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Die erkennbare Willensbarriere gem. § 177 Abs. 1 StGB

von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch 

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Abstract
Mit der Implementierung der kryptischen „Nein heißt Nein“-Formel[1] im neuen § 177 Abs. 1 StGB hat die Gesetzgebung die Strafbarkeit aufgedrängter Sexualität erweitert. In die Rolle des tatbestandsmäßig angegriffenen Opfers gedrängt zu werden setzt keine Nötigung mehr voraus.[2] Strafbar ist bereits jeder sexuelle Übergriff gegen den erkennbaren Willen der betroffenen Person. Dieser neue Maßstab für die Bewertung unerwünschter Sexualhandlungen als Straftat bewahrt den fachlich Interessierten nicht vor Verständnis- und Auslegungsproblemen. Wer – wie der Verfasser – das Interesse theoretisierend in der behaglichen Atmosphäre des universitären Dienstzimmers oder der heimischen Gelehrtenstube ausleben kann, dem hat der Gesetzgeber damit eine Freude bereitet. Praktiker, die an der Front der Strafrechtsanwendung mit der Festlegung des subsumtionsrelevanten Norminhalts und der prozessrechtskonformen Feststellung der zu subsumierenden Tatsachen betraut sind, werden weniger begeistert sein.[3] Enttäuschung bereitet das Gesetz möglicherweise sogar denjenigen, die sich eine spürbare Ausdehnung des Strafrechts und einen korrespondierenden Zuwachs an Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts[4] erhofft haben.[5] Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass nach Ansicht des Verfassers die neue Strafbarkeitsregelung Ungereimtheiten enthält, deren Effekt auf die Reichweite des Strafrechtsschutzes gegen sexuelle Übergriffe ein strafbarkeitseinschränkender ist.

I. Einführung

Schon vor der Umgestaltung des Sexualstrafrechts durch das 50. StÄG[6] war ein straftatbestandsmäßiger Angriff auf die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung notwendig mit der Überwindung einer Willensbarriere oder der Ausnutzung schwächebedingten Fehlens einer solchen Barriere verbunden. Strafbar war nur der Täter, der entweder das Opfer mit qualifizierten Mitteln genötigt (§ 177 StGB) oder des Opfers konstitutionsbedingte Widerstandsunfähigkeit ausgenutzt hatte (§ 179 StGB). Wer mit dem sexuellen Geschehen wirklich einverstanden ist, braucht vom Täter nicht genötigt zu werden und wird es auch nicht.  Die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers ist bei Tatbeständen mit Nötigungskomponente – so auch bei § 177 StGB a.F.[7] – tatbestandsausschließendes Einverständnis.[8] Erschleichen eines Einverständnisses durch Täuschung begründete keine Strafbarkeit aus § 177 StGB.[9] Da auch krankheits- oder behinderungsbedingt sowie körperlich widerstandsunfähige Menschen ein Recht auf ein Sexualleben haben, müssen sie Sexualpartner haben können, die sich durch ihr Handeln nicht strafbar machen. Strafbarkeit aus § 177 StGB oder § 179 StGB konnte also dadurch ausgeschlossen werden, dass der Wille der betroffenen Person – bzw. im Fall der Einwilligungsunfähigkeit ein normatives Willensäquivalent[10] – nicht entgegenstand. Gab es eine solche Zustimmung nicht und wurde der Willenswiderstand durch Nötigung gebrochen, lag eine strafbare Verletzung der negativen sexuellen Selbstbestimmung vor. Dabei war es nicht Voraussetzung, dass der entgegenstehende Wille irgendwie explizit oder konkludent geäußert wurde. Auch auf Erkennbarkeit für den Täter oder Dritte kam es nicht an. Unkenntnis des Nichteinverstandenseins als solche gab und gibt es nicht, allenfalls die irrige Annahme eines Einverständnisses. Diese kann als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum Einfluss auf die Strafbarkeit haben, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[11]

