André Bohn: Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise

von Dr. Oliver Harry Gerson 

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2016, Schriften zum Strafrecht Band 298, Duncker & Humblot, Berlin, ISBN: 978-3-428-15033-5, S. 347, EUR 89,90

I. Die Wiederaufnahme-Vorschriften der §§ 359 ff. StPO dienen der Korrektur von „Fehlentscheidungen“. Sowohl zugunsten (§ 359 StPO) als auch zuungunsten (§ 362 StPO) des Verurteilten kann ein durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Verfahren unter engen Voraussetzungen erneut aufgerollt werden. Die Wiederaufnahme operiert damit im Spannungsfeld von Wahrheit, Gerechtigkeit, Rechtsfriede und Rechtssicherheit. Aus diesem „Schmelztiegel“ greift Bohn in seiner Schrift, die im WS 2015/2016 der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation vorlag (Betreuer: PD Dr. Jens Sickor), ein Problem aus dem Bereich der zuungunstendes Angeklagten erfolgenden Wiederaufnahme heraus. Konkret dreht es sich um die Frage, ob es zulässig sein kann, dass bei Vorliegen neuer Beweise eine rechtskräftig freigesprochene Person erneut angeklagt wird. Die Überlegungen sind rechtspolitischer Natur, denn § 362 StPO, der die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten normiert, ermöglicht de lege latakeine Möglichkeit der Wiederaufnahme vor dem Hintergrund neuer Beweise.

Die Fragestellung ist brisant und beschäftigt in regelmäßigen Abständen die Rechtspolitik (vgl. zuletzt WD-BT, Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe in § 362 StPO um neue Untersuchungsmethoden, WD 7 – 3000 – 121/16 v. 16.8.2016). Das Thema impliziert zudem komplexe Überlegungen auf grundrechtlicher, europäischer und menschenrechtlicher Ebene.

II. Die Arbeit ist in acht Abschnitte gegliedert (A bis H). Nach einem geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Wiederaufnahmevorschriften und des Schutzes vor erneuter Strafverfolgung (A bis C, S. 22-46) setzt Bohn sich mit der Rechtskonformität des geltenden § 362 StPO auseinander (D bis E, S. 47-183) und prüft im Anschluss die Möglichkeit der Erweiterung der Wiederaufnahmevorschriften zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise (F bis H, S. 193-288). Die Abschnitte D und E zur Vereinbarkeit des § 362 StPO aktueller Fassung mit höherrangigem Recht sowie der Abschnitt G zur möglichen Neu-Fassung des § 362 StPO de lege ferenda bilden die Schwerpunkte der Untersuchung.

Als Ergebnis resümiert Bohn, dass eine Wiederaufnahme propter nova zum Nachteil des Angeklagten und damit auch eine entsprechende Erweiterung des § 362 StPO de lege ferenda rechtskonform nicht möglich seien (S. 289).

III. In der Einleitung legt Bohn dar, dass jede Rechtsordnung der Instrumente bedürfe, um Fehlentscheidungen zu revidieren. In der deutschen StPO werde dies, bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren, u.a. über die Vorschriften zur Wiederaufnahme gewährleistet. Die Verurteilung eines womöglich Unschuldigen impliziere dabei stets auch die Nichtverfolgung eines womöglich Schuldigen. Ein Vergleich der §§ 359 StPO und 362 StPO zeige auf, dass bei der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten kein Wiederaufnahmegrund wegen der Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel normiert wurde (anders als z.B. in § 373a StPO bei Strafbefehlen). Da zwar rechtspolitisches Interesse in der Bevölkerung für Konstellationen bestehe, in denen nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens entdeckte Beweismittel eine Überführung des Angeklagten ermöglicht hätten, es jedoch bis dato (Stand der Arbeit: Juni 2016) keine konkreten legislativen Vorstöße in diese Richtung gebe, die Gründe zur Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten zu erweitern, möchte Bohn klären, ob § 362 StPO modifiziert werden müsse und ob eine solche Erweiterung, die neue Beweismittel als Grund für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten zuließe, verfassungskonform möglich ist (S. 17-21).

