Oliver Harry Gerson: Das Recht auf Beschuldigung. Strafprozessuale Verfahrensbalance durch kommunikative Autonomie

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2016, Verlag De Gruyter, Berlin, ISBN: 978-3-11-048980-4, S. 1084, Euro 179,95.

Die an der Juristischen Fakultät der Universität Passau bei Prof. Dr. Esser als Erstgutachter eingereichte Dissertation hat einen monumentalen Umfang von über 1000 Seiten, was für eine Dissertation doch eher ungewöhnlich ist. Der Umfang sollte den Leser aber nicht abschrecken, liest man sich doch – auch dank des flüssigen Schreibstils – sehr schnell in die Arbeit und das spannende Thema ein. Gerson macht schon zu Beginn deutlich, dass es in seinen Ausführungen weniger um die Rechte des Beschuldigten, als vielmehr um das Recht auf Beschuldigung geht. Da der Beschuldigte dem Strafverfahren als Anlass und Auslöser vorgelagert ist, erstaunt es den Autor, dass dieser „Vorfeldfrage“ so wenig Bedeutung zukomme (S. 2). Daher zeigt er zunächst sechs „Baustellen“ auf, die einer Neuordnung des Verständnisses des Beschuldigten im Wege stehen bzw. den Blick verstellen auf Begriff, Stellung, Status, Funktion und Rolle des Beschuldigten. Als „normative Baustelle“ macht Gerson die fehlende Legaldefinition des Beschuldigtenbegriffs aus. Es mutet in der Tat tautologisch an, wenn Beschuldigter derjenige ist, gegen den als Beschuldigter ein Strafverfahren betrieben wird. Auch wenn Gerson es für nachvollziehbar hält, dass der Tatverdacht bei der Entwicklung und Begründung der Beschuldigteneigenschaft eine entscheidende Rolle spielen muss, so sei doch nicht geklärt, wie sich die Verknüpfung aus Tatverdacht und strafverfolgungsrelevanten Schlussfolgerungen verhält oder verhalten sollte. Als „praktische Baustelle“ wird die Realitätsferne der Beschuldigtendefinition beschrieben, da sich aus der Melange von Verdacht und Verfolgungswille ein Netz aus Ermittlungsmaßnahmen entspinne, um den Beschuldigten im Rahmen des Vorverfahrens zu überführen. „Dogmatische Baustelle“ sei zudem der schwache Schutz des Beschuldigten durch Allgemeinplätze, wie der Phrase, ihm dürfe sein Beschuldigtenstatus nicht willkürlich vorenthalten werden. „Faktische Baustelle“ sei der Grundsatz der Effektivität der Strafverfolgung als „Gegenspieler“ der Beschuldigtengleichstellung. Gerson tut gut daran, hier mahnend den Zeigefinger zu heben und gleichzeitig klarzumachen, dass nicht im juristischen Elfenbeinturm nach einem übersteigerten Beschuldigtenschutz gerufen wird. Auch das Schlagwort des partizipatorischen Strafverfahrens fällt hier (noch) nicht. Allerdings zeigen neuere Entwicklungen in der Gesetzgebung, dass die Effektivierung des Strafverfahrens häufig zu Lasten des Beschuldigten geht oder zumindest Rechte nicht angeglichen werden. Dies verdeutlicht die Entwicklung des jüngsten Gesetzes zur praxistauglicheren und effektiveren Ausgestaltung des Strafverfahrens.

Während im Referentenentwurf dem Beschuldigten – endlich – ein eigenes Antragsrecht auf Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren zugesprochen wurde, hat der Regierungsentwurf dieses Recht kurzerhand wieder aus  § 141 StPO herausgestrichen. Die „soziologisch-interdisziplinäre Baustelle“ weist auf einen durch den Untertitel der Dissertation deutlich gemachten Schwerpunkt der Arbeit hin, nämlich die Kommunikation und Rollenautonomie als vergessene Leitprinzipien des Strafverfahrens. Schließlich wird die „sprachpsychologische Baustelle“ der Narrative und Sprachverhexungen aufgezeigt. Narrative Nebelkerzen verschleierten und rechtfertigten Dinge, die eigentlich erst dogmatisch, rechtlich, sittlich, moralisch, philosophisch und soziologisch begründet werden müssten.

