Abstract
Beim Schutz der sexuellen Selbstbestimmung weist das deutsche Sexualstrafrecht einen blinden Fleck auf: Sexuelle Übergriffe in asymmetrischen Machtverhältnissen werden in §§ 174 ff. StGB bislang nur in wenigen Sonderfällen adressiert. Wird ein Einverständnis allerdings allein aufgrund eines strukturellen Machtungleichgewichts gegeben, kann sich die sexuelle Handlung als strafwürdige Verletzung der Sexualautonomie darstellen. Der Beitrag analysiert die bestehenden dogmatischen Ansätze und zeigt normative und kriminalpolitische Lücken des geltenden Schutzkonzepts auf. Dabei werden vier Kategorien von Machtverhältnissen herausgearbeitet – Macht durch Gesetz, Vertrag, Zugang und Emotion –, die unterschiedliche strafrechtliche Bewertungen nach sich ziehen. Auf dieser Basis werden Vorschläge entwickelt, die einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz sexueller Selbstbestimmung und der Wahrung der individuellen Handlungsfreiheit beider Akteure ermöglichen sollen.
German criminal law reveals a blind spot in the protection of sexual autonomy: sexual acts occurring within asymmetrical power relationships are addressed under §§ 174 et seq. StGB only in a few exceptional constellations. Where consent is given solely due to structural power imbalances, sexual acts may constitute a violation of sexual autonomy. This article analyses the current doctrinal framework and identifies shortcomings in the existing protective approach. It distinguishes four categories of power relations — power based on law, contract, access, and emotional ties — which entail different implications for criminal liability. Building on this analysis, the article develops proposals aimed at striking an appropriate balance between the protection of sexual autonomy and the preservation of both parties’ individual freedom of action.
I. Einführung
Dem Sexualstrafrecht kommt in der kriminalpolitischen Diskussion eine besondere Bedeutung zu, denn es polarisiert wie kaum ein anderes Rechtsgebiet. Im Sexualstrafrecht wird Grundlegendes verhandelt: die Reichweite sexueller Autonomie, die Verantwortung für konsensuale Sexualität und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Bilder von Geschlechterrollen und Sexualmoral. Das Sexualstrafrecht steckt die Grenzen zwischen bloß unmoralischem und tatsächlich strafwürdigem Sexualverhalten ab und bewegt sich damit in einem sensiblen Bereich zwischen Schutz und Beschränkung sexueller Freiheit, zwischen Vulnerabilität und Resilienz.
Es ist daher wenig erstaunlich, dass der 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs immer wieder Gegenstand von Reformen ist. Weitreichende Änderungen haben die Sexualdelikte im Jahr 2016 durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung erfahren.[1] Mit § 184i StGB wurde der Tatbestand der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB) eingeführt, der körperliche Übergriffe unterhalb der Schwelle sexueller Handlungen in § 184h StGB erfasst. Die grundlegendste Neugestaltung erfuhr die Kernvorschrift des § 177 StGB, die bis dahin einem Nötigungsansatz folgte[2] und nun nach dem konsensbasierten „Nein heißt Nein“-Modell ausgerichtet ist. Ein strafbarer sexueller Übergriff setzt nach geltendem Recht nicht länger den Einsatz von Gewalt, eine Drohung oder die Ausnutzung einer schutzlosen Lage voraus, sondern liegt bereits dann vor, wenn der Täter gegen den erkennbaren Willen des Opfers handelt.[3]
Das Strafrecht ist ein Spiegel der Gesellschaft; die Einstellung zu sexuellem Fehlverhalten hat sich verändert, auch weil Frauen im politischen Diskurs eine stärkere Stimme bekommen haben und ihre Belange deutlicher gesehen werden. In den nächsten Jahren wird, auch im Lichte der Istanbul-Konvention, über das „Nur Ja heißt Ja“-Modell gesprochen werden, über die Strafbarkeit von Catcalling und über bildbasierte sexualisierte Gewalt. In diesem Beitrag soll der Blick allerdings auf einen Bereich gelenkt werden, der in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion bislang allenfalls am Rande erörtert wurde – der aber eine intensivere Befassung verdient: Die Ausnutzung von Machtverhältnissen. Die #MeToo-Bewegung, ausgelöst durch die Aufarbeitung systematischer Übergriffe im Umfeld von Harvey Weinstein, hat international wie national die Aufmerksamkeit auf sexuelle Übergriffe in machtasymmetrischen Beziehungen gelenkt. Auch in Deutschland haben Fälle wie der um den Regisseur Dieter Wedeloder die Berichte über einen Göttinger Professor, dem jahrelange sexuelle Belästigungen seiner Mitarbeiterinnen vorgeworfen werden, strukturelle Missstände im Umgang mit Macht und Sexualität offengelegt.
Die Verfasserin folgt in diesem Text keinem explizit strafrechtskritischen Denken, sondern der Überzeugung, dass das Strafrecht eine gesellschaftlich wichtige Befriedungsfunktion erfüllt, um begangenes Unrecht zu ahnden. Das Strafrecht dient weder der Kommunikation einer bestimmten Sexualmoral noch soll es Menschen zu einem bestimmten Sexualverhalten erziehen. Ihm kommt jedoch die Aufgabe zu, im Interesse von Opfern und Gesellschaft strafwürdige Angriffe auf Rechtsgüter zu sanktionieren. Das negiert nicht die Risiken strafrechtlicher Verfahren durch falsche Verdächtigungen oder einen unverhältnismäßigen Einsatz strafprozessualer Instrumente, setzt sie aber ins Verhältnis zur Notwendigkeit einer staatlichen Reaktion auf eine Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung.
Steht man einer Erweiterung strafrechtlicher Vorschriften nicht aus prinzipiellen Gründen ablehnend gegenüber, richtet sich die Diskussion auf zwei Punkte: (1) Existieren strafwürdige Angriffe auf die Sexualautonomie, die bislang nicht strafrechtlich geahndet werden? und (2) Lassen sich Straftatbestände formulieren, die das Phänomen adäquat erfassen und insbesondere den Anforderungen hinreichender Bestimmtheit genügen.