IV. Es folgt ein historischer Abriss der Entwicklung der Wiederaufnahmeregelungen der §§ 359 ff. StPO und des Art. 79 Abs. 1 BVerfGG (S. 22-35). In diesem Kontext legt Bohn dar, dass keine eindeutige Definition zur Bestimmung der „Fehlentscheidung“ existiere und folgt der Ansicht, dass es dabei nicht allein auf den Widerspruch zum materiellen oder zum prozessualen Recht ankomme, sondern es stets um eine Einzelfallbetrachtung gehen müsse (S. 24 f.). In den Digesten des römischen Rechts war nur in Ausnahmefällen eine Spielart der Wiederaufnahme vorgesehen (S. 25 f.). Auch das germanische Recht verwehrte sich jeder Form der Wiederaufnahme (S. 26). Erst seit dem frühen 19. Jhd. seien sowohl in der preußischen Criminal-Ordnung von 1805 als auch in österreichischen und französischen Kodifikationen erste Vorläufer der Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten zu finden; die Aufnahme zuungunsten blieb umstritten(S. 26 ff.). Bohn lässt weitere Analysen der bayerischen und badischen Verfahrensordnungen folgen und belegt, dass durch deren Entwicklung und Rezeption das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme (zugunsten und zuungunsten) auch „gesamtdeutsch“ nach und nach verfestigt wurde. Der Rechtsgedanke der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten kam schließlich in der RStPO von 1879 (damals als § 402) zum Ausdruck. Der heutige § 362 StPO zur nachteiligen Wiederaufnahme, der dem § 402 RStPO nachgebildet ist, enthält nunmehr vier Wiederaufnahmegründe, wovon Nr. 1 bis 3 als propter falsa bezeichnet werden, da menschliches Verhalten das Urteil beeinflusst hat und Nr. 4 als propter nova, da neue Tatsachen oder Beweismittel das ursprüngliche Urteil erschüttern (S. 33-35).

V. In Abschnitt C folgt ein historischer Überblick über den Grundsatz ne bis in idem, der sich bereits im römischen und mittelalterlichen deutschen Recht finden lasse (S. 36-46). Vertieft erfolgt die Darstellung der absolutio ab instantia des (italienischen) Inquisitionsprozesses des späten Mittelalters: Dieses Institut erlaubte in Fällen, in denen das Gericht sich der Schuld des Angeklagten nicht sicher war, eine „Entbindung von der Instanz“, was bewirkte, dass die Untersuchung bei jedem neuen Verdacht wieder aufgenommen werden konnte. Dadurch sei der Eintritt der Rechtskraft verhindert worden; zudem ging es nicht nur um neue Tatsachen, sondern auch um die Neuverwertung bereits bekannter Beweise. Die absolutio ab instantia hielt sich trotz rechtstaatlicher Bedenken bis ins 19. Jahrhundert und habe Eingang in zahlreiche Partikularkodifikationen gefunden (S. 37-44). Erst im Zuge der französischen Revolution und der Rezeption des französischen Rechts sei die Bedeutung des Doppelbestrafungsverbots ins Bewusstsein gerückt und beanspruchte von da an uneingeschränkte Geltung (S. 44-46). Seit den 1920er Jahren und vor allem unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurden jedoch immer wieder Angriffe auf diesen Grundsatz unternommen. Auch deshalb habe die Maxime Eingang in den Art. 103 Abs. 3 GG gefunden (S. 45 f.).

VI. Im Abschnitt D untersucht Bohn die strafprozessuale Zulässigkeit und Vereinbarkeit des § 362 StPO mit höherrangigem Recht und anderen Prinzipien (S. 46-175), konkret mit Grundsätzen der StPO (S. 47-57), dem Art. 103 Abs. 3 GG (S. 57-100), völker- und europarechtlichen Vorgaben (S. 100-145) sowie dem Institut der Verjährung (S. 145-175).