Nach Abstecken dieser „hinderlichen Baustellen“ macht Gerson deutlich, dass es ihm um die Darlegung eines Rechts auf Beschuldigung geht und darum, Inhalt und Grenzen abzustecken und die dogmatischen Verflechtungen offenzulegen (S. 18). Dazu untergliedert er seine Arbeit in vier Teile. Im ersten klärt er den status quo, d.h. auf welche Weise und durch welche Vorgänge der Betroffene zum Beschuldigten wird. Dies umfasst eine Analyse seiner Stellung als Beschuldigter sowie seiner Rolle im Verfahren. Durch die Überschrift „Recht auf Beschuldigung als Verfahrensrolle: Beschuldigtenstellung als Zirkelschluss“ wird deutlich gemacht, dass Gerson zahlreiche Ungereimtheiten enttarnt. Was dieses und die anderen Kapitel so lesenswert machen, sind die als „Mikrostudien“ bezeichneten kleinen Inseln interdisziplinärer Exkurse, die den Leser in den Bann ziehen und den Blick des Betrachters weiten, um aus schier unerschöpflich scheinenden Wissensquellen anderer Disziplinen Erkenntnisgewinn auch für die Rechtswissenschaft im Allgemeinen und die Forschungsfragestellung im Besonderen zu ziehen. Und so steht schon an vorderer Stelle der Monografie der Hinweis auf den „ebenso ehrgeizigen wie selbstkritischen Versuch“, „intra- und interdisziplinäre Grundlagenforschung zur Erkenntnisgenerierung im Strafprozessrecht fruchtbar zu machen“ (S. 25).

Im zweiten Teil entwickelt der Autor unter dem Titel „Recht auf Beschuldigung als Verfahrensstatus: Verfahrensbalance durch kommunikative Autonomie“ Lösungsalternativen, um die Schieflage im geltenden Strafverfahrensrecht wieder zu begradigen und eine Ausgeglichenheit der Strafverfolgung als Ganzes zu erreichen. Der dritte Teil dient dann in kriminalpolitischer Perspektive unter dem Titel „Das hypothetische Recht auf Beschuldigung de lege ferenda“ dazu, das Recht auf Beschuldigung als Grund- und Menschenrecht herauszuarbeiten, eine Neudefinition der Beschuldigtenstellung zu entwickeln und einen Gesetzesvorschlag für ein Recht auf Beschuldigung zu unterbreiten. Daneben werden weitere Reformvorschläge entwickelt, die das Recht auf Beschuldigung zu einem effektiven Mechanismus der Verfahrensbalance ausgestalten können. Im vierten Teil werden in den „Schlussbetrachtungen“ die Erkenntnisse aus den vorherigen Teilen zusammengeführt und bewertet. Doch dazu nun genauer:

