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Integrität des Sports – Konkretisierung eines Begriffs – Kommentar zum Beitrag von Prof. Dr. Carsten Momsen

von Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel

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I. Einleitung

1. Die Fragestellung

Der Frage, was die „neuen Tatbestände“ schützen sollen, kann man sich auf zweifache Weise nähern: Man kann induktiv vorgehen und nach dem – mutmaßlichen – Willen des Gesetzgebers bzw. dem Ziel des von ihm geschaffenen Gesetzes fragen oder deduktiv anhand gesetzesexterner Kriterien – die häufig unter dem Label „Rechtsgut“ firmieren – ausführen, was die Tatbestände schützen sollten.

2. Wege zu einer Antwort

Im Folgenden wird der erste, induktive Weg beschritten, dies nicht nur aus Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, sondern auch deshalb, weil es einen auch nur einigermaßen klar konturierten Rechtsgutsbegriff nicht gibt, wie die Referate von Engländer und Kudlich auf der Augsburger Strafrechtslehrertagung gezeigt haben[1] und wie auch auf unserer letztjährigen (ersten) Sitzung des Kriminalpolitischen Kreises deutlich geworden ist.[2] So haben bezeichnenderweise diejenigen, die den Rechtsgutsbegriff zuletzt verteidigt haben, in ihm keinen feststehenden Begriff erblickt, sondern einen Platzhalter für kriminalpolitische Strafwürdigkeitsdiskurse, einen „space of reason“, wie Kudlich das treffend genannt hat.[3] Als Platzhalter bezeichnet das Rechtsgut lediglich einen Ort, an dem über das Für und Wider einer Kriminalisierung diskutiert wird, aber keinen feststehenden Begriff, der diesen Diskurs anleiten oder gar ersetzen könnte. Dies zu Recht: Denn auch die zur Konkretisierung des Rechtsguts üblicherweise verwendeten Begriffe – Wert, Interesse, subjektives Recht – sind von stupender Allgemeinheit,[4] ebenso wie der häufig anzutreffende Satz, das Strafrecht habe dem Schutz der Freiheit zu dienen. Neu ist diese Erkenntnis übrigens nicht, sie ist nur jahrzehntelang erfolgreich verdrängt worden. Schon 1886 prägte der große von Liszt die Wendung vom Rechtsgut als „Proteus“, der bald diese, bald jene Gestalt annehme,[5] Hans Welzel wiederholte sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts.[6] Und inzwischen nimmt selbst Schünemann, der entschiedenste Verteidiger der Rechtsgüterschutzlehre, an, dass der wissenschaftliche Rechtsgutsbegriff nicht feststeht, sondern ausgehend von einem anhand der Tatbestände zum Schutz von Leib, Leben und Freiheit Kern zu entwickeln sei; damit nähert er sich der Position an, der zufolge das Strafrecht die personale Freiheit und deren Voraussetzungen zu schützen habe.[7]

3. Struktur der folgenden Überlegungen

Angesichts dieser begrifflichen Vagheit drängt es sich nicht auf, dem Gesetzgeber mit einem scheinbar vorgefertigten Rechtsgutsbegriff gegenüberzutreten und dessen Verbindlichkeit für den Gesetzgeber zu behaupten. Stattdessen soll zunächst gefragt werden, welches Ziel der Gesetzgeber bzw. die von ihm geschaffenen §§ 265c, 265d StGB verfolgen (II.). Sodann soll diese Zielsetzung präzisiert werden (III.).

II. Zweck des Gesetzes und Aufgabe der Strafrechtswissenschaft

Der Gesetzesbegründung zufolge schützen die §§ 265c, 265d StGB die Integrität des Sports und das Vermögen. In welcher Reihen- bzw. Rangfolge ist streitig. Manche halten die Ziele für gleichwertig, andere sehen einen Vorrang des Integritätsschutzes, wiederum andere lehnen den Integritätsschutz gänzlich ab.[8] Das Rangverhältnis soll hier nicht näher untersucht werden, da dieses von der Vorentscheidung abhängt, ob der Staat die Integrität des Sports überhaupt mit dem Mittel des Strafrechts schützen darf.[9]