II. Machtasymmetrien in sexuellen Beziehungen
Machtverhältnisse durchziehen sexuelle Beziehungen – durch Altersunterschiede, ökonomische Abhängigkeiten oder institutionelle Hierarchien. Berichte über sexuelle Übergriffe durch Trainer auf Athletinnen, Universitätsprofessoren auf Mitarbeitende und Studierende oder einflussreiche Regisseure auf junge Schauspielerinnen haben ein Schlaglicht auf das Problem sexueller Handlungen in machtasymmetrischen Verhältnissen geworfen.[4] Für das Strafrecht stellt sich die Frage, wann hier ein Kipppunkt erreicht ist: Unter welchen Bedingungen ist ein Machtungleichgewicht so erheblich, dass eine Zustimmung der Betroffenen zu sexuellen Handlungen nicht mehr als Ausdruck freier sexueller Selbstbestimmung anzusehen ist?
1. Formen von Machtasymmetrien und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
Machtverhältnisse entstehen durch unterschiedliche Formen von Ungleichgewichten, die personell, situativ oder strukturell bedingt sein können. Personenbedingte Faktoren umfassen unter anderem Alters- oder Entwicklungsunterschiede, kognitive oder körperliche Einschränkungen sowie Wissens- und Kompetenzasymmetrien. Situative Machtasymmetrien beruhen hingegen auf vorübergehenden äußeren Umständen, beispielsweise auf sozioökonomischer Vulnerabilität oder einer spezifischen Abhängigkeit in einer konkreten Situation (wie etwa zwischen Reiseleiter und ortsfremder Touristin). Strukturelle bzw. institutionelle Machtverhältnisse sind dagegen längerfristig angelegt und basieren auf rechtlichen oder faktischen Entscheidungskompetenzen, wie sie zwischen Lehrenden und Studierenden oder Arbeitgebern und Beschäftigten existieren. Machtasymmetrien sind als solche alltäglich und nicht per se problematisch. Kommt es aber in diesen Machtverhältnissen zu sexueller Interaktion, kann die ungleiche Verteilung von Macht die Fähigkeit der unterlegenen Partei beeinträchtigen, frei und selbstbestimmt über ihre Sexualität zu entscheiden und einen entgegenstehenden Willen zum Ausdruck zu bringen.
Die sexuelle Selbstbestimmung schützt die freie Entscheidung, ob, wann und wie man in eine sexuelle Interaktion einbezogen werden möchte.[5] Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung umfasst damit sowohl die autonome Bildung des Willens als auch, dass der so gebildete Wille frei geäußert werden kann und vom anderen respektiert wird.[6] Machtverhältnisse können sich auf allen Ebenen auswirken. So kann insbesondere ein personelles Machtverhältnis bereits auf Ebene der Willensbildung dazu führen, dass eine Person keinen autonomen Willen in Bezug auf die sexuelle Handlung bilden kann. Auf Ebene der Willensäußerung kann sich ein Machtverhältnis dergestalt auswirken, dass sich das Opfer unter dem Eindruck des Machtverhältnisses passiv verhält und den entgegenstehenden Willen nicht äußert. Denkbar ist auch, dass die betroffene Person aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses der sexuellen Handlung explizit zustimmt, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Bei sexuellen Handlungen in Machtverhältnissen ist die sexuelle Selbstbestimmung latent gefährdet: Der Zugriff auf den Körper vollzieht sich hier nicht offen gewaltsam, sondern vermittelt über soziale Rollen, institutionelle Autorität oder ökonomische Macht.
Im Folgenden soll zunächst ein Blick auf die geltende Rechtslage geworfen werden. Anschließend wird erörtert, welche Schutzlücken mit Blick auf ungleiche Machtverhältnisse existieren und wie eine gesetzliche Neuregelung ausgestaltet werden könnte.
2. Strafbarkeit de lege lata
a) Die Regelungen einzelner Machtverhältnisse in §§ 174 bis 174c StGB
Einige Machtbeziehungen regelt das StGB ausdrücklich. § 174 StGB schützt die sexuelle Selbstbestimmung und ungestörte geschlechtliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Strafrechtlich sanktioniert werden sexuelle Handlungen in Betreuungs-, Obhuts- und Abhängigkeitsverhältnissen, in denen ein eigenverantwortlicher Umgang mit Sexualität angesichts bestehender sozialer Machtasymmetrien nicht sichergestellt ist.[7] Die besondere Stellung des Täters im Leben eines noch nicht in seiner Persönlichkeit hinreichend gereiften jungen Menschen bedingt eine Überlegenheit, die leicht zu sexuellen Zwecken missbraucht werden kann. § 174 Abs.1 Nr. 1 und 3 sowie Abs. 2 Nr. 1 StGB formulieren daher ein absolutes Verbot sexueller Interaktion: Auch ein nachdrückliches Einverständnis des Jugendlichen vermag die Strafbarkeit nicht zu beseitigen, da seine sexuelle Selbstbestimmung im Rahmen derart intensiver Abhängigkeitsverhältnisse nicht zur Disposition steht.[8] Gleichwohl werden im Schrifttum Regelungslücken moniert. So setzt eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB voraus, dass die Opfer dem Täter „zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut wurden“. Die Rechtsprechung verlangt dabei eine besondere Verantwortung für das psychische und körperliche Wohl der Jugendlichen, eine „Mitverantwortung für das geistige und sittliche Wohl des Minderjährigen“.[9] Dies wurde von der Rechtsprechung für Konstellationen im Freizeitbereich häufig verneint:[10] Personen, die Jugendliche bei Freizeitaktivitäten betreuen, z.B. Nachhilfe-, Reit-, Tanz-, oder Musiklehrer, Sporttrainer und Sozialpädagogen in Freizeiteinrichtungen sollen nur ausnahmsweise erfasst sein.[11] So entschied der 5. Strafsenat mit Blick auf einen Turntrainer, der sich während des Trainings an Kindern vergangen hatte, wie folgt: „Es fehlt an dem Vorliegen einer Pflicht, die Lebensführung der Minderjährigen zu überwachen und zu leiten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme wurden die Trainierenden durch elterliche Fahrgemeinschaften zur Sporthalle gebracht; die betreffenden Eltern nahmen als Zuschauer am gesamten Trainingsbetrieb teil. Die Aufgabe des Angekl. im Trainingsbetrieb beschränkte sich auf die Vermittlung der turnerischen Fähigkeiten und der für den Wettkampfbetrieb erforderlichen Disziplin. Weitergehende Betreuungsaufgaben im Sinne einer Erziehungsleistung wurden von ihm weder erwartet noch tatsächlich geleistet.“[12] Empirische Befunde deuten allerdings darauf hin, dass im sportlichen Freizeitbereich ein erhöhtes Risiko für sexualisierte Gewalt besteht.[13] Emotionale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Jugendlichen und Trainern, die einer Freiwilligkeit sexueller Handlungen entgegenstehen, können auch unterhalb der Schwelle zu einer „Betreuung in der Lebensführung“ existieren.[14] Vor diesem Hintergrund wird moniert, dass § 174 StGB dem Risiko sexuellen Missbrauchs in strukturellen Machtbeziehungen bislang nicht hinreichend Rechnung trägt.[15]