Nach jetzt geltendem Recht kommt es auf einen „erkennbaren Willen“ der betroffenen Person an und zwar auch dann, wenn der Täter die willensbrechenden Mittel einsetzt,[12] die nach altem Recht den Tatbestand der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB a.F.) erfüllten: § 177 Abs. 5 StGB n.F.[13] Daraus entsteht zwangsläufig die Frage, welche strafrechtliche Bedeutung ein zwar vorhandener, aber nicht erkennbarer entgegenstehender Wille hat. Hinzu kommen Probleme der denkbaren verschiedenen (Fehl-)Vorstellungen des Täters in Bezug auf den Willen und seine Erkennbarkeit. Insgesamt lassen sich zahlreiche Fälle bilden, in denen die Elemente Wille, Erkennbarkeit und Tätervorstellung unterschiedlich in Erscheinung treten und zudem unterschiedlich miteinander kombiniert sind (z.B.: Wille ist nicht erkennbar, Täter kennt ihn gleichwohl; Wille ist erkennbar, Täter hat aber weder vom Willen noch von seiner Erkennbarkeit Kenntnis). Die Herausforderungen an die Strafrechtsdogmatik sind also vielfältig und nicht einfach. Den Gepflogenheiten des Gesetzgebungsverfahrens sind dogmatische Glasperlenspielereien jedoch eher fremd. Deshalb kommen manchmal Gesetze zustande, denen man ansieht, dass ihre Schöpfer nicht alle mehr oder weniger realitätsnahen Konstellationen durchdacht haben. Was man alles bedenken könnte und in die Normgestaltung einfließen lassen sollte, wird dann erst nach und nach sichtbar, während das Gesetz schon lange in Geltung ist. Im Folgenden soll untersucht werden, in welchem Umfang dies auf den neuen § 177 StGB zutrifft.

II. Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 177 Abs. 1 StGB – Überblick

1. Objektiver Tatbestand

a) Entgegenstehender Wille

Aus dem Gesetzestext geht deutlich hervor, dass zum objektiven Tatbestand ein tatsächlicher Wille der betroffenen Person gehört, der die vom Täter selbst vorgenommenen oder veranlassten sexuellen Handlungen ablehnt.[14] Auf der Opferseite ist also mehr erforderlich als das Fehlen eines Einverständnisses. Nicht ausreichend ist somit eine Tatsituation, in der die betroffene Person überhaupt keine aktuelle voluntative Einstellung zu dem Tatgeschehen hat. Die Vornahme sexueller Handlungen an einem „willenlosen“ Opfer erfüllt den objektiven Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB nicht. Mit der Konstruktion eines „mutmaßlichen Gegenwillens“ kann der daraus resultierenden Straflosigkeit nicht begegnet werden.[15] Das durchbräche die Wortlautgrenze und verstieße gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Zumindest teilweise wurde Strafbarkeitslücken durch die ergänzenden Tatbestandsvarianten des § 177 Abs. 2 StGB gesetzgeberisch vorgebeugt. Fraglich ist allerdings, ob damit tatsächlich alle relevanten Fallkonstellationen erfasst sind.

b) Erkennbarkeit

Wieso die Strafbarkeit von der objektiven Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens abhängen soll, obwohl der Täter gemäß § 15 StGB die innere Ablehnung seitens des Opfers ohnehin kennen muss,[16] ist eines der Rätsel, die das neue Gesetz aufgibt.[17] Eine nur innerliche nicht erkennbare ablehnende Haltung begründet auch dann keine Vollendungsstrafbarkeit, wenn sie dem Täter  bekannt ist (zur Versuchsstrafbarkeit unten IV 2).[18] Gewiss schützt das Erkennbarkeitsmerkmal gutgläubige Täter vor haltlosen Bezichtigungen. Jedoch bedarf dieses Schutzes nicht, wer trotz Nichterkennbarkeit[19] Kenntnis vom entgegenstehenden Willen hat.[20] Auf der anderen Seite schränkt das Erfordernis der Erkennbarkeit die Strafbarkeit untauglicher Versuche ein (s.u. IV 2). Dies ist zwar ein wünschenswerter Effekt. Allerdings dürfte dieser ohne nennenswerte praktische Bedeutung sein. Wohl kein Sexualpartner einer tatsächlich konsensualen sexuellen Interaktion wird auf die Idee kommen, gegen den anderen eine Strafanzeige zu erstatten und diese darauf zu stützen, dass jener gemeint haben könnte, er/sie – der/die Anzeigeerstatter/in – sei nicht einverstanden gewesen. Für die Bestimmung der Umstände, aus denen auf den entgegenstehenden  Willen zu schließen ist, soll es auf die Perspektive eines „objektiven Dritten“ ankommen.[21] Ist der entgegenstehende Wille nicht für jedermann, sondern nur für den über Sonderwissen verfügenden Täter – z.B. den Ehepartner oder Lebensgefährten des Opfers – erkennbar, liegt danach keine tatbestandsmäßige Situation vor. Auch diese strafbarkeitseinengende Anreicherung des objektiven Tatbestandes hat das Potential zu Strafbarkeitslücken.