Im ersten Abschnitt des ersten Teils gibt uns Gerson unter dem Titel „Interdisziplinarität als Chance für die Rechtsdogmatik“ einen Vorgeschmack auf die Fülle interdisziplinärer Annährungen, ohne es zu versäumen, auch auf die Gefahren und Schwierigkeiten in Umgang und Transfer der Erkenntnisse der unterschiedlichen Disziplinen auf die Rechtswissenschaften aufmerksam zu machen. Doch auch wenn interdisziplinäre Arbeit mit „Übersetzungsfehlern“ verbunden sei, so müsse doch das Recht als Instrument des „social engineering“ seine grundsätzliche Systemoffenheit durch einen Abgleich mit verwandten Disziplinen dauerhaft beweisen. Um in die interdisziplinäre Auseinandersetzung einzusteigen, legt Gerson im zweiten Abschnitt die dogmatische Basis und beschreibt den Beschuldigtenbegriff im geltenden deutschen Recht. Er enttarnt die objektive und subjektive Beschuldigtendefinition als unvollkommen. Auch der objektiv-subjektiven Beschuldigtendefinition wird als „dogmatisches“ Sorgenkind (S. 98) die Tauglichkeit abgesprochen und eine „Definitionskrise“ des Beschuldigtenbegriffs ausgemacht    (S. 101). Der Trick der Rechtsprechung, den Beschuldigtenstatus durch retrospektive Näherung vom Eingriff aus praxistauglich zu gestalten und zu formulieren, dass der Beschuldigtenstatus nicht willkürlich vorenthalten werden dürfe, helfe nicht weiter, weil sich so doch wieder an der Intensität des Tatverdachts orientiert würde, dessen Beurteilung dem Ermessensspielraum der Ermittlungsbehörde unterliege. Um die Untauglichkeit der herrschenden Definition des Beschuldigten nach der objektiv-subjektiven Definition deutlich zu machen, zeigt Gerson Grenzfälle auf, in denen die Anwendung der Beschuldigtendefinition durch Vorenthaltung oder gänzliche Nichtanerkennung zu heiklen Friktionen führen kann. So versage der objektiv-subjektive Beschuldigtenbegriff bei informatorischen Befragungen, Spontanäußerungen, Vorfeldermittlungen und bei heimlichen sowie verdeckten Ermittlungsmaßnahmen (S. 104-147). Die Beschuldigtendefinition fungiere hier entweder als Türöffner, Vehikel oder sogar als Auslöser der Friktionen. Gefährdet allerdings die Anwendung der Beschuldigtendefinition den Ermittlungserfolg, so werde auf Vernehmungsbegriffe oder die Abgrenzung von Prävention und Repression ausgewichen. Die größte Schwäche der Beschuldigtendefinition läge daher darin, dass sie als dogmatisches Instrument nicht ernst genommen und kaum zur Anwendung gebracht werde. Daher wird in einem dritten Abschnitt die Strafverfolgung aus sozialpsychologischer Perspektive beleuchtet. Denn das Recht auf Beschuldigung als Recht eines Menschen auf Behandlung in seiner Rolle als Beschuldigter käme nicht umhin, sich dem Phänomen der Beschuldigung aus soziologischer und psychologischer Perspektive zu nähern (S. 152). Gerson geht zunächst der Frage nach, wie sich im Laufe des Ermittlungsverfahrens gebildete, verfahrensrelevante Hypothesen verselbstständigen können. Dazu erklärt er den Inertia- oder Perseveranzeffekt, der die Selbstbestätigung von Hypothesen beschreibt, um dann immer tiefer in die Wahrnehmungspsychologie einzutauchen. Dies führt zu dem Schluss, dass das Vertrauen in die Justizförmigkeit des Verfahrens ins Wanken gerät, wird doch durch vielfältigste Beispiele und Experimente nachgewiesen, wie vorurteilsbehaftet die Akteure des Strafverfahrens sind. Gerson hält fest: „Einmal `abgestempelt´, klebt die Beschuldigung an seinen (des Beschuldigten) Fersen und zieht sich fortan durch die gesamte Ermittlung. Diesen verhängnisvollen Weg gilt es weiter zu verfolgen“ (S. 184).

Weiterhin wird die Sprache als Mittel der Vorverurteilung untersucht. Gerson zeigt empirische Versuche zur Beeinflussbarkeit durch Sprache auf und erläutert den Primacy Effekt, der die Weiche für jede weitere Reizverarbeitung bildet und allein durch Platzierung von Schlüsselbegriffen zu positiven oder negativen Verstärkungen führen kann. Zudem werde der Beschuldigte an zahlreichen Stellen des Strafverfahrens mit Sprachwirrnissen konfrontiert, das Juristendeutsch könne den Beschuldigten überfordern, außerdem sei das, was gesagt und wie es rezipiert werde, von entscheidender Bedeutung für den gesamten Verfahrensverlauf. Daher schließt Gerson einen Unterabschnitt zum Tatverdacht als pars pro toto der Wahrnehmungsfehlinterpretation an (S. 208 ff.) und kommt zu der Feststellung, dass der Tatverdacht trotz seiner angeblich objektiven Ausgestaltung ein zutiefst subjektives Element sei, dass sich nahezu ausschließlich am Bauchgefühl und der Erfahrung des Urteilenden orientiert. Daher scheitere die Beherrschung des Tatverdachts an seiner Vagheit, er sei die Sollbruchstelle der emotionalen Konstruktion von Delinquenz, die sich durch Wahrnehmungsverzerrungen erst erschaffe (S. 215). Nach diesen Grundlagen zu Fehlern und Verzerrungsfaktoren in der Wahrnehmung wird in einem weiteren Abschnitt den einzelnen Verfahrensakteuren auf Verfolgerseite und deren Bedeutung für die Beschuldigtenrolle nachgegangen. Was die Polizei anbelangt, so sucht Gerson zwar nicht einseitig die Fehler für die Verfahrensschieflage zu Lasten des Beschuldigten bei der Polizei, doch macht er auf das ungesunde Wechselspiel aus Kompetenzüberlastung und Machtüberfülle der Polizei in Kombination mit der Tendenz zur Verantwortungsabgabe der Staatsanwaltschaft aufmerksam. Die Polizei sei somit zumindest „ein gefährdender Faktor für den Beschuldigten“ (S. 246). Die faktische Übermacht der Polizei im Ermittlungsverfahren und die immense Vorprägung der sozio-psychologisch determinierten Hypothesenbildung in Verbindung mit dem in weiten Teilen vorherrschenden „Ermittlungsklima“ werde zu einem Fallstrick für den Schutz des Betroffenen vor Fehlermittlungen. Auch die Staatsanwaltschaft sei für den Beschuldigten weder Scharnier für die schnelle Inkulpation noch Puffer zur Wahrung von Objektivität und Rechtsstaatlichkeit. Sie sei vielmehr die Türhüterin vor dem Gesetz, die zwischen Einstellung und Anklage pendelt (S. 254 f.). Der Richter – wie jeder Mensch seinen Wahrnehmungsverzerrungen unterlegen – sei mit seiner Rolle zwangsläufig überfordert, so dass seine Rolle und Bedeutung im Strafverfahren einer Neuorientierung bedürfe. Durch Aktenkenntnis und Perpetuierung der auftretenden Verzerrungsfaktoren setze sich der kafkaeske Zustand und die Treibjagd des Beschuldigten fort. Der Beschuldigte gerate in einen Strudel der sich selbst bestätigenden Strafrechtspflege (S. 312). Zudem gehe durch die Stärkung des Opfers im Strafprozess ein Verlust an Rationalität des Verfahrens einher. Psychologisch bedeute die Annahme eines Opfers – man erinnere sich an die Ausführungen zum Priming und zur Perseveranz – das Anerkennen einer Schuld des Täters (S. 297).  Auch der Spagat aus Medienpartizipation und –exklusion verlaufe zu Lasten des Beschuldigten, wenn aus der Berichterstattung eine tendenziöse Verdachtserstattung oder eine mediale Parallelverhandlung entstehe (S. 311). Insgesamt konstatiert Gerson, dass der Zirkelschluss der Beschuldigung zum Teufelskreis der Strafverfolgung werde (S. 313).

