Zugänge zum Recht – zugängliche Rechte? Fünfter Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen

von Akad. Rätin a.Z. Büşra Akay

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“Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er (…).”

Franz Kafka, Vor dem Gesetz

 “Zugänge zum Recht – zugängliche Rechte?”, so lautete der Titel des fünften Kongresses der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, der vom 21. bis 23. September 2023 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck stattfand. Dem Netzwerk gehören Wissenschaftler:innen aus den wissenschaftlichen Vereinigungen und Institutionen aus Schweiz, Österreich und Deutschland an, die interdisziplinär zu Recht forschen.

Mehr als 250 Rechtssoziolog:innen und Wissenschaftler:innen aus verwandten Disziplinen widmeten sich in über 150 Panelvorträgen, die thematisch in 9 Tracks eingeteilt waren, Fragen rund um das Thema der Zugänglichkeit des Rechts im sozialen Sinne und den theoretischen und methodischen Zugängen der Rechtsforschung.

Die Eröffnungs-Keynote hielt Hemma Mayrhofer (Universität Innsbruck) mit dem Titel „Zugängliche Rechtsforschung?“, in der sie durch selbstreflexive Betrachtungen das Wechselverhältnis von Wissenschaft, Empirie und Praxis untersuchte.  Sie bezog sich auf die Zugänglichkeit und die gesellschaftliche Nützlichkeit der eigenen Disziplin und forderte eine proaktive Gestaltung im Sinne einer translationalen Forschungsleistung. Michael Wrase (Universität Hildesheim) brachte die interdisziplinäre Rechtsforschung in Deutschland ein. Er führte aus, dass es ihr Ziel sei, trotz des Rechts immer wieder mit dem Recht darauf zu schauen, wie die Gesellschaft funktioniert. Dabei sei die entscheidende Frage, wie das, was wir mit Recht schaffen, auch in der Gesellschaft wirkt. Recht könne nicht allein normativ-dogmatisch betrachtet werden. In diesem Sinn trug Rüdiger Lautmann (Universität Bremen) in der anschließenden Diskussion bei, dass die entscheidende Frage darin läge, wie die Jurisprudenz befähigt werden könne, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in der normativen Begründung von juristischen Entscheidungen zu berücksichtigen.

Die inhaltlichen Schwerpunkte der folgenden Panels lagen bei Themen wie „Strategische Mobilisierung von Verfassungsgerichten“, „Gefangenenrechte“, „Zugang zum sozialgerichtlichen Rechtsschutz“, „Rassismus in der Rechtswirklichkeit am Beispiel des Jugendamts“, „Umwelt vor Gericht“, „Künstliche Intelligenz und staatliche Institutionen der (Un)Sicherheit“, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieser Beitrag konzentriert sich hauptsächlich auf die Panels mit einem kriminalpolitischen Bezug.

I. Zugänglichkeit des Rechts

Wie in Kafkas Türhüterlegende, in der dem „Mann vom Lande“ der Eintritt in das Gesetz verwehrt wird, gibt es auch in Rechtspraxis und Rechtswissenschaft beharrliche Türhüter, die den Zugang erschweren. Zentrales Thema des Kongresses war, inwiefern die Zugänglichkeit des Rechts für gesellschaftlich verschiedenpositionierte Gruppen und Personen unterschiedlich hoch verteilt und abhängig von Herkunft, sozialer Schicht, Geschlecht oder Behinderung ist. Der Rechtszugang marginalisierter Gruppen wurde in mehreren Beiträgen unter den Stichpunkten der Rechtsmobilisierung und der Responsivität des Rechts beleuchtet.

Michael Wrase stellte das Projekt „Zugang zum Recht in Berlin“ vor.[1] Die Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) untersucht auf empirischer Grundlage, wie der tatsächliche Zugang für Bürger:innen zum Recht und Justiz in Berlin gewährleistet ist. Die Prämisse ist, dass immer dann, wenn soziale Rechte tangiert sind, auch ihre Durchsetzung möglich sein muss. Ein Recht, das normativ da ist, aber in der typischen Realität nicht angenommen werden kann, sei wertlos.

