Rebekka Popadiuk: Der Abrechnungsbetrug im GOÄ-Liquidationsbereich

von Dr. Kerstin Stirner

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2016, Verlag Dr. Kovač, Hamburg, ISBN: 978-3-8300-9068-7, S. 201, Euro 88,90.

Das Gesundheitswesen gehört zu den bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren in unserer Gesellschaft. Nicht überraschend ist daher, dass sich Straftaten im Gesundheitswesen längst nicht mehr im Bereich der klassischen Körperverletzungs- und Tötungsdelikte bewegen, sondern in jüngerer Vergangenheit zunehmend Bedeutung im Wirtschaftsstrafrecht gewonnen haben. Der ärztliche Abrechnungsbetrug nimmt hierbei einen nicht unbeachtlichen Anteil ein. Lange hatten sich die Gerichte allerdings nur mit dem vertragsärztlichen Abrechnungsbetrug zu befassen. Erst mit der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 25.01.2012 (BGH, NJW 2012, 1377) ist auch der privatärztliche Abrechnungsbetrug in den Fokus von Rspr. und Lit. gerückt. Dieses Thema greift Rebekka Popadiuk in ihrer vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier 2016 als Dissertation angenommenen und von Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Heiner Kühne betreuten Arbeit auf.

I. Popadiuk hat ihr Werk in sechs Kapitel unterteilt. Nach einer Einleitung, die dem Leser einen Überblick über den Gang der Untersuchung verschafft, bespricht sie im anschließenden Kapitel die Grundlagen des privatärztlichen Abrechnungssystems, wobei insbesondere das Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient und das daran anknüpfende Vergütungssystem hervorgehoben werden (S. 7 ff.). Dieser wesentliche Unterschied zum gesetzlichen Krankenversicherungssystem hat zur Folge, dass Geschädigter des privatärztlichen Abrechnungsbetrugs in der Regel der Patient und nicht – wie im vertragsärztlichen Bereich – die Krankenversicherung ist. Bei der Darstellung des GOÄ-Liquidationssystems geht Popadiuk insbesondere auf das Gebot der persönlichen Leistungserbringung ein (S. 12 ff.) und macht damit zugleich kenntlich, dass die strafrechtliche Bewertung fehlerhaften Abrechnungsverhaltens im Folgenden auf Fälle beschränkt wird, in denen die persönliche Leistungserbringung im Sinne von § 4 Abs. 2 GOÄ zweifelhaft ist. Die Verfasserin konzentriert sich dabei auf die in jüngerer Vergangenheit vielfach diskutierten Fälle der Abrechnung von Wahlleistungen, der Abrechnung von Laborleistungen und der Abrechnungen von Leistungen innerhalb einer Chefarztambulanz.

Die Autorin beschreibt zunächst die aus § 4 Abs. 2 GOÄ resultierende Pflicht des Privatarztes, Gebühren nur für selbständige ärztliche Leistungen zu berechnen, die er selbst  erbracht  hat  oder  die  unter  seiner  Aufsicht  nach fachlicher Weisung erbracht wurden (eigene Leistungen). Hierbei geht sie ausführlich auf die Möglichkeiten der Delegation von Behandlungsleistungen an ärztliches und nichtärztliches Personal ein und gelangt zu dem zutreffenden Ergebnis, dass sog. Kernleistungen nicht delegierbar sind. Es sei aber unklar, welche Leistungen im Einzelfall zu den nicht delegierbaren Kernleistungen gehören (S. 22).

Weiter thematisiert die Verfasserin die Möglichkeiten der Stellvertretung bei der Erbringung ärztlicher Behandlungsleistungen und stellt dabei heraus, dass eine Stellvertretung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sowohl in Form einer formularmäßigen als auch in Form einer individuellen Vereinbarung zulässig ist (S. 34 ff.). Stellung nimmt Popadiuk dabei auch zu der von der höchstrichterlichen Rspr. bislang noch nicht entschiedenen Frage nach der Anzahl der in einer Stellvertretervereinbarung zu benennenden ständigen ärztlichen Vertreter (S. 36 ff.). In Übereinstimmung mit dem OLG Celle (Urteil v. 15.06.2015 – 1 U 97/14) gelangt sie zu dem Ergebnis, dass die Anzahl nicht auf eine Person beschränkt, sondern dies nach den Gegebenheiten im jeweiligen Krankenhaus zu beurteilen sei. In diesem Zusammenhang wird ferner die Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung im Rahmen der Chefarztambulanz thematisiert (S. 41 ff.). Mit Dahm (MedR 2012, 367) sowie weiteren Stimmen im Schrifttum (so auch Stirner, Der privatärztliche Abrechnungsbetrug (2015), S. 111 ff.) äußert die Verfasserin zutreffend Kritik an der Entscheidung des OLG Frankfurt a. M. (MedR 2012, 396).