c) Sexuelle Handlungen usw.

Die Beschreibung des tatbestandsverwirklichenden Täterverhaltens in § 177 Abs. 1 StGB ist teilweise unklar und insoweit kaum mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren.[22] Hinreichend konturiert ist allein die erste Variante „sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt“. Der Täter berührt hier den Körper des Opfers in einer Weise, die den sexuellen Charakter der Handlung unzweideutig zum Ausdruck bringt.[23] Was der Täter aber tun muss, um die zweite Variante „von ihr vornehmen lässt“ zu verwirklichen, geht aus dem Gesetzestext nicht hervor. Gewiss ist irgendeine Art von Einwirkung auf das Opfer erforderlich, damit dieses zur Vornahme sexueller Handlungen veranlasst wird.[24] Indessen gibt der Gesetzestext nicht den Hauch eines Hinweises darauf, wie diese Einwirkung konkret beschaffen sein muss und wer deren Urheber sein kann, nur der Täter oder auch ein Dritter? Nahe liegender Weise wird man eine Art Nötigung verlangen müssen.[25] Eine Täuschung reicht nicht aus, weil das Opfer in diesem Fall keinen erkennbaren entgegenstehenden Willen bildet.[26] Fraglich ist überhaupt, wie der erkennbar entgegenstehende Wille zur willentlichen Vornahme sexueller Handlungen passt.[27] Vollkommen offen ist zudem, welche Beziehung des vom Opfer zu vollziehenden sexuellen Aktes zu irgendeinem davon betroffenen menschlichen Körper – dem eigenen, dem des Täters, dem eines Dritten[28] – erforderlich ist. Sicherlich ist es vom Gesetzestext gedeckt, wenn der Täter jemanden zur Masturbation überredet.[29] Ob jedoch zur Begründung der Tatbestandsmäßigkeit darüber hinaus notwendig ist, dass dies nicht privatissime „im stillen Kämmerlein“ oder auf einer Toilette, sondern vor jemand anderem – dem Täter, einem Dritten – geschieht und von diesem beobachtet wird, lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen.[30] Auch bei der dritten Variante „zur Vornahme oder Duldung … bestimmt“ bereitet das Erfordernis des erkennbaren entgegenstehenden Willens Probleme.[31] Wenn der Täter das Opfer durch Vorspiegelung von Entgeltzahlungswilligkeit zur Vornahme sexueller Handlungen motiviert, existiert jedenfalls während des durch Täuschung erschlichenen Opferverhaltens keine Willensbarriere.    

2. Subjektiver Tatbestand

§ 177 Abs. 1 StGB normiert ein Vorsatzdelikt. Es gilt § 15 StGB, eine gesetzliche Anordnung von Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gibt es nicht. Das Merkmal „Erkennbarkeit“ ist zwar eine typische Fahrlässigkeitskomponente. In dem tatbestandlichen Zusammenhang, in dem hier die Erkennbarkeit steht, kann man dem Merkmal nicht die Funktion zuschreiben, eine verkappte Fahrlässigkeitsstrafbarkeit einzuführen.[32] Ausreichend ist dolus eventualis. Vorsatzgegenstand sind alle objektiven Tatbestandsmerkmale, also auch der – von den seine Erkennbarkeit begründenden Umständen zu unterscheidende – entgegenstehende Wille.[33] Da die Erkennbarkeitsindizien zum objektiven Tatbestand gehören, muss der Vorsatz des Täters sich auch auf sie beziehen.[34]