Während bei § 174 StGB die ungestörte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund steht, regeln §§ 174a-174c StGB sexuelle Handlungen in institutionellen Machtverhältnissen unabhängig vom Alter der Betroffenen. § 174a StGB stellt den Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten sowie kranken oder hilfsbedürftigen Personen in Einrichtungen unter Strafe. Täter können etwa Angehörige des Wachpersonals, Ärzte, Geistliche und Sozialarbeiter sein.[16] § 174b StGB ahndet den Missbrauch durch Amtsträger, die zur Mitwirkung an einem Strafverfahren, an einem Verfahren zur Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung oder einer behördlichen Verwahrung berufen sind. Geschützt werden vor allem Personen, die sich in potentiell freiheitsentziehenden Verfahren befinden,[17] also etwa in Straf- und Unterbringungsverfahren oder in Abschiebehaft.[18] Über § 174c StGB werden Personen geschützt, die dem Täter wegen geistiger, seelischer, suchtbedingter oder körperlicher Leiden zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut sind. Der Kreis der Machtverhältnisse wurde hier bewusst weit gezogen;[19] es werden nicht nur Fälle stationärer Unterbringung, sondern auch ambulante Verhältnisse erfasst.[20] Damit kommt letztlich „das gesamte Gesundheitswesen als Anknüpfungspunkt einer Strafbarkeit in Betracht“.[21] Die Einschränkung der Strafbarkeit erfolgt hier erst auf der Ebene des Missbrauchs. Während der Tatbestand an dieser Stelle zu weit erscheint, ist er an anderer zu eng. Nach § 174c Abs. 2 StGB wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person vornimmt und dabei ausnutzt, dass die betroffene Person ihm zur psychotherapeutischen Behandlung anvertraut ist. Der BGH vertritt hier die Auffassung, dass nach dem Wortlaut nur Täter sein kann, wer „zum Führen der Bezeichnung ‚Psychotherapeut‘ berechtigt ist und sich bei der Behandlung wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren bedient“[22]. Diese restriktive Auslegung ist in der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen.[23] Vom Tatbestand nicht erfasst sind „Wunderheiler“ und auch alternative Therapieformen wie Psychotrainingsprogramme von pseudoreligiösen Gruppen oder Weltanschauungsvereinigungen,[24] obwohl in diesen Konstellationen vergleichbare Abhängigkeitsverhältnisse und persönliche Vulnerabilitäten bestehen.
Alle Tatbestände setzen voraus, dass der Täter „unter Missbrauch“ seiner Position handelt. Die Bezugspunkte des Missbrauchselementes divergieren jedoch – mit unterschiedlichen Folgen für die Disponibilität der sexuellen Selbstbestimmung. In § 174 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB und § 174b StGB muss der Täter die sexuelle Handlung unter Missbrauch einer Abhängigkeit des Opfers vornehmen. In § 174a Abs. 1 StGB genügt hingegen der Missbrauch einer „Stellung“, für § 174c Abs. 2 StGB ein Missbrauch des „Verhältnisses“. Die Strafbarkeit sexueller Handlungen hängen dabei maßgeblich von der Stärke des Machtungleichgewichts ab: Je asymmetrischer das Machtverhältnis gestaltet ist, desto weniger bedarf es weiterer Umstände, die einen Missbrauch nahelegen. [25]
Der Missbrauch von Abhängigkeit zieht die Grenzen des Strafbaren grundsätzlich enger;[26] er setzt voraus, dass der Täter die auf seiner Macht gegenüber dem anderen beruhende Abhängigkeit für seine Zwecke ausnutzt. Das bedeutet nicht, dass der Täter dem Opfer konkrete Nachteile in Aussicht stellen muss; wohl aber, dass er seine Macht in erkennbarer Weise als Mittel einsetzt, um den anderen gefügig zu machen.[27] Ein Einverständnis des Opfers[28] kann die Strafbarkeit des Täters daher ausschließen. Dies gilt vor allem bei echten Liebesbeziehungen zwischen den Beteiligten.[29] Dass die Initiative vom Unterlegenen ausgeht, steht einer Strafbarkeit jedoch dann nicht entgegen, wenn sich der Täter die Vorstellung des Opfers zunutze macht, durch sexuelles Entgegenkommen die eigene Lage zu verbessern.[30] Ein Missbrauch von Abhängigkeit liegt nur dann nicht vor, wenn das Machtverhältnis tatsächlich keinen – die sexuelle Selbstbestimmung beeinträchtigenden – Einfluss auf die sexuelle Beziehung der Personen hat.[31]
Strenger ist das Strafrecht in § 174a Abs. 1 StGB, wenn es den Missbrauch einer überlegenen Stellung, etwa im Strafvollzug, für die Verwirklichung des Tatbestandes ausreichen lässt. Dafür soll es genügen, dass der Täter eine durch seine Position geschaffene Gelegenheit zu sexuellen Übergriffen ausnutzt.[32] Der BGH spricht hier von der „illegitimen Wahrnehmung einer Chance”[33], die das Vertrauensverhältnis mit sich bringt. Die Machtverhältnisse in § 174a Abs. 1 StGB unterscheiden sich von § 174 und § 174b StGB insoweit, als dass der Täter in Fällen von § 174a Abs. 1 StGB einen nahezu vollständigen Zugriff auf die Person des Betroffenen nehmen kann. Dem Opfer ist es, etwa im Strafvollzug, bereits räumlich kaum möglich, sich den Annäherungen des Täters zu entziehen. Anders als in §§ 174, 174b StGB ist es daher nicht erforderlich, dass dem Täter über seine Amtsstellung hinaus ein bewusster Einsatz seiner Überlegenheit als Druckmittel nachgewiesen wird.[34] Der damals eingesetzte Sonderausschuss[35] hat ausdrücklich einen Antrag abgelehnt, in dem der Missbrauch einer Abhängigkeit für § 174a StGB aufgenommen werden sollte.[36] Eine Strafbarkeit entfällt also auch dann nicht, wenn das Opfer den Sexualkontakt selbst initiiert hat – das Recht betrachtet diese Entscheidung aufgrund des massiven Machtgefälles als irrelevant.[37]
Für § 174c StGB zeigt sich trotz der Ähnlichkeit des Wortlauts ein differenziertes Bild. Bei der Behandlung seelischer Krankheiten muss ein absolutes Abstinenzgebot bestehen;[38] schließlich stellt jeder Sexualkontakt eine Zweckentfremdung der Therapiesituation dar. Patienten in psychologischer Behandlung sind in besonderer Weise vulnerabel und anfällig für eine emotionale Abhängigkeit gegenüber dem Therapeuten.[39] Anderes muss für die Behandlung körperlicher Krankheiten gelten; hier ist die Abhängigkeit des Patienten zum Arzt nicht so erheblich, dass sie einer freien Willensentscheidung entgegenstehen.[40] Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb sexuelle Handlungen zwischen einer Orthopädin und ihrem Patienten strafbar sein sollten.[41]
b) Strafbarkeit von Machtasymmetrien in § 177 Abs. 2 StGB
§§ 174-174c StGB erfassen einige spezifische Machtverhältnisse, blenden aber eine Vielzahl anderer Konstellationen aus. Daher stellt sich die Frage, ob Abhängigkeiten außerhalb der ausdrücklich geregelten Fälle – etwa in beruflichen Machtbeziehungen – über die allgemeinen Vorschriften in § 177 StGB strafbar sein können.