1. Zunächst zeigt Bohn auf, dass der historische Gesetzgeber die § 362 Nr. 1 bis 3 StPO in der Überzeugung normierte, dass es nicht tragbar sei, dass der Angeklagte selbst weitere Straftaten begehe, um sich der Strafverfolgung zu entziehen (S. 47). Indes beträfen die Nr. 1 bis 3 inzwischen jedoch auch Fehler im Ausgangsverfahren, unabhängig davon, ob sie vom Angeklagten verantwortet wurden, da sich dieser bei einem nicht justizförmigen Verfahren nicht auf „Rechtssicherheit“ berufen könne (S. 48 f.) Bei § 362 Nr. 4 StPO (Geständnis) seien historisch Gründe der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit ausschlaggebend gewesen, was nach Bohn aber nur bedingt überzeuge, da „materielle Gerechtigkeit“ ein zu unbestimmter Rechtsbegriff und das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung kein tauglicher Maßstab seien (S. 49 f.). Allenfalls könnte der Angeklagte durch sein Geständnis selbst auf den Grundsatz des ne bis in idem verzichtet haben, was angesichts der individuellen Rechtfertigung von Eingriffen in (Justiz-)Grundrechte wie Art. 103 Abs. 3 GG möglich sein müsse (S. 51 f.). Da die Wiederaufnahme akkusatorische Elemente aufweise, unser heutiger reformiert-inquisitorische Strafprozess diese aber toleriere, spreche dies insgesamt für eine grundsätzliche Systemkonformität der Wiederaufnahmevorschriften mit den Prinzipien der StPO (S. 52-56).

2. Als nächstes prüft Bohn die Vereinbarkeit von § 362 StPO mit Art. 103 Abs. 3 GG. Aus seiner historischen Bedeutung (insbesondere den Beratungen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rates) heraus versteht er Art. 103 Abs. 3 GG als umfassendes Verbot erneuter Verfolgung, was sich auch teleologisch stützen lasse (S. 57-62).

a) Er greift überdies das Problem der Abgrenzung von nichtigen Urteilen und Nichturteilen auf (S. 62-83) und konkludiert – obwohl es sich nach Bohn um ein Gebiet geringster Praxisrelevanz handele (S. 69 ff.) –, dass es unter der geltenden StPO (wohl) keine nichtigen Urteile geben könne; sofern man dies gleichwohl annähme, müssten auch die dem nichtigen Urteil vorangegangenen Verfolgungsmaßnahmen unter Art. 103 Abs. 3 GG fallen (S. 83). Es folgen Überlegungen zum Merkmal der erneuten Verfolgung (S. 84 ff.).

b) Im weiteren Verlauf arbeitet Bohn die Verfassungswidrigkeit des § 362 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG heraus. Wenngleich alle Konstellationen des 362 Nr. 1 bis 4 StPO inhaltlich beanstandungsfrei seien, sei § 362 StPO gleichwohl deshalb nicht mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar, weil darin eine Begrenzung der Wiederaufnahme auf bestimmte, schwere Straftaten fehle. Für Fälle geringer Schuld existierten allerdings die Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff. StPO, da es wegen des Bagatellcharakters des Vergehens nicht schuldangemessen wäre, weiter zu verfolgen. Da nichts anderes für die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten gelten könne, werde der uneingeschränkte § 362 StPO dem Erfordernis der Abwägung von Rechtssicherheit und Vermeidung von Fehlentscheidungen im Sinne praktischer Konkordanz nicht gerecht (S. 95 ff.).

c) Zudem sei auch die Ausklammerung des § 362 Nr. 3 (strafbare Amtspflichtverletzung eines mitwirkenden Richters oder Schöffen) im § 370 StPO, was Nr. 3 als absoluten Wiederaufnahmegrund ausgestaltet, in sich nicht schlüssig bzw. verfassungswidrig. Es sei kein vertretbarer Grund erkennbar, weshalb bei Mitwirkung eines Richters oder Schöffen, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat, der Nachweis des Einflusses auf die Entscheidung (anders als bei § 362 Nr. 1 und 2 StPO) entbehrlich und dadurch für diese Fälle eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten immer möglich sei (S. 96-100). Die materielle Gerechtigkeit werde nach Bohn von einer (nicht entscheidungserheblichen) Straftat durch einen Richter oder Schöffen nicht tangiert. Zudem hätten die anderen Verfahrensbeteiligten kein so hohes Interesse an der Einhaltung prozessualer Gerechtigkeit, dass diese das Recht des Angeklagten auf Rechtssicherheit überwiegen könne.