III. Willensmängel beim Tatbestandsmerkmal „gegen den erkennbaren Willen“     

Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt, wenn das Opfer gar kein Opfer ist, weil sein Wille der sexuellen Handlung nicht entgegensteht, mag dies erkennbar sein oder nicht.[35] Der objektive Tatbestand ist auch nicht erfüllt, wenn ein entgegenstehender Wille des Opfers nicht erkennbar ist, mag dieser innerlich vorhanden sein oder nicht. Erörterungsbedarf erzeugen verschiedene Varianten von Willensmängeln. Willensmangelbehaftet sein kann das Fehlen eines entgegenstehenden Willens bzw. die Nichtkundgabe dieses Willens oder das Bilden eines entgegenstehenden Willens bzw. dessen Kundgabe. Bildet das Opfer auf Grund eines Irrtums keinen entgegenstehenden Willen oder unterlässt es irrtumsbedingt dessen Erkennbarmachung, ist der objektive Tatbestand nicht erfüllt. Die Ursache des Irrtums ist unerheblich. Auch eine – vom Täter oder einem Dritten begangene – Täuschung vermag das Fehlen des Gegenwillens oder der Erkennbarkeit nicht zu kompensieren.[36] Beispiele: (1) Der Täter nähert sich dem Opfer in der Dunkelheit und spiegelt erfolgreich vor, der Lebensgefährte zu sein. (2) Eine Frau äußert kein „Nein“, weil sie glaubt, der Täter wisse ohnehin, dass sie keinen sexuellen Kontakt wünsche.

Anders verhält es sich mit Gewalt und Drohung:[37] Wendet jemand diese Nötigungsmittel an, um Widerstand zu unterdrücken, führt er damit beim Nötigungsadressaten keine innerliche Zustimmung herbei. Die innere Ablehnungshaltung bleibt bestehen, ihre Erkennbarkeit ergibt sich daraus, dass der Täter die Willensbarriere mit Gewalt oder Drohung durchbrechen muss. Wo jemand einen anderen mit Gewalt oder Drohung dazu bringt etwas zu tun oder zu dulden, besteht für den neutralen Beobachter Grund zu der Annahme, diese Mittel sind zur Überwindung eines entgegenstehenden Willens notwendig.

Einen tatsächlich entgegenstehenden Willen bildet auch, wer sich irrtümlich Umstände vorstellt, die ihn zu dieser Willenshaltung motivieren. Hält eine Frau ihren in der Dunkelheit sie sexuell berührenden Freund oder Ehemann irrtümlich für einen Fremden und stößt sie deswegen den Mann zurück, sind sowohl entgegenstehender Wille als auch Erkennbarkeit gegeben. Die Irrtumsbehaftetheit ändert daran nichts. Aus einem „Nein“ wird kein „Ja“, weil die Person die Umstände verkannt hat und bei klarer Sicht der Dinge „ja“ gesagt hätte. Schutzwürdigkeit des „Opfers“ und korrespondierende Strafwürdigkeit des „Täters“ würde aber niemand ernsthaft behaupten. Im Medizinstrafrecht operiert die Rechtsprechung in Situationen, die der hiesigen ähneln, mit der „hypothetischen Einwilligung“. Die Strafrechtslehre bringt dieser dogmatischen Erfindung aber wenig Sympathie entgegen.[38] Im vorliegenden Zusammenhang das gewünschte Straflosigkeits-ergebnis auf eine hypothetische Nichtablehnung zu stützen, würde wahrscheinlich Zustimmung zum Ergebnis, nicht aber zur Begründung hervorrufen. Das ist gewiss so lange ungefährlich, wie die Beziehung intakt ist, denn eine Strafanzeige wird es unter diesen Umständen nicht geben. Bedenklich ist aber, dass das Sexualstrafrecht ein Instrument ist, das „als Waffe gegen den ehemaligen Partner eingesetzt werden kann“.[39] 