Diesem Abschnitt schließen sich umfassende Ausführungen zur Pflicht der persönlichen Leistungserbringung bei der Abrechnung von Laborleistungen an (S. 47 ff.). Dabei gelangt die Autorin zu dem Ergebnis, dass der liquidierende Arzt lediglich im Anschluss an die Erstellung der Analyse zur persönlichen Validierung der Ergebnisse im Labor anwesend sein müsse (S. 54 ff.).

II. Das nächste Kapitel, der Hauptteil der Arbeit, befasst sich mit den strafrechtlichen Folgen von Verstößen gegen § 4 Abs. 2 GOÄ. Popadiuk subsumiert in diesem Kapitel die zuvor herausgearbeiteten Fälle fehlerhafter Abrechnungen unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 263 StGB (S. 57 ff.).

Im Rahmen des objektiven Tatbestands erfolgt zunächst eine Erörterung des Täuschungsmerkmals (S. 59 ff.). Zutreffend stellt Popadiuk heraus, dass die Einordnung von Abrechnungen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 2 GOÄ als Täuschung über Tatsachen umstritten ist. Angesichts der Auslegungsbedürftigkeit von § 4 Abs. 2 GOÄ und des damit einhergehenden weiten Interpretationsspielraums für die abrechnenden Ärzte wird im Schrifttum vielfach vertreten, dass sich eine fehlerhafte Abrechnung regelmäßig als straflose Kundgabe einer Rechtsmeinung darstelle (vgl. etwa Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695, 698; Mahler, wistra 2013, 44, 45). Dies jedenfalls dann, wenn die Abrechnung auf einem zumindest im Ansatz vertretbaren Auslegungsergebnis beruhe (so Dann, in: AG Medizinrecht im DAV/IMR, Brennpunkte des Arztstrafrechts, 31, 33; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 1138 ff.) Dieser Auffassung hält die Verfasserin eine Entscheidung des BGH vom 09.06.2009 (BGH, NStZ 2009, 506) entgegen. Der 5. Strafsenat hielt darin fest, dass eine Täuschung über Tatsachen auch dann vorliege, wenn sich aus einer Rechnung unmittelbar keine falsche Tatsachenbehauptung ergebe. Da sich der Inhalt einer Erklärung nach dem Empfängerhorizont richte, werde konkludent miterklärt, dass die der Rechnung zugrunde liegenden Tarife unter Beachtung der geltenden Rechtsvorschriften ermittelt wurden und sie mithin auf einer zutreffenden Bemessungsgrundlage beruhen würden. Unberücksichtigt bleibt allerdings, dass dem vom 5. Strafsenat entschiedenen Fall ein Sachverhalt zugrunde lag, in welchem die fehlerhafte Abrechnung nicht auf der falschen Auslegung einer auslegungsbedürftigen Norm, sondern auf einer manipulativen Bildung der Bemessungsgrundlage beruhte. In Fällen, in denen das Gesetz eine unmissverständliche Abrechnungsgrundlage enthält, entspricht deren „richtige“ Anwendung dem objektiven Empfängerhorizont. Lässt eine Norm aber mehrere vertretbare Auslegungsergebnisse zu, kann allenfalls erwartet werden, dass derjenige, der seinen Anspruch darauf stützt, eine dieser Auslegungsergebnisse schlüssig behauptet, nicht aber, dass er ein bestimmtes Auslegungsergebnis, insbesondere nicht das von der h. M., vertritt (vgl. Lindemann, NZWiSt 2012, 334, 336).  Popadiuk ist insoweit jedoch zuzugestehen, dass sie sich mit ihrem Ergebnis auf einer Linie mit dem 1. Strafsenat bewegt, der – allerdings ohne Auseinandersetzung mit den Argumenten des Schrifttums – bei einer Abrechnung unter Verstoß gegen § 4 Abs. 2 GOÄ von einer Täuschung über Tatsachen ausgeht (BGH, NJW 2012, 1377, 1379).

Die Autorin befasst sich sodann mit der Frage, ob durch eine Abrechnung unter Verstoß gegen § 4 Abs. 2 GOÄ ein Irrtum beim Patienten erregt wird (S. 69 ff.). Zutreffend bemerkt sie, dass Patienten mangels medizinischer und juristischer Vorbildung in der Regel nicht beurteilen können, ob die Abrechnungsvorschriften der GOÄ eingehalten wurden. Unter Zugrundelegung der Rechtsfigur des sachgedanklichen Mitbewusstseins gelangt Popadiuk zu dem Ergebnis, dass ein Irrtum des Patienten zu bejahen sei. Der Annahme eines Irrtums stehe nicht entgegen, dass dem Patienten die gebührenrechtlichen Einzelheiten der Rechnung völlig unbekannt seien (S. 74 f.). Diese Auffassung entspricht zwar der Rspr. des BGH (so BGH,         NJW 2012, 1377, 1382), unberücksichtigt bleibt aber, dass die regelmäßige Unkenntnis der Patienten von den Abrechnungsvorschriften und die damit einhergehende fehlende Prüfungsmöglichkeit einen erheblichen Unterschied zu den üblichen Anwendungsfällen des sachgedanklichen Mitbewusstseins darstellt.