§ 177 Abs. 1 StGB scheidet hier aus, da das Machtgefälle gerade dazu führt, dass die betroffene Person einen entgegenstehenden Willen nicht kommuniziert. Das ist nach dem „Nein heißt Nein“-Modell aber erforderlich; das bloße Wissen des Täters, dass dem anderen die sexuelle Handlung nicht erwünscht ist, reicht für die Strafbarkeit nicht aus.[42] In Betracht kommt aber eine Anwendung von § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB. Danach macht sich strafbar, wer eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht. Dabei zählen zu empfindlichen Übeln „erhebliche Verschlechterungen der Lage, Möglichkeiten oder des Freiheitsraums, die geeignet sind die Willensentschließung zu beeinflussen“[43].
Hier ist zu erwägen, ob sich unter den Tatbestand auch Konstellationen von Machtverhältnissen subsumieren lassen, in denen das Opfer etwa aus Angst vor negativen beruflichen Konsequenzen sexuellen Handlungen des Vorgesetzten zustimmt. Im Schrifttum besteht jedoch weitgehend Einigkeit, dass unter „Lage“ nicht allgemeine Lebenssituationen wie Arbeitsverhältnisse, Partnerschaften oder Vereinsmitgliedschaften verstanden werden können, selbst wenn sie ein Machtungleichgewicht zwischen den Beteiligten begründen.[44] Geschaffen wurde die Norm zur Ahndung sogenannter „Klima-der-Gewalt-Fälle“[45], in denen nachweislich das latente Risiko einer Übelzufügung besteht. Ziel war es, eine Strafbarkeit auch in Fällen zu ermöglichen, in denen das Opfer in einer von Gewalt geprägten Beziehung aufgrund vorheriger Gewalterfahrungen auf eine ausdrückliche Willensäußerung verzichtet hat, weil es wusste, welches konkrete Übel ihm im Weigerungsfall droht.[46] Ohne eine solche Verdichtung zwischen Übel und sexueller Handlung im Verhältnis der Betroffenen greift § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB nicht ein.[47] Von der Vorschrift erfasst wären also nur Fälle, in denen ein greifbares Übel existiert, etwa wenn zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer objektiv eine Kündigung im Raum steht.[48] Nicht unter den Anwendungsbereich fallen hingegen Konstellationen, in denen das Opfer aus Furcht vor unbestimmten beruflichen Nachteilen sexuellen Ansinnen des Vorgesetzten nachkommt. Somit können zwar bestimmte Machtkonstellationen unter den Tatbestand von § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB subsumiert werden, die Vorschrift ist aber weder dafür geeignet noch dazu gedacht, das Phänomen der Machtasymmetrie grundsätzlich zu regeln.