Anders als bei einem irrtümlich gebildeten entgegenstehenden Willen liegen die Dinge in Fällen der Nötigung: Wer innerlich „ja“ sagt, nach außen aber wider Willen ein deutliches „Nein“ kundtut, weil ein Dritter dies von ihm unter Übelsandrohung erwirkt hat, errichtet keine wirkliche innere Willensbarriere. Die Eltern, die ihrer 16-jährigen Tochter mit Stubenarrest drohen, wenn sie nicht dem gleichaltrigen Klassenkameraden, der zu sexuellen Annäherungen haud ingrata neigt, ein klares „Stopp“-Signal zeigt, bauen mit ihrer Nötigung keinen strafrechtlichen „Schutz“ für ein „Rechtsgut“ auf, dessen Inhaberin gar nicht geschützt werden will. Ohne tatsächlich entgegenstehenden inneren Willen besteht keine tatbestandsmäßige Situation. Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs ist aber möglich (dazu unten IV 2).

IV. Erkennbarkeit, Kenntnis und Irrtümer

Den Gesamtbereich strafrechtlich erheblicher Fehlvorstellungen des Täters kann man grob in Unkenntnis gegebener Strafbarkeitsvoraussetzungen und irrige Annahme nicht gegebener Strafbarkeitsvoraussetzungen gliedern.[40] Irrtümer der ersten Kategorie haben die Tendenz zur Entlastung des Täters, bei den Irrtümern der zweiten Kategorie ist es umgekehrt. § 177 Abs. 1 StGB bietet dafür mit den beiden Tatbestandsmerkmalen „entgegenstehender Wille“ und „Erkennbarkeit“ mannigfache Möglichkeiten der Exemplifizierung. Vor allem sind komplizierte Konstruktionen von „Doppelirrtümern“ möglich.

1. Entlastende Irrtümer

Dass der Täter ohne Vorsatz handelt, wenn er bei tatsächlich vorhandenem und auch erkennbarem entgegenstehenden Willen des Opfers irrig annimmt, das Opfer sei einverstanden, ist banal, vgl. § 16 Abs. 1 StGB.[41] Etwas schwieriger wird die Tatbeurteilung, wenn der Täter die Erkennbarkeit wahrnimmt, weil das Opfer „nein“ gesagt hat, er aber dennoch an Konsensualität glaubt, weil die kundgegebene Negation seiner Ansicht nach Teil des „Spiels“ ist, das der/die andere zum Zwecke der Stimulierung treibe. Verweisen kann man hier auch auf den Fall Gina Lisa Lohfink: Die Frau rief laut und vernehmlich „Hör auf!“, die Täter glaubten aber, das beziehe sich nicht auf den Geschlechtsverkehr, sondern auf die Aufnahme desselben mit der Videokamera. Der Täter hat zwar Vorsatz bezüglich der Erkennbarkeitsindikatoren.[42] Aber zum objektiven Tatbestand gehört auch der innere ablehnende Wille, auf den sich der Vorsatz ebenso beziehen muss. Dem Vorstellungsbild des Täters in der skizzierten Situation fehlt dieser Vorsatz, er befindet sich in einem Tatbestandsirrtum, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[43] Die Bestrafung allein auf den Erkennbarkeitsvorsatz zu stützen, bedeutete den sexuellen Übergriff contra legem in ein Fahrlässigkeitsdelikt umzuformen.[44]

Kennt oder vermutet der Täter den tatsächlich entgegenstehenden Willen des Opfers, nicht aber die äußeren Indizien, die diese innere Willenshaltung erkennbar machen, besteht für den Täter an sich genügend Anlass, von der Tat Abstand zu nehmen oder sich zumindest vorher durch Nachfrage zu vergewissern. Das Gesetz lässt dies jedoch zur Begründung der Strafbarkeit nicht ausreichen.[45] Erkennbarkeit ist eigenständiges objektives Tatbestandsmerkmal neben dem entgegenstehenden Willen und daher auch Vorsatzgegenstand. Wer das „nein“ des Opfers überhört hat, aber anderweitig die Vorstellung eines entgegenstehenden Willens hat, befindet sich in einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum, § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[46]