Teil 2 widmet sich dann der Frage, wie mit den aufgezeigten Defiziten umzugehen ist, um eklatante Verstöße gegen die Gleichheit und die Fairness des Verfahrens zu vermeiden (S. 321 ff.). Erklärtes Ziel dieses Teils ist dabei, das Recht auf Beschuldigung dogmatisch als Recht auf Verfahrensbalance zu belegen und dabei gleichzeitig grundlegende Denkalternativen für bestehende Dysbalancen des Strafverfahrens zu entwerfen. Um ein Fundament für dieses Ziel zu legen, beleuchtet Gerson zunächst, welche Verfahrensphilosophie hinter dem Recht auf Verfahrensbalance durch kommunikative Autonomie steht.  Nach Darstellung der grundlegenden Theorien der Verfahrensgerechtigkeit wird deutlich, dass die Notwendigkeit der Stärkung der Verfahrensbalance nicht allein aus philosophischen und soziologischen Erwägungen begründbar ist, sondern die intendierte Verfahrensbalance als übergeordneter Topos zu verstehen ist, der auf einer Meta-Ebene – mit Blick auf die Theorien von Habermas, Luhmann und Rawls – auch das Selbstverständnis und die Legitimation des Strafverfahrens in theoretischer und praktischer Weise beeinflusst. Danach stellt Gerson eigenständige Modelle vor, die die theoretischen Konzepte für das Strafverfahren handhabbar zu machen versuchen: Jahns Modell des partizipatorischen, Schünemanns Modell des kompensatorischen Verfahrens, das dialektische Modell nach Demko und das „realistische“ Modell von Salas, verwoben mit Ansätzen von Packer, Weßlau und Greco. In einem nächsten Schritt entwirft der Autor ein eigenes Modell der Verfahrensbalance durch Stärkung der kommunikativen Autonomie des Beschuldigten (S. 393 ff.). Dabei ist dieses Modell kein eigenständiges „Verfahrensmodell“ im engeren Sinne, sondern die Beschreibung einer erkenntnistheoretischen und sozio-psychologischen Betrachtungsweise in Form des Perspektivenwechsels. Ausgehend vom konstruktivistischen Denken, dass die subjektive Wirklichkeitskonstruktion des Individuums beschreibt, wird diese Subjektivität fruchtbar gemacht durch eine Stärkung der kommunikativen Autonomie der Beteiligten und eben auch des Beschuldigten. Kommunikative Autonomie sei danach nicht lediglich Vehikel, um Gleichheit und Verfahrensgerechtigkeit zu generieren, sondern erste Prämisse (S. 430). Eine Stärkung der kommunikativen Autonomie  bedinge  zugleich  eine  stärkere  Einbindung  des  Beschuldigten und wäre geeignet, die positiven Effekte sprachlicher Interaktion zu erfüllen (S. 432).