3. Im Unterkapitel über die Vereinbarkeit mit völker- und europarechtlichen Vorgaben untersucht Bohndie Vereinbarkeit des § 362 StPO mit dem Grundsatz ne bis in idem in seinen jeweiligen Ausprägungen in der EMRK, dem IPbpR, der EU-GR Charta und Art. 54 SDÜ (S. 100-143). Bohn konstatiert, dass § 362 StPO jedenfalls mit Art. 14 Abs. 7 IPbpR vereinbar sei (S. 101-104). In Bezug auf Art. 4 ZP 7 EMRK (welches die Bundesrepublik bislang nicht ratifiziert hat) sei die Lage differenzierter zu bewerten. Insbesondere der absolute Aufnahmegrund des § 362 Nr. 3 StPO stehe Art. 4 ZP 7 EMRK aber entgegen (S. 104-107). Auch mit Art. 50 EU-GRCharta sei § 362 StPO nicht zu vereinen (S. 106-116). Eingehend wird sodann die Konformität der Wiederaufnahme mit Art. 54 SDÜ geprüft (S. 117-143). Nach vertieften Überlegungen zum Binnenverhältnis der europäischen und völkerrechtlichen Rechtsregime und in Bezug auf Art. 103 Abs. 3 GG schlussfolgert Bohn, dass ein transnational verstandener § 362 StPO sowohl gegen Art. 54 SDÜ, Art. 50 EU-GRCharta als auch Art. 103 Abs. 3 GG verstoße (S. 143).

4. Da durch die Wiederaufnahme eine Erneuerung der Hauptverhandlung angestrebt werde, stehe diese auch in Konflikt mit den Vorgaben der Verjährung, §§ 78 ff. StGB, was Bohn im letzten Unterkapitel des Abschnitts D untersucht (S. 143-175). Als Sinn der Verjährung versteht Bohn, dass diese dem Umstand Rechnung trage, dass mit zunehmendem Zeitablauf eine Verwirklichung der Strafzwecke immer unwahrscheinlicher werde (S. 147). Inwieweit die bei der Wiederaufnahme bewirkte Strafverfolgungsverjährung zu erklären sei, werde in der Dogmatik unterschiedlich beantwortet. Einerseits werde von einem nicht gelösten Konflikt gesprochen, u.a. weil § 78b Abs. 3 StGB nicht ergebe, dass die Verjährung durch den Eintritt der Rechtskraft begrenzt sei (S. 148 f.). Auch eine direkte oder analoge Anwendung des § 78c Abs. 1 Nr. 7 StGB scheide aufgrund seiner Restriktivität aus. Bohn untersucht sodann, ob die Verjährung zwischen rechtskräftiger Entscheidung und rechtskräftigem Wiederaufnahmebeschluss womöglich i.S.d. § 78b Abs. 1 Nr. 2 Hs. 1 StGB ruhe (S. 150-159), da das Legalitätsprinzip wegen Unanwendbarkeit im Wiederaufnahmeverfahren nicht entgegenstehe und die Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG nur vorbereitende Handlungen zur Wiederaufnahme gestatte. Nach der Auseinandersetzung mit weiteren Ansichten (S. 160-171) konkludiert Bohn, dass unter Abwägung aller Interessen die Verjährung zwischen rechtskräftigem Urteil und rechtskräftigem Wiederaufnahmebeschluss ruhe und erst im Rahmen der Fortsetzung des Verfahrens nach Wiederaufnahme die „ursprüngliche Verjährung“ weiterlaufe (S. 171 f.). Soll wegen einer anderen Tat als der des Ausgangsverfahren wiederaufgenommen werden, liefen die jeweiligen Verjährungsfristen beider Delikte gleichzeitig, wobei die eintretende Verjährung eines der Delikte auch „die Verfolgung des anderen Delikts sperrt“. (S. 172-175).

5. Abschnitt E fasst die bisherigen Ergebnisse zusammen und versucht eine taugliche Methode für das Problem miteinander verwobener Auslegungen von auf unterschiedlicher Ebene angesiedelter Rechtsmassen zu bieten (S. 176-183).