Die Konstellation des „Doppelirrtums“ betrifft unter anderem[47] Fälle, in denen der Täter hinsichtlich eines der beiden Tatbestandsmerkmale kenntnislos ist, aber gleichwohl annimmt eine strafbare Tat zu begehen. Diese Fehlvorstellung ist insbesondere in dem letztgenannten Beispiel naheliegend: Der Täter kennt die  objektiv erkennbare – ablehnende innere Haltung des Opfers, nicht aber deren Erkennbarkeit, glaubt jedoch gleichwohl, er mache sich schon wegen der Missachtung dieses entgegenstehenden Willens strafbar. Der Täter geht also von der Geltung eines merkmalsärmeren Straftatbestandes aus, er hat ein über das geltende Recht hinausschießendes Unrechtsbewusstsein. Ein Vorsatz ist das nicht. Denn die Fehlvorstellung erzeugt hier nicht ein inneres Tatbild, in dem das Erkennbarkeitsmerkmal enthalten ist, sondern vielmehr die – dem geltenden Recht widersprechende – Annahme, die Tat sei ohne dieses Erkennbarkeitselement strafbar. Der Täter hat also ein Unrechtsbewusstsein auf der Grundlage einer vorgestellten Tat, die nach geltendem Recht nicht straftatbestandsmäßig ist. Das Fehlen von Vorsatz kann aber niemals durch ein Unrechtsbewusstsein kompensiert werden.[48] Dass diese zweite Fehlvorstellung die erste (Unkenntnis der Erkennbarkeitstatsachen) nicht neutralisiert, wird deutlicher, wenn das Erkennbarkeitsmerkmal auch objektiv fehlt: dann stellt sich die Tat als strafloses Wahndelikt dar und ist nicht als (untauglicher) Versuch strafbar (dazu unten 2.). Nicht anders ist es hier: Es bleibt dabei, dass der Täter ohne Vorsatz gehandelt hat und sein Verhalten deshalb straflos ist.

2. Belastende Irrtümer

Irrtümer sind belastend, wenn ihre dogmatische Funktion darin besteht, trotz Fehlens der vom Täter irrtümlich angenommenen Strafbarkeitsvoraussetzung eine Strafbarkeit zu begründen. Die Straftaterscheinungsform, die das betrifft, ist der Versuch. Da es sich um Fälle einer von Anfang an fehlenden Strafbarkeitsvoraussetzung handelt, geht es um den untauglichen Versuch[49] und dessen Abgrenzung vom straflosen Wahndelikt. Der unproblematische Fall des strafbaren untauglichen Versuchs hat bei § 177 Abs. 1 StGB folgende Struktur: Das „Opfer“ hat keinen entgegenstehenden Willen und/oder dieser ist nicht erkennbar. Der Täter glaubt aber irrtümlich, das Opfer lehne die sexuelle Interaktion ab und ein solcher Wille sei erkennbar. Diese Tat ist gemäß § 177 Abs. 3 StGB strafbar. Nicht ausreichend ist bei objektivem Fehlen beider Tatbestandsmerkmale die irrige Annahme nur eines dieser Merkmale: Die sexuell berührte Person hat keinen entgegenstehenden Willen und es existieren auch keine äußeren Indikatoren, die auf einen derartigen inneren Willen deuten. Der Täter glaubt aber, die Person lehne die sexuell konnotierte Aktion ab, obwohl er keine diese Annahme stützenden äußeren Anzeichen wahrnimmt. Strafbarer Versuch setzt eine Tat voraus, die den kompletten subjektiven Tatbestand des Delikts erfüllt. Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen.[50] Das ist nicht der Fall, wenn der Täter sich zwar den entgegenstehenden Willen vorstellt, nicht aber die äußeren Willenerkennbarkeitsmerkmale. Ebenso verhält es sich, wenn der Täter objektiv nicht vorhandene Erkennbarkeitszeichen zu sehen meint, zugleich aber davon ausgeht, dass die Person innerlich mit der sexuellen Handlung einverstanden sei. Kommt in den beiden letztgenannten Konstellationen jeweils die Fehlvorstellung hinzu, die Tat, die der Täter sich vorstellt, sei strafbar, liegt ein strafloses Wahndelikt vor.