II. Zugänge zum Strafrecht

Von besonderem kriminalpolitischem Interesse war der Track „Zugänge zum Strafrecht“. Untersucht wurde, wie Zugänge zum Strafrecht ausgestaltet sind, wo und wie sie für wen offenstehen oder verschlossen sind und inwiefern sie gesellschaftlich ungleich verteilt sind.

1. Ungleiche Zugänge für Gefangene, ungleiche Haftrisiken

In dem Panel „Ungleiche Zugänge für Gefangene, ungleiche Haftrisiken“ ging Susanne Niemz vom Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg auf den Vollzug der Sicherungsverwahrung in Deutschland ein. Sie berichtete über die Einrichtung für den Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei der JVA Brandenburg an der Havel und über die seit 2015 im Rahmen der Qualitätssicherung stattfindende Begleitforschung durch den Kriminologischen Dienst des Landes Brandenburg.[2] Sie ging auf die erstmals 2022 qualitativ im Rahmen von narrativen Interviews mit den Untergebrachten erhobenen Daten ein.

Anschließend stellte David Mühlemann (Universität Bern) den Zugang zum Recht für Gefangene aus drei Dimensionen vor: Verfahrensrechtlich, sozialpsychologisch und institutionell.

Walter Hammerschick (Universität Innsbruck) ging rechtsvergleichend auf die Praxis der Untersuchungshaft als Ausdruck von Rechtskulturen ein. Abschließend wurden Chancen und Risiken von Haftalternativen diskutiert.

2. Polizeiliche Gewalt und ihre strafrechtliche Aufarbeitung

Im nächsten strafrechtlichen Panel lag der Fokus auf polizeilicher Gewalt und ihrer strafrechtlichen Aufarbeitung. Tobias Singelnstein (Goethe-Universität Frankfurt) und sein Team stellten das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt:innen“ (KviAPol) vor.[3] Das Projekt untersucht auf Basis einer Betroffenenbefragung mit über 3.300 Teilnehmenden und über 60 qualitativen Interviews einschlägige Interaktionsgeschehen sowie ihre strafrechtliche Aufarbeitung. Zentrales Thema war zunächst die Anzeigebereitschaft: Nicht einmal jede:r zehnte Befragte entschloss sich zu einer Anzeige gegen die handelnden Polizeibeamt:innen. Laila Abdul-Rahman ging in ihrem Vortrag der Frage nach, welche Faktoren eine Anzeige und damit Zugänge zum Strafrecht erschweren, wer davon betroffen ist und welche anderen Umgangsweisen abseits des Strafrechts für Betroffene existieren. Dabei wurden Ergebnisse aus der Betroffenenbefragung, aber auch aus Interviews mit Opferberatungsstellen und Rechtsanwält:innen vorgestellt.

In seinem Vortrag über die Maßstäbe und Perspektiven bei der Bewertung polizeilicher Gewaltanwendungen ging Tobias Singelnstein auf diedivergierenden Bewertungsmaßstäbe bei polizeilichen Gewaltanwendungen ein. Er zeigte auf, dass bei der Deutung der Situationen mit polizeilichem Gewaltbezug neben einem rechtlichen auch ein gesellschaftlicher sowie ein polizeilicher Maßstab für die Bewertung existiert,[4] was sich bei den Betroffenenangaben aus der Online-Befragung sowie den Interviews mit Angehörigen von Polizei und Justiz deutlich zeige. Die Maßstäbe können den Zugang zur rechtlichen Bearbeitung einer Gewaltanwendung beeinflussen.