Das Konzept der kommunikativen Autonomie wird in den folgenden Abschnitten dogmatisch untermauert. Hierzu wird zunächst das Recht auf Beschuldigung in Bezug zur Waffengleichheit untersucht (S. 433 ff.). Nach Herleitung der Waffengleichheit aus Art. 6 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG kommt Gerson recht schnell zu dem Ergebnis, dass es wirkliche Waffengleichheit i.S. einer Verfahrensbalance im Strafverfahren bislang nicht gibt. Allerdings sei die Waffengleichheit als Mindeststandard unabdingbar, um das Recht auf Beschuldigung als Recht auf Verfahrensbalance durch Stärkung der kommunikativen Autonomie zu stützen. Gleich von Beginn des Verfahrens an müsse es auf Augenhöhe stattfinden, da ansonsten jede Form der Verfolgung zur Unterwerfung und Inquisition verkomme (S. 496). Um die Ungleichheit exemplarisch deutlich zu machen, wird im Folgenden auf die Beschuldigtenvernehmung eingegangen (S. 497 ff.). Gerson zeigt auf, dass Zeitpunkt, Ausgestaltung und Inhalt der Vernehmung von kriminaltaktischen Erwägungen durchwachsen sind, die der Überführung des Beschuldigten dienen. Es bedürfe kompensierender Schutzmechanismen, die sich im Recht auf Beschuldigung als Recht auf Verfahrensbalance durch die Stärkung der kommunikativen Autonomie vereinen lassen. Daher sollte z.B. der Anspruch auf rechtliches Gehör trotz beachtlicher kriminalistischer Gegeneinwände vollumfänglich bereits im Ermittlungsverfahren gelten. Des Weiteren sollte die Pflicht eingeführt werden, die Beschuldigtenstellung zu eröffnen. In der Chronologie des Verfahrens wäre somit die Entstehung der Beschuldigteneigenschaft der Beginn, der die Mitteilung dieser Eigenschaft nachfolgt, wiederum gefolgt von Belehrung, Mitteilung des Tatvorwurfs und Vernehmung. Die Vernehmung an sich würde bislang der kommunikativen Autonomie nicht gerecht, ganz im Gegenteil müsse man von einer kommunikativen Entmündigung ausgehen, wie schon Beispiele zulässiger kriminalistischer List im Rahmen der Vernehmung deutlich machen würden. Der müßige Streit um die richtige „Nuance“ an zulässiger List würde verkennen, dass bereits kleinste Einwirkungen auf die kommunikative Autonomie des Betroffenen diesen in eine Rechtfertigung in einer „Meta-Wirklichkeit“ zwingen, die konstruierte Ergebnisse erzeugt (S. 581 f.).

In einem weiteren Abschnitt werden der nemo-tenetur-Satz und die Unschuldsvermutung als letzte Bausteine der kommunikativen Autonomie auf ihren kommunikativen Gehalt hin untersucht (S. 582 ff.). Es wird herausgearbeitet, dass der nemo-tenetur-Grundsatz ein weiterer Mindeststandard zum Schutz der kommunikativen Autonomie ist. Sinn und Zweck sei es, die kommunikative Entmündigung des Beschuldigten zu verhindern, indem dieser nicht dazu gezwungen wird, seine eigene Überführung aktiv zu fördern oder seine Schuld zu verbalisieren. Daneben solle durch die Unschuldsvermutung objektiv-rechtlich eine Desavouierung des Verfahrens durch Schuldantizipation verhindert werden. Gerson resümiert, dass in der Zusammenschau alle Gleichheitsrechte objektiv-rechtliche Wertungsmaßstäbe und individuelle Schutzgarantien für die kommunikative Autonomie des Beschuldigten beinhalten würden.  Ihr Manko läge aber darin, dass sie nur bruchstückhaft gelten, nicht alle Verfahrensstadien umfassen und zum Teil durch Praxis und Lehre in eine bestimmte Richtung gelenkt wurden. Kommunikative Autonomie könne daher als Konzept und Mechanismus eine Aufwertung der Subjektstellung des Beschuldigten bewirken, die dessen Recht auf Selbstdarstellung als ureigenen Ausdruck der Menschenwürde wahrt und dem grundlegenden Erfordernis der Verfahrensbalance im Sinne des Kampfes auf Augenhöhe gerecht werde (S. 622).

