2024, Nomos Verlag, ISBN: 978-3-7560-1637-2, S. 318, Euro 104,00.
Aussage gegen Aussage-Konstellationen in Sexualstraftaten stellen die Praxis vor große Herausforderungen. Das ist kein Geheimnis und führte auch schon zu diversen literarischen Verarbeitungen wie beispielsweise in dem Drama von Ferdinand von Schirach „Er sagt. Sie sagt“ oder im Theaterstück „Prima Facie“ von Suzie Miller. Die Dissertation von Winkler – die für die Veröffentlichung auf den Stand von Juni 2024 gebracht worden ist – nimmt sich dieses „Damoklesschwerts“ an, um die gegenwärtigen Probleme in Reformüberlegungen zu überführen.
Dazu werden zunächst die Grundzüge des sexualrechtlichen Ermittlungsverfahrens erarbeitet, die aus materiell-rechtlichen, kriminologischen und strafprozessualen Betrachtungen bestehen. Bei dem Blick auf das materielle Sexualstrafrecht wird zunächst die Gesetzgebungsgeschichte zusammengefasst und danach kurz auf die 2015 einberufene Arbeit der Kommission für die Reform des Sexualstrafrechts eingegangen. Diese gab in ihrem Abschlussbericht vom 19.7.2017 eine Reihe von Empfehlungen. Der Kriminalpolitische Kreis formulierte dann Empfehlungen über die der Kommission hinaus (KriPoZ 2021, 322). Aufgrund der Vielzahl der Empfehlungen hielt die Bundesregierung der 19. Wahlperiode ein neues Reformvorhaben nicht für kurzfristig umsetzbar (BT-Drs. 19/19875).
Die Entstehungsgeschichte ist für den Verfasser der Grund dafür, dass der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung von entscheidender Bedeutung ist. Denn mit der Aufnahme dieses Begriffs ins Gesetz im Jahr 1973 habe die Abkehr von dem bis dahin geltenden Sittenstrafrecht begonnen. Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht sei grundsätzlich weit zu interpretieren und verfassungsrechtlich verbürgt. Es werden unterschiedliche Begriffsbestimmungen von Autoren wie Renzikowski und Hörnle vorgestellt, allerdings keine eigene Definition versucht. Auch bleibt unklar, welchen der Begriffsbestimmungen sich der Verfasser anschließt.
Im nächsten Schritt wird auf die Belastungen des Opfers aber auch Beschuldigten durch das sexualstrafrechtliche Ermittlungsverfahren eingegangen. Daher sei es bei zahlreichen Ermittlungsverfahren im Interesse beider Beteiligten, das Verfahren nach Möglichkeit nicht öffentlich bekannt werden zu lassen. Werde das Verfahren öffentlich bekannt, so hätten die Beschuldigten eine noch stärkere soziale Vernichtung zu fürchten, während die Opfer ihre Ruhe, Privatsphäre und Intimität zu verlieren drohten.
In strafprozessualer Hinsicht sei bedeutend, dass Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Vergleich zu anderen Delikten vor allem dadurch gekennzeichnet seien, dass abgesehen von der Aussage der geschädigten Person keine zusätzlichen Beweismittel zum Kerngeschehen vorliegen würden. Die Aussage des Belastungszeugen erlange daher für die abschließende Entscheidung besonderes Gewicht. In der besonderen Beweiskonstellation der „Aussage gegen Aussage“ könne die einzige Aussage des Belastungszeugen ausreichen, um eine Verurteilung herbeizuführen. Allerdings müsse das Gericht in diesen Konstellationen erhöhten Anforderungen gerecht werden. Es bedürfe einer lückenlosen Gesamtwürdigung aller Indizien. Die Beweiserhebung habe ggf. über den möglicherweise bereits erreichten Punkt der erreichten richterlichen Überzeugung hinauszugehen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sei aber ungeeignet. Interessant wäre es an dieser Stelle gewesen, was für Beweiserhebungen der Verfasser an dieser Stelle für wünschenswert hält.
Bevor sich den Reformüberlegungen zugewandt wird, werden die Probleme noch einmal zusammenfassend dargestellt und ein Maßstab gebildet. Es bedürfe insoweit strafprozessualer Regelungen, die sowohl die Begründung des Anfangsverdachts als auch den kommunikativen Umgang mit dem sexualstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf eine rationalere, nachvollziehbarere Ebene heben.