Ohne Zweifel: Die Wendung „Integrität des Sports“ ist nicht sehr präzise, jedoch lässt sie sich konkretisieren. Meines Erachtens besteht genau darin die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft: das Ziel des Gesetzes exakter zu formulieren, den Gesetzgeber also besser zu verstehen als dieser sich selbst verstanden hat. Demgegenüber sehe ich die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft nicht darin, mit Verweis auf die Interpretationsbedürftigkeit der Formel „Integrität des Sports“ den Tatbeständen ein legitimes „Rechtsgut“ abzusprechen und dann die Akte zu schließen. Wer käme schon auf die Idee, dem Vermögen, trotz der erheblichen konzeptionellen Probleme des strafrechtlichen Vermögensbegriffs und seiner großen Randunschärfen, die Schutzwürdigkeit abzusprechen?

III. Der institutionalisierte Sport und seine Schutzwürdigkeit

Der erste Konkretisierungsschritt ist leicht zu gehen: Die §§ 265c, 265d StGB schützen nicht den Sport schlechthin, nicht jede Art der sportlichen Betätigung, sondern nur Wettbewerbe des verbandsmäßig organisierten Sports, d.h. Wettbewerbe des Sports als einer gesellschaftlich verfestigten Institution. Diese Institution ist aus wirtschaftlichen und ideellen Gründen schutzwürdig.[10]

In ökonomischer Hinsicht ist der Sport seit langem mit anderen großen Wirtschaftszweigen (Fahrzeugbau, Mineralölwirtschaft, Landwirtschaft) vergleichbar.[11] Einer auf das Jahr 2008 bezogenen wissenschaftlichen Studie zufolge erreicht die sportbezogene Bruttowertschöpfung eine Gesamthöhe von knapp 73,1 Mrd. EUR, was einem  Anteil von 3,3% der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung entspricht.[12]

Weitaus wichtiger als diese ökonomische Dimension ist die gesellschaftliche Bedeutung des organisierten Sports. Der Sport bietet Spielern und Zuschauern die in modernen Gesellschaften seltene Möglichkeit einer Gemeinschaftsbildung durch geteilte Erlebnisse, Emotionen und Erinnerungen.[13] Er nivelliert dabei Standes- und Statusunterschiede, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen relevant sind, und erfüllt auf diese Weise eine Integrationsaufgabe, die in einer individualisierten, pluralistischen Gesellschaft von nicht zu überschätzendem Wert ist.[14] Es dürfte jedenfalls in den (säkularen) Ländern der Europäischen Union kaum ein anderes Thema geben, das von Woche zu Woche, Turnier zu Turnier eine derart hohe und breite Gesellschaftskreise erfassende Aufmerksamkeit erfährt wie der Spitzensport. Mit der Einführung und Ausweitung der UEFA Champions League und der UEFA Europa League eröffnet der Profifußball sogar einen paneuropäischen Diskursraum, dessen Bedeutung und Integrationskraft von anderen europäischen Institutionen nicht einmal im Ansatz erreicht wird. Darüber hinaus übt der Sport eine Repräsentations- bzw. Vorbildfunktion aus, indem er die tragenden Prinzipien unserer Gesellschaft – Gleichheit, Freiheit, Wettbewerb, Fairness – in einer Weise abbildet, die für breite Bevölkerungskreise nachvollziehbar und anschlussfähig ist.[15] Schließlich erbringt der in Vereinen ausgeübte Sport eine Sozialisationsleistung, weil er Kinder, Jugendliche, aber auch Sport treibende Erwachsene in einen regelgeleiteten und wertebasierten Leistungswettbewerb einübt.[16]

All diese Funktionen des Sports sind keine Hirngespinste des Gesetzgebers, sondern sportsoziologisch bekannt.[17] Eine weitere Aufgabe für die Strafrechtswissenschaft liegt übrigens darin, die Bedeutung der Institution Sport und ihre Funktionsbedingungen zu analysieren und die soziologischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zu rezipieren. Wie oft wird eine Hinwendung der Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften postuliert oder eine stärkere Berücksichtigung der Empirie angemahnt? Hier könnte die Strafrechtswissenschaft zeigen, dass sie ihre eigenen Forderungen ernst nimmt!