6. In Abschnitt F untersucht Bohn, wie § 362 StPO – angesichts der in Abschnitt D aufgezeigten Verstöße – rechtskonform ausgestaltet werden könnte (S. 184-192). Er schlägt unter anderem vor, § 362 Nr. 3 StPO in den § 370 StPO aufzunehmen (S. 184 f.). Überdies solle eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nur bei Verbrechen i.S.d. § 12 Abs. 1 StGB möglich sein, was in einem § 362 Abs. 2 StPO de lege ferenda geregelt werden könnte (S. 185-192).

VII. Als zweiter Schwerpunkt der Arbeit wird im Abschnitt G untersucht, ob in einem zukünftigen § 362 StPO eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe auch wegen neuer Tatsachen und Beweismittel möglich wäre (S. 193-288).

1. Zunächst stellt Bohn dar, dass eine Ausweitung des § 362 StPO (trotz angenommener Verfassungswidrigkeit, s.o.) grundsätzlich möglich sei und auch nicht zwingend in Konflikt mit § 103 Abs. 3 GG gerate (S. 193-200).

2. Danach untersucht er die faktische Notwendigkeit einer Erweiterung (S. 200-217). Bisherige Gesetzesinitiativen konnten zwar nicht durchdringen. Allerdings seien es gerade die neuesten Techniken der Molekularbiologie, wie die DNA-Analyse, die die Aufdeckung zurückliegender Taten auch nach Jahren ermöglichten. Diesen neuen Technologien allerdings per se eine Aufdeckungsgarantie zuzusprechen sei falsch, denn sie klärten zumeist nur, obein bestimmtes Material vom mutmaßlichen Täter stamme, nicht jedoch, wie es an den Fundort gekommen sei, so dass auch sie keine 100-prozentige Aufklärungsmöglichkeit böten.

3. Spiegelbildlich zu Abschnitt D wird sodann untersucht, ob eine Erweiterung des § 362 StPO de lege ferenda mit höherrangigem Recht vereinbar wäre (S. 217-288).

a) Da neue Beweise, die zuungunsten des Angeklagten wirken, weder in die Sphäre des Gerichts noch des Angeklagten fallen, schlussfolgert Bohn, dass sie mit dem Telos des § 362 StPO nicht vereinbar seien. Überdies würde dadurch ein überbordendes inquisitorisches Element in das heutige Strafverfahrensmodell eingefügt, so dass die Ausweitung schon auf strafprozessrechtlicher Ebene ausscheiden müsse (S. 217 f.).

b) Wegen der Schutzwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG sei eine Ausweitung des § 362 StPO propter nova parallel zu § 359 Nr. 5 nicht zulässig (S. 219-227), da die Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG ansonsten „nur noch auf dem Papier bestünde“ (S. 225). An dieser Bewertung ändere sich auch nichts, wenn man die Wiederaufnahme nur auf Verbrechen beschränkte. Zudem sei eine Erweiterung weder mit den Verjährungsregeln kompatibel noch aus Gründen des Opferschutzes erforderlich (S. 228-232). Bis dato ergangene Gesetzesinitiativen seien allesamt nicht verfassungskonform umsetzbar (S. 233-238).

c) Bohn schließt aus, dass sich eine Erweiterung des § 362 StPO innerstaatlich mit Art. 14 Abs. 7 IPbpR, Art. 4 ZP 7 EMRK und Art. 50 EU-GRCharta vereinbaren ließe sowie transnational mit Art. 54 SDÜ, Art. 50 EU-GRCharta und Art. 103 Abs. 3 GG kompatibel sei (S. 238-242). Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sei hingegen nicht anzunehmen (S. 242-253).