Winkler diskutiert im Rahmen seiner Reformüberlegungen kommunikative Aspekte, um das gegenwärtige sexualstrafrechtliche Ermittlungsverfahren zu optimieren. Sowohl die Begründung des Anfangsverdachts gem. § 152 Abs. 2 StPO als auch der Umgang der unmittelbar am Verfahren Beteiligten mit dem Tatverdacht wiesen im Hinblick auf die Kommunikation ein erhebliches Potential auf, um die strafprozessuale Stellung des Beschuldigten zu verbessern. Zum einen trage zum besseren Schutz des Beschuldigten eine strafprozessuale Verschwiegenheitspflicht bei. Soweit bereits entsprechende Regelungen bestehen, drohten diese ihren Zweck zu verfehlen, wenn nicht auch der den Beschuldigten belastende Zeuge im Rahmen eines sexualstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in gewissem Umfang zur Verschwiegenheit verpflichtet werde. Im Ergebnis gäbe es zahlreiche Möglichkeiten zur rechtlichen Durchsetzung der strafprozessualen Verschwiegenheitspflicht, die in einem abgestuften Verhältnis zueinander stünden und auf den Einzelfall abgestimmte Ergebnisse ermöglichten. In systematischer Hinsicht dränge sich eine Einfügung einer entsprechenden Norm innerhalb des zweiten Abschnitts der StPO auf. Das Anliegen der Verschwiegenheitspflicht sei es, lediglich aus dem Vorverfahren insbesondere für den Tatverdächtigen noch keine schwerwiegenden nachteiligen Folgen erwachsen zu lassen, soweit diese nicht auf Ermittlungsmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden beruhten. Eine entsprechende Regelung müsse zunächst den Anwendungsbereich bestimmen und den Begriff der Verschwiegenheit definieren. Zudem bedürfe es einer Hinweispflicht. Die Adressaten der Regelung müssten darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie – bis auf die Ausnahmen – keine Äußerungen über den Ermittlungsgegenstand tätigen dürfen, die zu einer Identifizierung der unmittelbar an dem Verfahren Beteiligten führen. An einen entsprechenden Verstoß könnten diverse Rechtsfolgen geknüpft werden.
Darüber hinaus komme der Begründung eines Anfangsverdachts im Rahmen eines sexualstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens entscheidende Bedeutung zu. Daher fordert der Verfasser eine stärkere interne Kommunikation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft. Auch die Kommunikation gegenüber dem Tatverdächtigen bedürfe einer Verbesserung. Zur Stärkung der Kommunikation zur Begründung eines Anfangsverdachts schlägt der Verfasser die Bildung eines sog. Strafverfolgungsgremiums vor. Ein solches Gremium sollte aber auf die Fälle beschränkt sein, in denen der Beschuldigtenschutz von besonderer Bedeutung ist, d.h. wo Aussage gegen Aussage Konstellationen im Raum stehen (zur Formulierung de lege ferenda s. S. 283). Liegen die Voraussetzungen für die Bildung eines solchen Gremiums vor, so bedürfe es einer schriftlich begründeten Einleitungsverfügung. Diese Einleitungsverfügung solle die tragenden Gründe für die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens erkennen lassen und entsprechend § 160 Abs. 2 StPO auch diejenigen Erwägungen zum Ausdruck bringen, die gegen die Begründung eines Anfangsverdachts gegen den Beschuldigten sprechen. Auf diese Weise werde eine rationale Entscheidungsgrundlage geschaffen.
Der Verfasser erkennt durchaus, dass die von ihm entwickelten Reformideen – sollten sie Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens werden – eine polarisierende rechtspolitische Diskussion innerhalb der Gesellschaft in Gang setzen würden. Allerdings sei diese Diskussion überfällig. Ich glaube jedoch nicht, dass es zu einer solchen Reform kommen wird. Auch wenn das Dilemma um Aussage gegen Aussage Konstellationen bekannt ist, so können doch die Aussagerechte der Zeugen, die ja angeben, Opfer zu sein, nicht dermaßen beschnitten und mit einem Maulkorb versehen werden. Angesetzt werden könnte aber durchaus bei der Idee einer verschärften Begründungspflicht hinsichtlich des Anfangsverdachts i.S. des § 152 Abs. 2 StPO. Dadurch könnten die Ermittlungsbehörden noch intensiver nach Beweisen oder flankierenden Indizien forschen, die in die eine oder andere Richtung der widerstreitenden Aussagen führen. Insofern lohnt die Lektüre dieser Dissertation allemal, um nach Auswegen aus dem Dilemma der Aussage gegen Aussage Konstellationen in sexualstrafrechtlichen Verfahren zu suchen.