Die beschriebenen Leistungen des Sports kann ein nur in Privatinitiative betriebenes Freizeitvergnügen nicht in gleicher Weise entfalten; dazu ist allein der organisierte, der institutionalisierte Sport in der Lage. Ihn unterstützt der Staat mit jährlich rund zwei Milliarden Euro.[18] Unbestritten ist in der verfassungsrechtlichen Literatur auch, dass die Förderung des Sports eine Staatsaufgabe ist.[19] Wenn der Staat den institutionalisierten Sport aber sogar fördern soll, dann kann es nicht illegitim sein, ihn gegen Angriffe zu schützen. Und eben darum geht es: Die §§ 265c, 265d StGB kriminalisieren den sportwettbewerbsfremden Tausch von Vorteilen einerseits und Verzerrungen des Spiels bzw. Spielverlaufs. Pönalisiert wird nicht der bloße Regelverstoß, also: das Foulspiel, obwohl selbst dies nicht ausgeschlossen ist, da ein Foul auch eine Körperverletzung sein kann. Pönalisiert wird vielmehr eine Regelverletzung, die aus einem Tausch mit einem (in Aussicht gestellten) sportwettbewerbsfremden Vorteil hervorgeht bzw. hervorgehen soll. Insofern erfolgt der Angriff auf die Institution zwar („räumlich“ betrachtet) von innen, seinem Sinngehalt nach handelt es sich aber um einen externen Angriff, da sich das Unrecht nicht in der Verletzung einer Sportregel erschöpft.

IV. Konkretisierung des Begriffs „Integrität“

Gegen die Straftatbestände bzw. die Schutzwürdigkeit des Sports lässt sich nicht einwenden, dass die Integrität ein (zu) vages Gut sei.[20] Dies verkennt nämlich, dass die §§ 265c, 265d StGB ebenso wenig wie alle anderen Straftatbestände einen absoluten, umfassenden Integritätsschutz anstreben. Vielmehr sichern sie die für den Sport grundlegenden Spiel-, genauer: Wettbewerbsregeln gegen eine korruptive Umgehung ab. Diese Wettbewerbsregeln sind auch nicht vage, sondern im Gegenteil häufig präziser als die nicht nur in Randbereichen fließenden, informellen Verhaltensnormen, auf welche anerkannte Tatbestände wie §§ 223, 222 StGB Bezug nehmen. Die Wettbewerbsregeln des Sports haben keinen bloß „moralischen Anspruch“,[21] sondern sind für die Sportler konkret handlungsleitend und für den Sport als Institution schlechterdings konstitutiv. Wer diese Wettbewerbsregeln im Wege der Korruption aushebelt, benachteiligt nicht nur andere Spieler, sondern unterminiert die regelbasierte Sportart als Institution.

Insgesamt verfolgen die §§ 265c, 265d StGB damit ein verfassungsrechtlich zulässiges und rechtspolitisch nachvollziehbares Ziel: Sie sollen den wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutung schutzwürdigen institutionalisierten Sport vor einer korruptiven Beeinflussung der für die in Rede stehende Sportart konstitutiven Wettbewerbsbedingungen und -regeln schützen. Integrität ist also nicht als allgemeine Anständigkeit und Ehrlichkeit zu verstehen, sondern institutionenökonomisch als „integrity“, als Handeln, das in Einklang mit den Organisationsprinzipien und -regeln einer Institution steht und diese nicht pervertiert.[22]

Ein so verstandener Schutz der Integrität des (institutionalisierten) Sports ist es, was die neuen Tatbestände leisten „sollen“. Der Schutz der Vermögensinteressen von Wettanbietern und anderen Wettern (§ 265c StGB) bzw. von anderen Sportlern, Mannschaften und Vereinen (§ 265d StGB) ist demgegenüber von deutlich untergeordneter Bedeutung.