Hannah Espín Grau ging in dem Vortrag über die strafjustizielle Aufarbeitung von Vorwürfen rechtswidriger Gewaltausübung auf die justiziellen Bearbeitungsprozesse ein. Sie betonte, dass nur 2 % aller von den Staatsanwaltschaften bearbeiteten Strafverfahren wegen Gewaltausübungen durch Polizeibeamt:innen in Deutschland zur Anklage gebracht werden. Der überwiegende Teil wird eingestellt. Aufbauend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Vorträge zeichnete sie nach, wie eine funktionale Dominanz der Polizei den Verlauf von Strafverfahren gegen Polizeibeamt:innen beeinflusst. Im Anschluss wurden Vorschläge und Ansätze zu Veränderung, insbesondere bezüglich der Problematik um das Berichtwesen und der internen Ermittlungen, diskutiert.

3. Zugänge zum Strafverfahren für Verletzte

In dem Panel „Zugänge zum Strafverfahren für Verletzte“ gingen Hauke Bock und Tim Nicklas Festerling (Universität Leipzig) auf Potenziale und Grenzen digitaler Angebote im Rahmen der Opferhilfe ein. Am Beispiel des „Weißen Rings e.V.“ wurden Möglichkeiten der digitalen Zugänge zur organisierten Hilfe für Opfer von Straftaten analysiert.

Anschließend ging Marius Riebe (Universität Leipzig) auf Verletzteninteressen und das inkludierende Potenzial des Strafverfahrens ein.

Im letzten Vortrag beleuchtete Ezgi Aydınlık (Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention) die Wechselwirkung von Gewalt und Behinderung. Sie ging auf Barrieren beim Zugang zur Justiz ein und bezog sich auf nationale und internationale (Dunkelfeld-)Studien die zeigen, dass Menschen mit Behinderungen weitaus häufiger von Gewalt- und Sexualstraftaten betroffen sind als Menschen ohne Behinderungen.

In der anschließenden Diskussion wurden Vorschläge hinsichtlich einer gleichberechtigten Ausgestaltung des Strafverfahrens besprochen. Ableismussensible Strafverfolgung birgt auch für andere vulnerable Gruppen Potenziale, da strukturelle Barrieren im Strafverfahren insgesamt gemindert werden sollen. Gerade der Aspekt der Übersetzung juristischer Sprache in Leichte Sprache fand Anklang bei den Teilnehmenden. Die Dringlichkeit von entsprechenden Reformen wurde lebhaft gefordert.

III. Klassenjustiz durch Armutsbestrafung?

In einer abschließenden Keynote diskutierten Nicole Bögelein (Universität Köln), Gesine Fuchs (Hochschule Luzern) und Oliver Scheiber(Bezirksgericht Meidling und Universität Wien) zum Thema „Klassenjustiz durch Armutsbestrafung? Die Situation in der Schweiz, Österreich und Deutschland“.

Nicole Bögelein definierte zunächst, was Armut ist.[5] Personen niedriger sozio-ökonomischer Stellung haben einerseits weniger Möglichkeiten, ihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, sind aber andererseits in besonderer Weise von Kriminalisierung betroffen. Dies zeigt sich insbesondere in der Praxis der Strafbefehlsverfahren, der Ersatzfreiheitsstrafe und der Kriminalisierung von Armutsdelikten, wie dem Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB), um ein Beispiel für Deutschland zu nennen.

Im Rahmen der anschließenden offenen Diskussion wurde auf den Bezug von Strafe zum Aufenthaltsrecht hingewiesen. Ebenso wurden Wohnungsräumungen aufgegriffen. Einen zusammenfassenden Ausblick bildeten die Frage, wie weit man mit abolitionistischen Forderungen gehen will und der Hinweis, dass diese den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskursen widersprechen, die in eine sozialdarwinistische Richtung gehen.