V. Schluss

Das Erkennbarkeitsmerkmal hat eine strafbarkeitsbeschränkende  Wirkung,  die den  Täter  auch dann  begünstigt, wenn er den tatsächlichen inneren Willen des Opfers kennt oder ihn sich irrig vorstellt. In diesen Fällen hat die Tat aber den materiellen Strafwürdigkeitsgehalt einer vollendeten bzw. untauglich versuchten Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts. Wenn die Erkennbarkeit daneben dennoch eine eigenständige rechtliche Bedeutung hat, dann liegt diese auf einer anderen Ebene.[51] Die Beschränkung der Strafbarkeit auf Fälle erkennbar entgegenstehenden Willens bewahrt das Strafverfahren vor Angeklagten und Verteidigern, die – nicht ohne Aussicht auf Erfolg – mit sekundärviktimisierenden Nebeneffekten („Sie wollte es doch! Warum hat sie sich denn nicht gewehrt?“ usw.) den entgegenstehenden Willen vehement bestreiten oder zumindest einen Tatbestandsirrtum behaupten. Auch ein Herumstochern im sexuellen Vorleben der einen illegalen Übergriff behauptenden Person („auf dem letzten Betriebsfest hat sie es mit jedem getrieben, der nicht bei drei auf den Bäumen war“) wäre kaum zu vermeiden, wenn der verfahrensgegenständliche Tatverdacht nicht von aussagekräftigen Willensindizien getragen wäre. Mit einer Häufung von in-dubio-Freisprüchen wäre dem Anliegen eines verbesserten Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung kein guter Dienst erwiesen.[52]

Wie der Fall Gina Lisa Lohfink gezeigt hat, können sogar auf der Basis des § 164 StGB die Rollen von Täter und Opfer wechseln. Die Abhängigkeit der Strafbarkeit von objektiver Erkennbarkeit der ablehnenden Opferhaltung macht schon Sinn. Dennoch beschränkt die Platzierung des Merkmals im objektiven Tatbestand die Strafbarkeit in unnötigem Ausmaß. Als Alternative bietet sich die Qualifizierung als objektive Strafbarkeitsbedingung an. Ein „Königsweg“ ist das gewiss nicht. Aber wenigstens entgeht auf dieser dogmatischen Grundlage der Täter nicht der Strafbarkeit, der den entgegenstehenden inneren Willen kannte, obwohl er die äußeren Erkennbarkeitszeichen nicht wahrgenommen hat oder dies zumindest behauptet.

 

 

[1]     Zutreffend Fischer, ZEIT online („Fischer im Recht“) v. 28.6. 2016: „Ein schön klingendes Schlagwort, das aber in der Praxis kaum etwas erklärt oder erleichtert“.