 

[1]      Engländer, ZStW 127 (2015), 616 ff.; Kudlich, ZStW 127 (2015), 635 ff.
[2]      Stuckenberg, ZStW 129 (2017), 349 ff.
[3]      So Kudlich, ZStW 127 (2015), 635 (651); Martins, ZStW 125 (2013), 234 (248). S. bereits Vogel, in: Festschrift für Roxin, 2001, S. 105 (114). Dazu und zum Folgenden näher Kubiciel, JZ 2018 (im Erscheinen).
[4]      Zur Offenheit Jakobs, Rechtsgüterschutz, 2012, S. 15 f.: „chamäleonhafte Wandelbarkeit“. S. ferner Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2012, S. 51 ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 130 f.; Stuckenberg, ZStW 129 (2017), 349 (357).
[5]      Wiederabgedruckt in von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, 1970, S. 224.
[6]      Welzel, Strafrechtliche Abhandlungen, 1972, S. 94 f., 130 ff.
[7]      Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 Rn. 7; Schünemann, ZIS 2016, 654 (662).
[8]      S. dazu (mit weiteren Nachweisen) Krack, wistra 2017, 289; Rübenstahl, JR 2017, 265 (268); Bittmann/Rübenstahl/Nuzinger, in: BeckOK-StGB, 35. Edition (1.8.2017), § 265c Rn. 8 ff.; sowie die Beiträge von Kubiciel und Tsambikakis, in: Hoven/Kubiciel (Hrsg.), Korruption im Sport, 2018, S. 37 ff., 61.
[9]      Krit. Krack, ZIS 2016, 540 (544 ff.); Reinhart, SpuRt 2016, 235 (237 f.); Rübenstahl, JR 2016, 264 (268); Satzger, Jura 2016, 1142 (1153); Swoboda/Bohn, JuS 2016, 686 (689); affirmativ hingegen Cherkeh/Momsen, NJW 2001, 1745 (1747 f.); König, SpuRt 2010, 106 (107); Kubiciel, WiJ 2016, 256 (261 ff.); Rössner, in: FS Mehle, 2009, S. 567 (573).
[10]    Die nachfolgenden Passagen führen frühere Überlegungen weiter, s. Kubiciel, WiJ 2016, 256 ff. Daran zweifelt Jansen, GA 2017, 600 (603 ff.), die den Sport gesellschaftlich für entbehrlich hält.
[11]    Dazu und zum Folgenden Heilemann, Bestechlichkeit und Bestechung im sportlichen Wettbewerb als eigenständiger Straftatbestand, 2014, S. 25 f., 59 f.; s. ferner Hutz/Kaiser, NZWiSt 2013, 379 (382); Pieth/Zerbes, ZIS 2016, 619; Satzger, Jura 2016, 1142.
[12]    Ahlert, Die wirtschaftliche Bedeutung des Sports in Deutschland, GWS Research Report 2013/2, S. 27.
[13]    Schild, Jura 1982, 464 (470 f.).
[14]    A.a.O., S. 468.
[15]    BT-Drs. 18/8831, S. 8; umfassend dazu Schild, Jura 1982, 464 (468, 471); Steiner, Gegenwartsfragen des Sportrechts, 2004, S. 241 f.
[16]    Rössner/Adolphsen, in: Adolphsen/Nolte/Lehner/Gerlinger (Hrsg.), Sportrecht in der Praxis, 2012, Rn. 1.
[17]    Weis, in: Winkler (Hrsg.) Soziologie des Sports, 1995, S. 127 (130 ff.).
[18]    Umfassend zur (finanziellen) Sportförderung durch den Bund 13. Sportbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 18/3523, passim. Auf S. 21 wird für den Zeitraum 2010-2013 eine Gesamtförderung in Höhe von mehr als 6 Mrd. EUR ausgewiesen.
[19]    Steiner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, 3. Aufl. (2006), § 87 Rn. 3.
[20]    Feltes/Kabuth, NK 2017, 91 (92); Kudlich, SpuRt 2010, 108 f.; Rübenstahl, JR 2016, 264 (268); a.A. Kubiciel, SpurRt 2017, 188 (189).
[21]    So Feltes/Kabuth, NK 2017, 91 (92).
[22]    Vgl. Aleem/Brooks/Button, Fraud, Corruption and Sport, 2013, S. 55.

 

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