Im nächsten Abschnitt beleuchtet Gerson verdeckte Ermittlungen und Verfahrensabsprachen als Anwendungsfälle des Konzepts der kommunikativen Autonomie (S. 622 ff.). Bei verdeckten Ermittlungen durch verdeckt agierende Ermittler oder V-Leute werde der Beschuldigte permanent belogen und durch die Manipulationen in eine „gelenkte Wirklichkeit“ geschickt, die ihn kommunikativ wehrlos stellt, da er ihre Eigengesetzlichkeiten nicht kennen kann. Der Fortbestand verdeckter Ermittlungen konterkariere somit die kommunikative Autonomie des Beschuldigten aufs Höchste und sei damit unbestreitbar ein Störfaktor der Verfahrensbalance. Trotz dieses Befundes geht der Verfasser nicht so weit, nun für eine Einstellung dieser Ermittlungspraxis einzutreten. Vielmehr möchte er in einem ersten kleinen Schritt den „Wildwuchs“ eindämmen und zumindest auch die V-Personen autonom neben den verdeckten Ermittlern in der StPO normieren, um so ihre Existenz und Ausgestaltung endlich auf rechtsstaatliche Bahnen zu lenken. Diese Forderung ist nicht neu und wurde zuletzt von der Expertenkommission gestellt, die Justizminister Maas zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens ins Leben gerufen hatte. Allerdings wurde diese Forderung weder im entsprechenden Referenten- noch im Regierungsentwurf aufgegriffen, so dass zumindest in nächster Zukunft eine gesetzliche Fixierung nicht erfolgen wird. Dennoch, so stellt Gerson zutreffend fest, werde die V-Person erst durch die gesetzliche Anerkennung „Rechtsrealität“, „die dann wiederum im Sinne der Verfahrensbalance rekonstruiert werden kann“ (S. 682).

Als positives Beispiel des Versuchs der Stärkung der kommunikativen Autonomie benennt der Autor dann die – aufgrund ihrer praktischen Schwächen immer wieder kritisierte – Verständigung. Nicht übersehen werden dürfe aber, dass es sich bei diesem Instrument um ein genuin konsensuales, d.h. die kommunikative Autonomie förderndes Element der Verfahrensbeendigung handeln könnte, sofern in der Ausgestaltung der Praxis stärker auf die Verfahrensbalance und die kommunikative Beteiligung des Beschuldigten hingewirkt werden würde.

Im letzten Abschnitt des zweiten Teils untersucht Gerson unter der Überschrift „Kommunikative Autonomie im Konflikt mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Schuld“ einige grundlegende „Dogmen“ des Strafverfahrens auf ihre Kohärenz zur Verfahrensbalance und zur kommunikativen Autonomie (S. 683 ff.). Er stellt fest, dass es keine erfahrbare Wahrheit neben der intersubjektiven, kommunikativen Ausprägung gäbe und auch die Ergebnisse der Haupt-verhandlung lediglich Wahrnehmung von der Wahrnehmung, also Resultate eines künstlichen Herstellungsaktes seien. Wahrheit bedürfe es weder für die Genese von Gerechtigkeit, noch zur nachhaltigen Erzeugung von Rechtsfrieden (S. 740). Auch Schuld als zugeschriebene Wirklichkeit zweiter Ordnung sei eine Fiktion, so dass der Streit um den Determinismus des menschlichen Willens müßig sei (S. 765). Hier auf Zuschreibungsprozesse abzustellen, erscheint mir allerdings etwas kurz gegriffen, geht es doch nicht nur um Fiktionen, sondern ebenso um die Feststellung tatsächlich vorhandener Fähigkeiten. Diese zuzuschreiben, ohne dass sie in der Wirklichkeit existieren, würde das Strafverfahren erst recht zu einem autopoietischen System machen, das der Verfasser noch an anderer Stelle kritisiert (S. 47).

Schließlich spricht sich Gerson für kommunikative Modelle der Wahrheit und Schuld aus, die den Prozess der Devianz als ein Infragestellen der Normgeltung verstehen und die Strafzwecke in ihrer Starrheit zu überwinden versuchen. Nur ein kommunikatives Wahrheitsmodell in Kombination mit einem kommunikativen Schuldmodell seien geeignet, die Verfahrensbalance nachhaltig und dauerhaft wiedererstarken zu lassen (S. 765).