3. Strafbarkeit de lege ferenda
Menschliche Beziehungen sind nie frei von Macht. Wann aber erreicht ein bestehendes Machtgefälle ein solches Gewicht, dass das Ausnutzen der überlegenen Position zur Verfolgung sexueller Absichten strafbar sein sollte? Für die Bestimmung der Strafwürdigkeit – die der Freiheit des einen zum Schutz des anderen Grenzen zieht – kann auf ein Kriterium zurückgegriffen werden, das die Verantwortungsverteilung für einen anderen Deliktsbereich regelt: Die Unzumutbarkeit, äußerem Druck in „besonnener Selbstbehauptung“ standzuhalten, als Voraussetzung für die Strafbarkeit der Nötigung.[49]
Der Gesetzgeber zieht hier einen „Rationalitätsstandard“[50] ein: Wem abverlangt werden kann, einer Drohung zu widerstehen, der bedarf keines strafrechtlichen Schutzes.[51] Für die Bewertung von Machtasymmetrien lässt sich das Zumutbarkeitsmerkmal nutzbar machen: Ist ein Machtungleichgewicht so beschaffen, dass der Unterlegene einem sexuellen Ansinnen des Überlegenen in besonnener Selbstbehauptung standhalten könnte? Maßstab für die Beurteilung zu erwartender Selbstbehauptung können die Intensität des Zugriffs auf die andere Person, die möglichen Folgen einer Ablehnung sexueller Handlungen für den Betroffenen, aber auch die dem Überlegenen zuzugestehende Freiheit sexueller Annäherung sein. Auf dieser Basis lassen sich für Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen vier Kategorien bilden, die unterschiedliche strafrechtliche Bewertungen nach sich ziehen: (1) Macht durch Gesetz, (2) Macht durch Vertrag, (3) Macht durch Zugang, (4) Macht durch Emotion.[52]
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Intensität des Machtgefälles aus rechtlicher Perspektive |
Anwendungsbeispiele |
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Macht durch Gesetz |
Sehr Hoch Macht beruht auf Gesetz. Unterlegener kann sich ihm nicht entziehen. |
– Gefängniswärter gegenüber einem Insassen – Lehrer gegenüber einem Schüler |
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Macht durch Vertrag |
Hoch Macht beruht auf einem vertraglichen Abhängigkeitsverhältnis. Unterlegener kann sich ihm entziehen (etwa durch Kündigung), aber nur unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile |
– Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmer – Universitätsprofessor gegenüber Doktoranden[53]
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Macht durch Zugang |
Mittel Macht beruht auf einem (exklusiven) Zugang zu Vorteilen/Chancen/Ressourcen, die der Unterlegene anstrebt |
– Regisseur, der eine Hauptrolle vermitteln kann, gegenüber Schauspielerin – Sporttrainer, der über die Aufstellung im Spiel entscheidet |
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Macht durch Emotion |
Gering Macht beruht auf emotionaler Abhängigkeit |
– Berühmtheit gegenüber einem Verehrer – Emotionales Machtgefälle in Partnerschaften |
a) Relevante Machtkonstellationen
(1) Für den Fall von Macht durch gesetzliche Befugnis zum Zugriff auf eine Person muss der strafrechtliche Schutz lückenlos und eindeutig sein. Hier regeln die §§ 174 ff. StGB bereits die wesentlichen Konstellationen; sie sollten auf Schutzdefizite untersucht und gegebenenfalls punktuell ergänzt werden.[54]
(2) Bei Machtverhältnissen durch Vertrag ist das Machtgefälle graduell weniger gewichtig als bei gesetzlichen Zwangsbeziehungen, weil sich der Betroffene regelmäßig aus der Abhängigkeit lösen kann, etwa durch Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Gleichwohl ist diese Option häufig mit erheblichen persönlichen und beruflichen Kosten verbunden; an einem Arbeitsplatz kann die wirtschaftliche Existenz hängen, an einer Habilitationsstelle die Chance auf eine universitäre Laufbahn. Die strukturelle Überlegenheit des Vorgesetzten, der über die Verlängerung von Verträgen, die Arbeitsbedingungen oder die Bewertung einer Promotionsleistung entscheidet, schränkt die Freiheit des Unterlegenen zur sexuellen Selbstbestimmung in dieser Beziehung ein.[55] Selbst wenn ein Vorgesetzter nicht ausdrücklich berufliche Konsequenzen in Aussicht stellt, muss ein Angestellter mit Nachteilen rechnen, wenn er sich gegen sexuell übergriffiges Verhalten zur Wehr setzt. Ein Widerstand in besonnener Selbstbehauptung lässt sich hier nicht verlangen, da die Folgen einer Ablehnung für den Betroffenen erheblich sein können. Einem Arbeitgeber oder Promotionsbetreuer sind diese strukturellen Abhängigkeiten bewusst; nutzt er sie für sexuelle Handlungen aus, verletzt er die sexuelle Selbstbestimmung des anderen und sollte strafrechtliche Konsequenzen tragen müssen.
(3) Die Konstellation „Macht durch Zugang“ betrifft Fälle, in denen zwischen den Beteiligten kein vertragliches Verhältnis besteht, der Überlegene allerdings berufliche Chancen eröffnen oder vereiteln kann. Das Machtungleichgewicht ist im Vergleich zur Konstellation (2) geringer, da der Unterlegene grundsätzlich keinen Anspruch auf Unterstützung und Förderung geltend machen kann. Ein relevantes Abhängigkeitsverhältnis kann jedoch dann entstehen, wenn der Überlegene über einen exklusiven Zugang zu beruflich entscheidenden Vorteilen verfügt, oder wenn er dem Unterlegenen im Falle einer Ablehnung Wege versperren kann. Seine Macht beruht auf der exklusiven Kontrolle über Zugänge: Die überlegene Person verfügt über die Möglichkeit, Türen zu öffnen – oder sie gezielt zu verschließen. Die Aussicht auf beruflichen Aufstieg, Sichtbarkeit oder Teilhabe kann ein massives Druckmittel sein, das die sexuelle Autonomie des anderen in strafrechtlich relevanter Weise einschränkt.
Ob das Ausnutzen von Zugangskontrollen die Grenze zur Strafwürdigkeit überschreitet, hängt von den Umständen des Einzelfalls, der Exklusivität und Reichweite beruflicher Einflussnahme, den Risiken nachteiliger Konsequenzen und der Bedeutung des beruflichen Vorteils für den Unterlegenen ab. Sie wäre nach der hier vertretenen Auffassung etwa in folgendem Beispiel zu bejahen:
Ein einflussreicher Regisseur, dessen Stimme in der Branche bei der Besetzung von Rollen großes Gewicht hat, fordert eine Nachwuchsschauspielerin bei einem Vorsprechen zu sexuellen Handlungen auf.
In dieser Konstellation wird die Freiheit der Schauspielerin zur sexuellen Selbstbestimmung in strafwürdiger Weise eingeschränkt. Im Falle eines Widerspruchs muss sie zunächst damit rechnen, die begehrte Rolle nicht zu bekommen. Hier könnte vorgebracht werden, dass die Schauspielerin keinen Anspruch auf die Besetzung habe und der sexuellen Handlung zur Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils zustimme (entsprechend dem traditionellen Narrativ, dass sich die Frau „hoch schlafe“). Tatsächlich geht es in diesen Fällen aber nur vordergründig um den Wunsch nach Besserstellung. Der Schauspielerin dürfte klar sein, dass sie im Falle einer Ablehnung der sexuellen Handlungen keine faire Chance im Vorsprechen haben wird; ihre Position wird also gegenüber der einer Mitbewerberin verschlechtert. Zum anderen muss sie befürchten, dass der Regisseur im Falle einer Weigerung das Verhältnis als zerrüttet ansieht und sie fortan gezielt aus beruflichen Netzwerken ausschließt. In Anbetracht der Umstände kann von der Schauspielerin eine Ablehnung in besonnener Selbstbehauptung nicht erwartet werden.