d) Weiter wird analysiert, ob eine Wiederaufnahme von Altfällen (d.h. bereits vor dem Inkrafttreten der möglichen Neuregelung des § 362 StPO abgeschlossene Verfahren) dem Rückwirkungsverbot (insbesondere Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 EMRK/Art. 15 Abs. 1 IPbpR und Art. 49 Abs. 1 EU-GRCharta) zuwiderlaufe (S. 253-273). Zuvörderst wird das „strafrechtliche Rückwirkungsverbot“ des Art. 103 Abs. 2 GG als „Sonderfall des allgemeinen Rückwirkungsverbots“ in den Blick genommen und gefragt, ob dieses dem Anwendungsbereich eines neuen Wiederaufnahmegrundes von Altfällen wegen neuer Beweise entgegenstehe. Dieses Problem sei bislang in Hinblick auf die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten kaum erörtert worden (S. 256), u.a. deshalb, weil zahlreiche Stimmen davon ausgingen, dass Art. 103 Abs. 2 GG grundsätzlich nicht für das Prozessrecht gelte (S. 255 ff.). Bohn spricht sich, mit der Auffassung des BVerfG, ebenfalls gegen die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf das Prozessrecht aus (S. 256-266) und argumentiert damit, dass Art. 103 Abs. 2 GG dazu diene, dem Bürger zu verdeutlichen, wo der Bereich der Strafbarkeit beginne. Das gehe aber nicht so weit, dass schon vor Tatbegehung die mögliche Verfolgbarkeit (d.h. das „ob“ und „wie“ der Verfolgung) erkennbar sein müsse. Da § 362 StPO durch die Aufzählung abschließender Wiederaufnahmegründe zumindest mittelbar bestimme, „wie lange“ eine Straftat nach einem rechtskräftigen vollstreckbaren Urteil noch bestraft werden könne, sei die Wertung des Art. 103 Abs. 3 GG dem § 362 StPO bereits immanent. Für den Art. 103 Abs. 2 GG sei somit schlicht kein Raum mehr; Art. 103 Abs. 2 GG regle das „von wann an“, und gerade nicht  das „wie  lange“  der  Strafverfolgung (S. 258). Das ergebe sich, neben dem Wortlaut, auch aus der historischen Betrachtung (S. 259 f.). Bohn lehnt daher Ansätze ab, die versuchen, die prozessuale Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG allein historisch zu bestimmen            (S. 258-262) und widerspricht auch Stimmen, die die Anwendbarkeit je nach Einzelfall oder aufgrund vorgeblich fehlender Trennschärfe von materiellem und prozessualem Recht zu begründen suchen (S. 261-266).

e) Gleichwohl stelle die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Altfälle nach einer Reform des § 362 StPO die Konstellationen der echten Rückwirkung dar, und greife damit unzulässig in das allgemeine Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG ein (S. 266-270). 7 Abs. 1 EMRK / Art. 15 Abs. 1 S. 1 IPbpR seien ebenfalls für das Strafverfahrensrecht anwendbar und wären durch die Einführung eines entsprechend erweiterten Kataloges von Wiederaufnahmegründen verletzt. Bohn spricht sich zuletzt, aufgrund eines angenommenen Gleichlaufs von Art. 49 EU-GRCharta und Art. 7 Abs. 1 EMRK, für eine Anwendbarkeit auch des Art. 49 EU-GRCharta auf das Prozessrecht aus und stellt auch hier eine Verletzung fest (S. 270-273).

f) Es folgen Überprüfungen anhand der Unschuldsvermutung, der Waffengleichheit sowie des nemo-tenetur Satzes (S. 273-288). Abschließend warnt Bohn davor, „die Büchse der Pandora in Form einer entsprechenden Erweiterung der nachteiligen Wiederaufnahmegründe zu öffnen“ (S. 288).

VIII. Die Arbeit legt weitreichende historische Belege und Erkenntnisse zu Herkunft und Genese der Wiederaufnahmevorschriften vor und erweitert dadurch den Horizont und das Verständnis für dieses Themengebiet. Zudem werden die dogmatischen Hürden der (hypothetischen) Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen vor dem Hintergrund neuer Beweise umfassend diskutiert. Bohns Schrift zeigt auf, dass das Wissen um die historischen Bezüge und Leitlinien der Verfahrensmaximen und die Sensibilisierung für das grund- und menschrechtliche Mehrebenensystem zum Schutz des rechtsstaatlichen Strafverfahrens unabdingbar sind, um kriminalpolitische Reformbestrebungen sachgerecht würdigen zu können.

 

 

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