Im dritten Teil widmet sich der Verfasser dann Reformvorschlägen zur Verbesserung der Verfahrensbalance durch Stärkung der kommunikativen Autonomie und entwickelt das Recht auf Beschuldigung de lege ferenda (S. 779 ff.). Hierzu entwickelt Gerson einen eigenen Ansatz einer neuen Beschuldigtendefinition, wobei er Anleihen in anderen Ländern und der EMRK zu nehmen versucht. Dabei bestätigt die Auswertung ausländischer Rechtsordnungen, europäischer und menschenrechtlicher Vorgaben, dass der Inkulpationswille ein reines Spezifikum der deutschen StPO darstellt und sich die anderen Rechtsordnungen von jeglicher Form subjektiver Einfärbung des Beschuldigtenbegriffs distanzieren. Daher resümiert Gerson: „Der Eintritt der Beschuldigtenstellung kann und darf nicht von einem (in der Regel zu fingierenden) `Willen´ abhängen“ (S. 813). Praxistauglicher und dogmatisch schlüssiger sei das Abstellen auf die tatsächliche Handlung des Ermittlers bei Vorliegen eines subjektiven Tatverdachts. Dazu möchte Gerson die Definition des Beschuldigten zwar mithilfe des Tatverdachts, jedoch ohne den Inkulpationswillen konstruieren. Neu ist dies nicht, auch Rzepka hat bereits diese Forderung erhoben. Abgestellt werden soll rein tatsächlich auf das Erfordernis einer faktischen Verfolgung, d.h. sobald eine Person verdächtig ist und tatsächlich gegen sie ermittelt wird, ist sie Beschuldigter. Die verdachtsabhängig-faktische Definition des Beschuldigten nach Gerson lautet demnach: „Beschuldigter ist, gegen wen aufgrund eines Tatverdachts ein Strafverfahren geführt wird“ (S. 814). Auch wenn der Verfasser darauf hinweist, dass es jetzt nicht mehr auf den Willen der Ermittlungsbehörden ankommt, so greift dieser Hinweis zumindest in der Hinsicht zu kurz, als dass der Tatverdacht nach wie vor subjektiv von den Ermittlungsbehörden bestimmt wird. Lediglich der nächste Schritt, nämlich das Führen eines Strafverfahrens aufgrund dieses Verdachts ist objektiver Natur. Von daher suggeriert die verdachtsabhängig-faktische Definition etwas, das sie nicht halten kann, nämlich frei von subjektiven Einflüssen zu sein. Das erkennt auch Gerson, sieht aber in der subjektiven Bestimmung keinen Nachteil, weil mit subjektiv empfundenem Verdacht und tatsächlichem Einschreiten des Ermittlers der Verdächtige automatisch in die Beschuldigtenstellung eintrete – also zum frühest möglichen Zeitpunkt, nämlich dem Beginn der ersten Ermittlungsmaßnahme. Die Abgrenzung vom tatverdächtigen Zeugen erfolgt über die konkrete Handlung des Ermittlers. Dadurch könnten auch kritische Grenzfälle gelöst werden, da der Eintritt in die Beschuldigtenstellung automatisiert und von subjektiven Missbrauchselementen befreit würde (S. 822).

Im Anschluss an diese rechtsdogmatische und –theoretische Fundierung des eigenen Ansatzes des Rechts auf Beschuldigung, entwickelt Gerson de lege ferenda einen konkreten Formulierungsvorschlag (S. 823 ff.). In § 157 StPO-E definiert er den Beschuldigten und legt den Zeitpunkt der Beschuldigteneigenschaft und Mitteilungspflichten fest (S. 825). Nach der Legaldefinition folgt eine Beschreibung der unterschiedlichen Rechte, die dem Beschuldigten aufgrund seines Status und seines allgemeinen Rechts auf Beschuldigung erwachsen: das Recht auf Anerkennung des Beschuldigtenstatus, das Recht auf Mitteilung und Registrierung des Beschuldigtenstatus und das Recht auf Beibehaltung und Aktualisierung des Beschuldigtenstatus auch über nationale Grenzen hinweg. Nicht umfasst und ausdrücklich ausgeschlossen wird der hypothetische Anspruch, ein Strafverfahren gegen einen Dritten als Beschuldigten zu betreiben. Das grundlegende Recht auf Beschuldigung als Recht auf Verfahrensbalance wird durch den Passus normiert, dass der Position des Beschuldigten in besonderem Maße unter Wahrung seiner kommunikativen Autonomie Rechnung zu tragen sei. Nach dieser Spezifizierung eines Rechts auf Beschuldigung de lege ferenda erfolgt die Einordnung dieses Rechts in die Grund- und Menschenrechtsdogmatik (S. 835 ff.). Gerson versteht das Recht auf Beschuldigung als ein Rahmenrecht, dass zahlreiche Gleichheitsrechte und Mindestverbürgungen grundrechtlicher, unionaler und menschenrechtlicher Provenienz miteinander kombiniert und funktional verknüpft (S. 853). Das Recht auf Beschuldigung sei ein funktionaler Hebel der Verfahrensbalance, der aufgrund seiner objektiv-rechtlichen Wirkungsmacht die Qualität einer menschenrechtlichen Verbürgung einnimmt (S. 854).