[2]     Hörnle, NStZ 2017, 13 (14); Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. (2018), § 177 Rn. 1; Wolters/Noltenius, in: SK-StGB, Bd. IV, 9. Aufl. (2017), § 177 Rn. 6.
[3]     Deckers, StV 2017, 410 ff.; Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (186).
[4]     So wird das geschützte Rechtsgut bezeichnet, vgl. Hilgendorf, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 3. Aufl. (2015), § 10 Rn. 3; El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (159); Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (183); Lackner/Kühl-Heger, § 177 Rn. 1; Renzikowski, in: MüKo-StGB, Bd. 3, 3. Aufl. (2017), § 177 Rn. 1; Wolters/Noltenius, in: SK-StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 8.
[5]     Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (184): „§ 177 StGB n.F. weckt daher falsche Erwartungen bei denjenigen, die sich … eine häufigere Bestrafung unwillkommener sexueller Handlungen erhofft haben.“
[6]     Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung v. 4.11.2016, BGBl I, S. 2460.
[7]     El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (162).
[8]     Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. (2014), Vorb. § 32 Rn. 31.
[9]     Ebel, NStZ 2002, 404 (407).
[10]   Eschelbach, in: Matt/Renzikowski, StGB, 2013, § 179 Rn. 12.
[11]   Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 177 Rn. 13.
[12]   Nötigung ist zur Erfüllung des Tatbestandes aber auch bei § 177 Abs. 5 StGB keine Voraussetzung, El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (160).
[13]   Heger, in: Lackner/Kühl (Fn. 2), § 177 Rn. 13.
[14]    El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (163).
[15]    A.a.O.
[16]   A.a.O., S. 167; Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 56.
[17]   Nach Renzikowski, in: MüKo-StGB(Fn. 4), § 177 Rn. 47 versteht sich hingegen das Erfordernis der Erkennbarkeit von selbst. Von jeder Person könne erwartet werden, „ihren Willen eindeutig und klar auszudrücken“. Die Frage ist aber, warum das überhaupt eine Voraussetzung der Strafbarkeit sein soll.
[18]   Hörnle, NStZ 2017, 13 (15); Wolters/Noltenius, in:SK-StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 12.
[19]   Da die „Erkennbarkeits“-Indizien einem „objektiven Dritten“ den Schluss auf den entgegenstehenden Willen ermöglichen müssen, ergibt sich die Erkennbarkeit nicht zwangsläufig daraus, dass der Täter den Willen der betroffenen Person tatsächlich kennt.
[20]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (166); Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187).
[21]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (166); Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (186); Heger, in: Lackner/Kühl, StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 5; Renzikowski, in: MüKo-StGB(Fn. 4), § 177 Rn. 47.
[22]   Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (186).
[23]   Renzikowski,in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 45.
[24]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (162).  
[25]   Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 50.
[26]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (164).
[27]   Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 50.
[28]   In der Aufzählung der Varianten bei Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 44 tauchen sexuelle Handlungen des Opfers an sich selbst nicht auf.
[29]   Bezjak, KJ 49 (2016), 557 (561).
[30]   Nach Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 49 ist räumliche Anwesenheit des Täters und Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch diesen nicht erforderlich; ebenso Hörnle, NStZ 2017, 13 (14).
[31]   Löffelmann, StV 2017, 413 (415).
[32]   Anders Fischer, ZEIT online („Fischer im Recht“) v. 28.6.2016: „Hier haben wir es mit einem Fahrlässigkeitstatbestand zu tun“; richtig El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (165); Hörnle, NStZ 2017, 13 (16); Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187).
[33]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (165); Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 56.
[34]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (166); Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187).
[35]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (163).
[36]   A.a.O., S. 164.
[37]   Entgegen El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (164) ist das nicht problematisch.
[38]   Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (2018), 15/35; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 48. Aufl. (2018), Rn. 598.
[39]   El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (165).
[40]   Instruktiv die Grobeinteilung von Irrtümern bei Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (2015), § 13 Rn. 90 ff.: Unkenntnis – Irrige Annahme.
[41]   Heger, in: Lackner/Kühl, StGB(Fn. 2), § 177 Rn. 20; Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 57.
[42]   Nach Renzikowski,in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 57 fehle es bei „ambivalenten Situationen“ an der Erkennbarkeit.
[43]   Heger, in: Lackner/Kühl, StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 20Wolters/Noltenius, in: SK-StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 15.
[44]   Renzikowski, in: MüKo-StGB (Fn. 4), § 177 Rn. 56; Wolters/Noltenius, in: SK-StGB (Fn. 2), § 177 Rn. 15.
[45]   Zutreffend bezeichnen Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187) die gesetzliche Regelung als „normativ ziemlich sinnlos“.
[46]   Nach Hörnle, NStZ 2017, 13 (15) sei eine derartige Konstellation nur bei einem Täter möglich, der über die seltene Gabe des Gedankenlesens verfüge.
[47]   Instruktiv zur thematischen Vielfalt Haft, JuS 1980, 430 (432).
[48]   Haft, JuS 1980, 588 (589).
[49]   Zur Abgrenzung von tauglichem und untauglichem Versuch Mitsch, in: FS Maiwald, 2010, S. 539 (543).
[50]   Wessels/Beulke/Satzger, AT (Fn. 38), Rn. 939.
[51]   Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187): Vermischung von Fragen des objektiven und des subjektiven Tatbestandes mit Beweisproblemen.
[52]   Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (185).

 

 

 

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