Diese Betrachtungen sollen nicht vernachlässigen, dass Sexualität innerhalb von Machtverhältnissen auch bewusst durch den Unterlegenen eingesetzt werden kann, um Vorteile zu erlangen. Es gehört zur positiven Dimension der sexuellen Selbstbestimmung[56], dass einer Person zugestanden wird, sexuelle Handlungen „zielgerichtet-instrumentell zur Verbesserung der eigenen sozialen Lebensumstände“ vorzunehmen.[57] Diese Bewertung setzt allerdings voraus, dass die Person sich tatsächlich frei für die sexuelle Beziehung entschieden hat und nicht zur Abwendung drohender Nachteile handelt.
Bsp.: Nachwuchsschauspieler S sucht den Kontakt zum Chef einer Castingagentur und bietet ihm sexuelle Handlungen an, um in die Kartei aufgenommen zu werden. Hier ist – auch weil C nur einen möglichen, aber keinen exklusiven Zugang zu Filmrollen hat – die Abhängigkeitsbeziehung zwischen S und C nicht in einer Weise erheblich, dass S vor sexuellen Handlungen geschützt werden muss.
(4) In Konstellation 4 (Macht durch Emotion) leitet sich das Machtgefälle nicht aus rechtlichen, institutionellen oder beruflichen Abhängigkeiten, sondern aus emotionalen Bindungen ab. Hier empfindet der Unterlegene eine starke emotionale Zuneigung oder persönliche Verehrung, etwa in Liebesbeziehungen, bei intensiven Schwärmereien oder im Verhältnis zwischen einem prominenten Künstler und einem besonders verbundenen Fan. Auch in solchen Konstellationen kann es zu einem deutlichen Ungleichgewicht kommen: Die eine Seite ist emotional involviert und dadurch verletzlich, während die andere sich dieser Wirkung bewusst ist und sie – etwa durch Versprechungen, emotionale Kälte oder punktuelle Aufmerksamkeit – gezielt einsetzt, um sexuelle Handlungen zu erreichen.
Der entscheidende Unterschied zu den zuvor beschriebenen Formen asymmetrischer Machtverhältnisse liegt hier jedoch in der grundrechtlich geschützten Freiheit, auch in emotional ungleichgewichtigen Beziehungen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Die Interaktion zwischen zwei Menschen, die durch keine sozialen Machtpositionen geprägt ist, gehört zum Kernbereich privater Lebensgestaltung und unterfällt als Ausdruck persönlicher Autonomie dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Der Staat kann und soll nicht über die Intensität emotionaler Bindungen urteilen. Liebesbeziehungen sind selten vollständig gleichgewichtig; eine Grenze, wann eine solche Asymmetrie in eine strafrechtlich relevante Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung kippt, lässt sich kaum trennscharf ziehen. Solange bei dem Unterlegen keine seelische Störung vorliegt, muss ihm zugemutet werden, sich im Verhältnis zu anderen selbst und ohne Intervention des Staates zu behaupten.[58]
b) Gesetzliche Ausgestaltung
Das Ausnutzen eines Machtgefälles, das durch Gesetz, Vertrag oder Zugang begründet ist, kann strafwürdig sein. Das geltende Recht bildet diese Fälle bislang jedoch nicht ab. Eine Neuregelung könnte sich an Art. 193 Abs. 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs orientieren, der lautet: „Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
Einige Anpassungen erscheinen allerdings sinnvoll. Die Formulierung „in anderer Weise“ reicht zu weit; sie zieht den Möglichkeiten strafrechtlich relevanter Abhängigkeitsverhältnisse keine hinreichenden Grenzen. Ersetzen ließe sie sich durch die Voraussetzung einer Vergleichbarkeit – damit würde sichergestellt, dass das Machtungleichgewicht den Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses ähnlich sein muss. Nach der hier vertretenen Position können das insbesondere exklusive Zugangskontrollen sein, nicht aber emotionale Bindungen. Ferner sollte ausdrücklich von Machtverhältnissen gesprochen werden, um bereits durch den Wortlaut deutlich zu machen, dass auch Machtasymmetrien außerhalb bereits bestehender beruflicher Abhängigkeitsverhältnisse erfasst werden. Beibehalten werden sollte die Formulierung des „Ausnutzens von Abhängigkeit“, um den Tatbestand klar auf Fälle bewussten Missbrauchs zu beschränken. Einvernehmliche sexuelle Beziehungen etwa am Arbeitsplatz müssen selbstverständlich möglich bleiben. Vorgeschlagen wird daher folgende Tatbestandsformulierung:
„Wer sexuelle Handlungen an einer Person vornimmt, an sich von ihr vornehmen lässt oder die Person zur Vornahme oder Duldungen sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt, indem er eine durch ein Beschäftigungsverhältnis oder ein vergleichbares Machtverhältnis begründete Abhängigkeit ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
III. Fazit
Machtasymmetrien zwischen zwei Personen können dazu führen, dass eine Einwilligung zu sexuellen Handlungen nicht mehr als Ausdruck freier Entscheidung, sondern als Reaktion auf strukturellen Druck erscheint. Die Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung vollzieht sich hier nicht durch Gewalt oder Zwang, sondern vermittelt über soziale Rollen, institutionelle Autorität oder berufliche Macht; sie ist Ausdruck einer tiefen Verwobenheit von Sexualität und Macht in menschlichen Gesellschaften.
Das geltende Sexualstrafrecht schützt Betroffene in bestimmten strukturellen Machtverhältnissen, etwa in pädagogischen, therapeutischen oder institutionellen Kontexten. Dennoch zeigen sich deutliche Schutzlücken, insbesondere bei Konstellationen beruflicher oder zugangsbasierter Abhängigkeit. § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB greift hier nur in Ausnahmefällen ein und vermag das Phänomen asymmetrischer Machtbeziehungen nicht systematisch zu erfassen. Angesichts der erheblichen Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung, die aus einem gezielten Ausnutzen überlegener Machtstellungen resultieren kann, ist eine gesetzliche Erweiterung des strafrechtlichen Schutzes angezeigt. Eine sachgerechte Differenzierung kann sich an der Intensität des Machtgefälles orientieren und die Strafbarkeit auf Fälle beschränken, in denen dem Unterlegenen eine Ablehnung in besonnener Selbstbehauptung nicht zumutbar ist. Der vorgeschlagene neue Straftatbestand würde es ermöglichen, strafwürdige Formen sexualisierter Machtausübung unter Wahrung persönlicher Freiheiten rechtlich angemessen zu adressieren und die bestehende Regelungssystematik sinnvoll zu ergänzen.