Aus dem Recht auf Beschuldigung fordert Gerson in einem weiteren Schritt auch eine verbesserte Schulung der Polizei und kurzfristige Reformen im Strafverfahrensrecht, um die Verfahrensbalance durch Stärkung der kommunikativen Autonomie zu verbessern (S. 856 ff.). Neben einer Ausweitung der audiovisuellen Dokumentation spricht er sich für eine frühestmögliche anwaltliche Vertretung des Beschuldigten aus. Erster wichtiger Schritt sei eine Stärkung der Verteidigerstellung durch die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers durch das Gericht, wenn  die  Staatsanwaltschaft  dies  nicht  beantragt hat. Diese Forderung ist im Gesetzentwurf zur effektiveren und praxistauglicheren Gestaltung des Strafverfahrens in § 141 StPO-E umgesetzt worden. Des Weiteren plädiert Gerson für die Verankerung des kommunikativen Moments der Verteidiger-Mandanten-Beziehung in § 148 StPO und möchte die Kommunikation zwischen Beschuldigtem und rechtlichem Beistand „in jedem Abschnitt des Verfahren dem größtmöglichen Schutz“ unterstellen (S. 972). Mittelfristig fordert der Verfasser eine Modifikation des Ermittlungs- und des Zwischenverfahrens. Neben einer Hinwendung zum partizipatorischen Verfahren sehen seine angedachten Reformen eine Stärkung der Einzelakteure vor, z.B. durch eine Stärkung der Leitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft. Das immer wieder und vielfach in der Literatur kritisierte Zwischenverfahren möchte Gerson entweder ganz abschaffen oder eine personale Verschiedenheit der zur Entscheidung Berufenen etablieren. In der Hauptverhandlung solle ein kommunikativer Verhandlungsstil präferiert werden, um wahrnehmungspsychologische Verzerrungseffekte zu eliminieren und die Partizipation des Angeklagten durch „Mitsprache“ zu ermöglichen. Als langfristige Optimierung schließt der Verfasser den Kreis zu seinen interdisziplinären Ausführungen und empfiehlt die stete Rückbesinnung auf den „Faktor Mensch“ mit seinen Schwächen und Fehlern.

In einem 4. Teil folgen Schlussbetrachtungen, wobei für jeden Abschnitt der Monografie eine Frage formuliert und einer Antwort zugeführt wird (S. 982 ff.). So wird die Frage nach der Fehlerhaftigkeit der bestehenden Beschuldigtenbegriffe – was nicht verwundert – ebenso bejaht wie die beschränkte menschliche Wahrnehmungsfähigkeit mit Blick auf Wahrnehmungsfehlinterpretationen und Wahrnehmungsverzerrungen. Die kommunikative Autonomie dagegen sei kein Ideal und müsse als vergessenes Faktum nicht erfunden, sondern gefunden werden. Auf die Frage, ob die von Gerson entwickelte neue Definition des Beschuldigten alle Probleme löse, ist der Autor ehrlich und verneint sie, nennt die Definition allerdings einen Schritt in die richtige Richtung, da sie Unschärfen bisheriger Konzeptionen vermeide.

Der Input, den diese Dissertation liefert, ist immens, was nicht nur diese lange Rezension deutlich macht. Die Dissertation ist innovativ und rechtspolitisch interessant, auch wenn diverse Forderungen nicht neu sind. Neu ist der Kontext, in dem diese Forderungen stehen, der Entwicklung des Rechts auf Beschuldigung, die dogmatische, grundrechtliche Einbettung und die Anleihen aus anderen Disziplinen, die die Grundlegungen der Arbeit untermauern. So erhält der Leser viele neue Denkanstöße und wird durch zahlreiche Verweise auf Aufsätze und Bücher motiviert, sein Spektrum zu erweitern. Die Literatur, die Gerson für seine Arbeit rezipiert hat, nimmt – kleingedruckt – fast 80 Seiten ein. Eine Fußnote führt zur nächsten und der Autor zeigt – gerade in interdisziplinärer Hinsicht – viele schwarze Löcher auf, die es auch in Zukunft zu erhellen gilt.

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