Zutreffend setzt sich Popadiuk sodann unter Einbeziehung der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 25.1.2012 (BGH, NJW 2012, 1377) mit dem Eintritt eines Vermögensschadens als „Kern der Diskussion einer Strafbarkeit wegen Abrechnungsbetruges im GOÄ Liquidationsbereich“ auseinander (S. 76 ff.). Dabei geht sie zunächst auf die Anwendung der streng formalen Betrachtungsweise im Bereich des vertragsärztlichen Abrechnungsbetrugs ein, wonach eine Leistung insgesamt nicht erstattungsfähig sei, wenn sie auch nur in Teilbereichen nicht den gestellten Anforderungen genüge. Daran knüpft konsequent die Frage an, ob die streng formale Betrachtungsweise auf den Bereich der Privatliquidation zu übertragen sei. Dies verneint die Verfasserin im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der Entscheidung des 1. Strafsenats. Gegen die darin liegende Normativierung des Schadensbegriffs spreche insbesondere der Untreue-Beschluss des BVerfG (wistra 2010, 380). Für die Fälle fehlerhafter Abrechnungen von Speziallabor- und wahlärztlichen Leistungen komme es hierauf aber letztlich nicht an, da der Eintritt eines Vermögensschadens auch ohne Übertragung der streng formalen Betrachtungsweise selbst bei medizinisch indizierten und lege artis erbrachten Behandlungsleistungen zu bejahen sei, sofern ein (formaler) Verstoß gegen den Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung vorliege. Eine im Rahmen der Gesamtsaldierung vorzunehmende Kompensation durch die erbrachten Leistungen komme in beiden Fällen nicht in Betracht: im Falle der fehlerhaften Abrechnung von Speziallaborleistungen nicht, da „das Opfer den Gegenwert von dritter Seite“ erhalte (S. 85); im Falle der fehlerhaften Abrechnung wahlärztlicher Leistungen nicht, da sich Leistung und Gegenleistung des Arztzusatzvertrages bei Missachtung der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung nicht ausgleichend gegenüber stehen würden (S. 89 ff.).

III. Im vierten Kapitel bespricht die Autorin strafrechtlich relevante Sachverhalte bei Einschaltung privatärztlicher Verrechnungsstellen (S. 141 ff.). Angesichts der zunehmenden Auslagerung der Rechnungslegung auf private Verrechnungsstellen wird dieses Thema voraussichtlich an Relevanz gewinnen. Neben den von der Verfasserin aufgeworfenen Problemen wird sich hier insbesondere die Frage nach persönlichen Verantwortlichkeiten stellen.

IV. Im letzten Kapitel ihrer Arbeit schlägt Popadiuk unter Zugrundelegung ihrer vorangegangenen strafrechtlichen Würdigung die Einführung eines Straftatbestands des Abrechnungsbetrugs (§ 263b StGB) vor (S. 147 ff.). Ein solcher sei erforderlich, um die Nachweisschwierigkeiten zu beseitigen, die derzeit im Hinblick auf den Betrugstatbestand bestünden. Anlehnen will die Verfasserin den neu zu schaffenden Straftatbestand an den des Subventionsbetrugs, der vom Gesetzgeber aus vergleichbaren Gründen geschaffen worden sei.

Unberücksichtigt bleibt hierbei indes, dass der Grund für die häufig anzunehmende Straflosigkeit fehlerhafter Abrechnungen im privatärztlichen Bereich weniger in Nachweisschwierigkeiten als vielmehr in Auslegungsschwierigkeiten der anzuwendenden Abrechnungsvorschriften besteht. Diese werden mit dem Entwurf der Verfasserin lediglich von der GOÄ auf das StGB verlagert, das eigentliche Problem hierdurch aber nicht beseitigt. Tatsächlich strafwürdiges Verhalten, so etwa bei der Abrechnung von Luftleistungen oder bewussten Verstößen gegen Abrechnungsvorschriften, wird bereits jetzt von § 263 StGB erfasst. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ultima-ratio-Gedankens  des  Strafrechts  erscheint  das Erfordernis der Einführung eines Straftatbestands des Abrechnungsbetrugs zum Zwecke der Ahndung fehlerhafter Anwendung von Abrechnungsvorschriften insoweit zweifelhaft.

V. Popadiuk geht in ihrer Arbeit auf die wesentlichen Probleme im Bereich des privatärztlichen Abrechnungsbetrugs ein. Die Befassung mit diesen erfolgt allerdings zum Teil oberflächlich und auch die einschlägige Literatur wird nicht vollständig berücksichtigt. Gleichwohl ist das Werk geeignet, jedenfalls einen ersten Überblick über die grundlegenden Probleme in diesem Bereich zu verschaffen.

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