[1] Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Genese der Norm siehe Hoven, KriPoZ 2018, 2.
[2] Fischer, StGB, 66. Aufl. (2019), § 177 Rn. 3; Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (184); Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. (2018), § 177 Rn. 1.
[3] Siehe Hoven, NStZ 2020, 578 ff.
[4] S. z.B. DIE ZEIT v. 30.11.2017, Sexueller Missbrauch im Sport. „Ich muss mal führen, wie stark deine Muskeln geworden sind“, abrufbar unter: http://bit.ly/4mSUbCK (zuletzt abgerufen am 15.7.2025); vgl. auch Gaedicke et al., Sexual Violence and the Coach-Athlete Relationship a Scoping Review From Sport Sociological and Sport Psychological Perspectives, Frontiers in sports an active living 2021, abrufbar unter: http://bit.ly/3IlUYNx (zuletzt abgerufen am 15.7.2025); Taz v. 29.10.2024, #MeToo in der deutschen Filmbranche. Im Abhängigkeitsverhältnis, abrufbar unter http://bit.ly/4nr9brp; NDR v. 30.6.2025, Gerichtsurteil bestätigt: Professor aus Göttingen bekommt weniger Geld, abrufbar unter: http://bit.ly/4nmGjAw (zuletzt abgerufen am 15.7.2025).
[5] Kindhäuser/Hilgendorf, in: LPK-StGB, 9. Aufl. (2022) Vorb. §§ 174 – 184l, Rn. 1; Fischer, StGB, Vorb. § 174 Rn. 5; umfassend zum Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung Hörnle, ZStW 127 (2015), 851 ff.
[6] Wiedmer, Die Strafbarkeit sexueller Übergriffe, 2024, S. 51; Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (184).
[7] Renzikowski, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 5. Aufl. (2025), § 174 Rn. 2; Fischer, StGB, § 174 Rn. 2; Hörnle, in: LK-StGB, Bd. 10, 13. Aufl. (2023), § 174 Rn. 2.
[8] BGH, BeckRS 2023, 8612; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174 Rn. 3; Fischer, StGB § 174 Rn. 2.
[9] BGHSt 17, 191 (193); BGHSt 33, 340 (344); BGH, NJW 1995, 2999; OLG Zweibrücken, NJW 1996, 330 (331).
[10] Z.B. bei einer mehrstündigen Autofahrt zu Arbeitsstelle BGH, NJW 1955, 1934; bei einem Jugendherbergsvater BGH, NJW 1957, 1201; bei einem Fußballtrainer BGH, NJW 1962, 1450.
[11] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174 Rn. 24 f.; BGHSt 33, 340: kein Anvertrautsein bei einem Pfarrer und seinem minderjährigen Gemeindemitglied; kein Obhutsverhältnis bei Trainern, die lediglich turnerische Fähigkeiten vermitteln, BGH, NStZ-RR 2008, 307.
[12] BGH, NStZ-RR 2008, 307. Ob ein Obhutsverhältnis bei einer Tätigkeit als Trainer bestehen kann, soll von den Umständen des Einzelfalls abhängen: BGHSt 19, 163 = NJW 1964, 411; BGHSt 33, 340 (344) = NJW 1986, 1053 = NStZ 1986, 215; BGHSt 41, 137 (139) = NJW 1995, 2999.
[13] Rulofs/Wahnschaffe-Waldhoff/Neeten/Söllinger, Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports, Fallstudie 2022, abrufbar unter: http://bit.ly/4narFwz (zuletzt abgerufen am 15.7.2025), S. 95; s. auch Rulofs, in: Neuber (Hrsg.), Kinder- und Jugendsportforschung in Deutschland – Bilanz und Perspektive, 2021, S. 203 ff.
[14] Rulofs/Wahnschaffe-Waldhoff/Neeten/Söllinger, Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports, Fallstudie 2022, S. 95 f.
[15] DJB, Policy Paper v. 18.11.2024 Sexualisierte Gewalt – Schutzlücken und Reformbedarfe, abrufbar unter: http://bit.ly/46qHIPU (zuletzt abgerufen am 15.7.2025); auch bereits DJB, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 27.10.2020, BT-Drs. 19/23707, abrufbar unter: http://bit.ly/4mgSeyS (zuletzt abgerufen am 15.7.2025), S. 7.
[16] Hörnle, in: LK-StGB, § 174a Rn. 14; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174a Rn. 14.
[17] Hörnle, in: LK-StGB, § 174b Rn. 4; Wolters, in: SK-StGB, Bd. 4, 10. Aufl. (2024), § 174b Rn. 4; Eisele, in: TK-StGB, 31. Aufl. (2025), § 174b Rn. 4. Nach überwiegender Auffassung soll bereits das Drohen mit einer Geldstrafe ausreichen; Hörnle, in: LK-StGB, § 174b Rn. 4; Wolters, in: SK-StGB, § 174b Rn. 4; Eisele, in: TK-StGB, § 174b Rn. 4. Für eine restriktivere Auslegung: Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174b Rn. 8.
[18] Zur Kritik an möglichen Schutzlücken: BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, 2017, S. 337 f., III. Empfehlungen zu Themenkomplex 4 Empfehlung 4; DJB, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 27.10.2020, BT-Drs. 19/23707, S. 8
[19] BT-Drs. 13/8267, S. 7.
[20] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 20.
[21] Eisele, in: TK-StGB, § 174c Rn. 4a; Fischer, StGB, § 174c Rn. 5; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 10.
[22] BGH, Beschl. v. 29.9.2009 – 1 StR 426/09 (LG Ulm) = NStZ 2010, 694.
[23] S. z.B. Fischer, StGB, § 174c Rn. 6b ff.; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 24; Wolters, in: SK-StGB, § 174c Rn. 16 f.; Hörnle, in: LK-StGB, § 174c Rn. 30; Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten, 2012, S. 377 f.
[24] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 24.
[25] Vgl. etwa Eisele, in: TK-StGB, § 174b Rn. 7a; Hörnle, in: LK-StGB, § 174a Rn. 27 f.; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174a Rn. 20; Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, 2023, S. 42.
[26] Hörnle, in: LK-StGB, § 174 Rn. 38; BT-Drs. 19/27928, S. 23.