IV. Fazit und Zugang zu(r) Wissen(schaft)

Gerade im Hinblick auf diese besorgniserregende Entwicklung, die zum allgemeinen Zeitgeist – dem sog. Rechtsruck – passt, ist die interdisziplinäre Analyse des Rechts unverzichtbar und bietet kritisches Potential. Die drei Tage waren belebt von solchen kritischen, aber auch positiven Stimmen, die häufig konkrete rechtssoziologische Lösungsansätze boten. Aus meiner Sicht blieb das kritische Potential der interdisziplinären Rechtsforschung jedoch teilweise ungenutzt, wenn weniger ein offener Diskussionsraum als eher ein Raum für exklusive wissenschaftsinterne Kommunikation unter Expert:innen mit entsprechendem wissenschaftlichem Habitus entstand. Dieser Habitus blockiert nicht nur – wie in der Eröffnungskeynote befürchtet – die Anschlussfähigkeit der Praxis, sondern erschwert zugleich auch den Zugang für Nachwuchswissenschaftler:innen.

Nicht nur die Rechtssetzung und Rechtspraxis, sondern auch die Rechtswissenschaft hütet Barrieren, die Interessierten den Zugang erschweren.

1. Socio-Legal World Café

In diesem Rahmen ist zunächst besonders positiv hervorzuheben, dass der Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit am Vortag des Kongresses ein Socio-Legal World Café für Promovierende abgehalten hat, um Forschende mit ähnlichen Forschungsinteressen zu vernetzen. Das World Café bot die Möglichkeit, in deutsch- und englischsprachigen Gruppen mit anderen Promovierenden und Forschenden proaktiv ins Gespräch zu kommen und Erfahrungen auszutauschen. Es wurden hilfreiche Tipps für die interdisziplinäre Forschung, Methoden und für den eigenen Karriereweg ausgetauscht und mitgegeben.

2. Weiße Deutungshoheit in der deutschen Rechtswissenschaft

Durch den Ausfall zwei der drei geplanten Vorträge im Panel „Epistemische Hierarchien im Recht“ ergab sich ein freier Zeitslot und damit eine zufällige und zugleich einmalige Gelegenheit, sich in einem offenen Gesprächsformat mit Cengiz Barskanmaz (Hochschule Fulda) über die weiße Verfasstheit der deutschen Rechtswissenschaft auszutauschen und dabei persönliche Erfahrungen mitzuteilen und gemeinsam aufzuarbeiten.

Cengiz Barskanmaz hielt einleitend einen Vortrag zur weißen Wissensproduktion in der deutschen Rechtswissenschaft. Er zeigte auf, wie in über nahezu allen Themen in der Rechtswissenschaft eine weiße Deutungshoheit herrscht, während Schwarzen oder of Color Jurist:innen zum einen die Wissenschaftlichkeit aufgrund möglicher Betroffenheit abgesprochen und zum anderen der Zugang zur Wissensproduktion aufgrund der Aufrechterhaltung der Exklusivität weißer Expert:innenkreise verwehrt bleibt. Unter der Moderation von Dilan Deniz Kilic wurde ein sicherer Raum für die Teilnehmenden eröffnet, die ihre persönlichen Erfahrungen als migrantisierte oder rassifizierte Personen in der juristischen Ausbildung und als Nachwuchswissenschaftler:innen einbrachten.

Gerade dieses Format lässt den Ausblick in eine Rechtswissenschaft in Deutschland wagen, die zugänglicher ist.

 

[1]      https://www.wzb.eu/de/forschung/forschungsgruppe-der-praesidentin/forschungsgruppe/zugang-zum-recht-in-berlin (zuletzt abgerufen am 24.9.2023).
[2]      Vgl. § 93 BbgSVVollzG v. 13.5.2013.
[3]      https://kviapol.uni-frankfurt.de (zuletzt abgerufen am 24.9.2023).
[4]      Aufbauend auf Seth W. Stoughton, Jeffrey J. Noble, Geoffrey P. Alpert, New York University Press, 2020.
[5]      Vgl. Neubacher/Bögelein, MschrKrim 2021, 107 (108).

 

 

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