentenentwurf. Es steht zu befürchten, dass der Referentenentwurf hier schlicht die Ergänzung oder Modifizierung flankierender Vorschriften vergessen hat. Allerdings ist zu konstatieren, dass der Referentenentwurf ohnehin die Videoprotokollierung lediglich formal einführt und weitergehende Befugnisse damit nicht verknüpft. Dies ist bedauerlich. Der Gesetzgeber täte also gut daran, im weiteren Gesetzgebungsverfahren den Alternativ-Entwurf stärker in den Blick zu nehmen und den Referentenentwurf im Regierungsentwurf entsprechend zu ergänzen.

Nach dem detaillierten de lege ferenda Vorschlag folgt zunächst eine Begründung allgemeiner Art, die die zuvor in der Einleitung angerissenen Grundlagen vertieft und sich insbesondere im Hinblick auf den umfassenden Anwendungsbereich auf alle Strafgerichte positioniert (S. 34 ff.). Ebenfalls erörtert wird die Ausgestaltung, Zugänglichkeit und Aufbewahrung der Videoaufzeichnung. Datenverwendungsregeln seien dagegen über bestehende Vorschriften hinaus nicht erforderlich (S. 37). Anderes gelte nur für die Verwendung der Aufzeichnung zu anderen Zwecken als der Verfolgung wegen der angeklagten Tat. Zwar lägen für die auskunftserteilende Stelle entsprechende Rechtsgrundlagen vor. Ob diese Rechtsgrundlagen aber datenschutzrechtlichen Vorgaben genügten, sei dahinzustellen, da es sich nicht um eine Besonderheit der audiovisuellen Aufzeichnung handele.

Schließlich werden noch Ausführungen zur technischen Umsetzung und technischen Folgeproblemen gemacht, bevor sich den Auswirkungen auf die Revision gewidmet wird. An dieser Stelle (S. 40 ff.) wird das vertieft, was in der Einleitung schon angeklungen ist. Insbesondere wird die verbesserte Nachweismöglichkeit von Verfahrensfehlern sowie die erweiterte Überprüfbarkeit der Beweisgrundlagen hervorgehoben.

Es folgt eine Würdigung der alternativen Möglichkeiten. Abgelehnt wird insbesondere das, was jetzt der Referentenentwurf vorsieht, nämlich eine bloße Ergänzung des bisherigen Protokolls um eine technische Aufzeichnung. Dies wird – zu Recht – als „eine unzureichende, halbherzige Maßnahme“ (S. 46) bezeichnet. Dezidiert wird darüber hinaus auch die reine Audioaufzeichnung abgelehnt. Auch eine zusätzliche Verschriftlichung ist – entgegen der Normierung im Referentenentwurf – nach dem Alternativentwurf entbehrlich.

Schließlich erfolgt im Besonderen Teil eine ausführliche Begründung der geänderten oder neu gefassten Vorschriften (S. 53 ff.), die quasi als Kommentierung gelesen werden kann.

Der Alternativ-Entwurf macht deutlich, dass die Implementierung einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung nicht bei dem stehen bleiben sollte, was der Referentenentwurf an Rudimentärregelungen enthält. Vielmehr sollte wohl überlegt sein, welche flankierenden Vorschriften ergänzt werden sollten oder gar müssen. Hinzu kommt, dass wegen des Fehlens einer zweiten Tatsacheninstanz bei Verfahren, die erstinstanzlich vor dem Land- oder Oberlandesgericht geführt werden, die Videodokumentation auch eklatante Fehler aufdecken und korrigieren kann. Dazu ist es zwingend erforderlich, Anknüpfungspunkte im Revisionsrecht zu verankern. Hier präsentiert der Alternativ-Entwurf im Gegensatz zum Referentenentwurf de lege ferenda Vorschläge. Ob diese ausreichend sind oder es weiterer Nachjustierung bedarf, sollte jetzt in den Stellungnahmen der Sachverständigen zum Gesetzesvorhaben diskutiert werden. Insofern bleibt zu hoffen, dass auch der Arbeitskreis noch einmal explizit Stellung zu dem aktuellen Gesetzesvorhaben zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung nimmt.

 

 

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