[27] BGHSt 28, 365; BGH, NJW 1979, 2054; NStZ 1997, 337 (338); Eisele, in: TK-StGB, § 174 Rn. 24.
[28] Zudem wird diskutiert, ob ein Einverständnis der betroffenen Person überhaupt wirksam sein kann, wenn die §§ 174a ff. StGB nicht ausschließlich dem Schutz der individuellen sexuellen Selbstbestimmung dienen, sondern zugleich überindividuelle Rechtsgüter wie das Vertrauen in die Integrität staatlicher Institutionen schützen, vgl. etwa Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 40 ff.
[29] Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 174b Rn. 7; Hörnle, in: LK-StGB, § 174 Rn. 38; Wolters, in: SK-StGB, § 174 Rn. 27; a.A. Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 45 f.: Auch § 174b verlange strengere Kriterien für das Einverständnis, da die drohende freiheitsziehende Maßnahme das Opfer in einen Zwangszustand versetze.
[30] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174 Rn. 40; Wolters, in: SK-StGB, § 174 Rn. 27.
[31] Wolters, in: SK-StGB, § 174 Rn. 27.
[32] BGHSt 8, 24 (26).
[33] BGH, NJW 1979, 2054.
[34] Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 174a Rn. 8.
[35] Sonderausschuss für die Strafrechtsreform über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts.
[36] BT-Drs. VI/3521, S. 26.
[37] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174a Rn. 20; Ziegler, in: BeckOK-StGB, § 174a Rn. 8; BGH, NJW 2011, 1891 (1893). Eine Ausnahme soll nur vorliegen, wenn jeder Einfluss des Machtverhältnisses auf die Beziehung der Beteiligten ausgeschlossen ist. Darunter dürften allenfalls Konstellationen fallen, in denen die Beteiligten bereits zuvor eine intime Beziehung geführt haben. BGH, NStZ 1999, 349; BT-Drs. VI/3521, S. 26; krit. hierzu Fischer, StGB, § 174a Rn. 10.
[38] OLG Düsseldorf, NJW 1990, 1543; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 30; Hörnle, in: LK-StGB, § 174c Rn. 37; Wolters, in: SK-StGB, § 174c Rn. 9; Gründel, Psychotherapeutisches Haftungsrecht, 2000, S. 122 f.; Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 48.
[39] Hörnle, in: LK-StGB, § 174c Rn. 37; Eisele, in: TK StGB, § 174c Rn. 9; Gründel, Psychotherapeutisches Haftungsrecht, 2000, S. 122; Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 48 f.
[40] Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 31; Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 52.
[41] Genauso Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 174c Rn. 31 zu einverständlichen Sexualkontakten zwischen Hausarzt und Patientin; BGH, NJW 2016, 2965: kein Missbrauch bei Begegnung „auf Augenhöhe“.
[42] Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187); Mitsch, KriPoZ 2018, 334 (335); Eisele, in: TK-StGB, § 177 Rn. 19c; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 177 Rn. 5.
[43] Fischer, StGB, § 177 Rn. 44.
[44] Fischer, § 177 Rn. 44; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 177 Rn. 10; Hörnle, in: LK-StGB, § 177 Rn. 104; Renzikowski, in: MüKo-StGB, § 177 Rn. 94; Eschelbach, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. (2020), § 177 Rn. 68.
[45] BT-Drs. 18/9097, S. 26.
[46] Noltenius, in: SK-StGB, § 177 Rn. 42; Eisele, in: TK StGB, § 177 Rn. 4; Eschelbach, in: Matt/Renzikowski, StGB, § 177 Rn. 68; Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (188).
[47] Fischer, StGB, § 177 Rn. 44; Hörnle, in: LK-StGB, § 177 Rn. 104.
[48] Fischer, StGB, § 177 Rn. 44; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB § 177 Rn. 10; Hörnle, in: LK-StGB, § 177 Rn. 104; Eisele, in: TK-StGB, § 177 Rn. 48; Eschelbach, in: Matt/Renzikowski, StGB, § 177 Rn. 68.
[49] BGH, NJW 1983, 765 (767); NJW 1984, 931 (933); NStZ 1992, 278; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 1996, 296.
[50] Toepel, in: NK-StGB, § 240 Rn. 109.
[51] So auch Sinn, in: MüKo-StGB, § 240 Rn. 81; zum zumutbaren Selbstschutz des Opfers s. Arzt, in: FS Welzel, 1974, S. 823 (836).
[52] Die folgenden Kategorien sind nicht abschließend, sondern sollen eine erste Orientierung für die Diskussion zu diesem Thema sein.
[53] Ein förmlicher Vertragsschluss ist nicht erforderlich; ein faktisches Betreuungsverhältnis ist ausreichend – in dieser Kategorie geht es in erster Linie um berufliche Abhängigkeiten.
[54] Vgl. hierzu Duman, Sexueller Missbrauch in Institutionen, S. 274 ff.; DJB, Policy Paper v. 18.11.2024 Sexualisierte Gewalt – Schutzlücken und Reformbedarfe; BMJV (Hrsg.), Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht, 2017, S. 335 ff., III. Empfehlungen zu Themenkomplex 4.
[55] Vgl. Fall von sexueller Belästigung von Mitarbeiterinnen durch einen Göttinger Professor, VG Göttingen, Urt. v. 11.10.2023 – Az. 5 A 2/18: Die Doktorandinnen seien in besonderer Weise abhängig vom Professor. Das Verhältnis sei geprägt durch das übliche Altersgefälle. Hinzu trete eine Abhängigkeit in Bezug auf das wissenschaftliche Fortkommen (gemeinsames Publizieren, Empfehlungen bei Verlagen und Universitäten, Unterstützung bei Stipendien etc.). Zuletzt sei der finanzielle Aspekt durch befristete Arbeitsverträge nicht zu vernachlässigen.
[56] S. zur positiven Dimension der sexuellen Selbstbestimmung Hörnle, ZStW 127 (2015) 851 (859 f.).
[57] Hörnle, ZStW 127 (2015), 851 (884).
[58] Kritisch zu sehen ist daher die Entscheidung OLG Karlsruhe, NStZ 2019, 350; s. dazu Hoven, NStZ 2020, 578 (582): „Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, die Bedingungen, an die eine Person ihre Zuneigung knüpft, zu bewerten oder gar strafrechtlich zu sanktionieren.“.
