Strafen „im Namen des Volkes“? Expertentagung zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse

von Wiss. Mit. Lukas Cerny

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Der Streit um die Zwecke von Strafrecht und Strafe ist bis heute nicht befriedigend gelöst. In jüngerer Vergangenheit scheint dabei der – zumindest in der Literatur zum Teil bereits für tot erklärte – „Vergeltungsgedanke“ in modernisierter Form vereinzelt wieder aufzuleben. Eine dieser neuen Erscheinungsformen ist die Integration gesellschaftlicher Vergeltungsbedürfnisse in positiv-generalpräventive Modelle. Doch wie sehen etwaige Bedürfnisse der Gesellschaft aus? Sind diese überhaupt verlässlich ermittelbar? Ist es tatsächlich der Zweck der Strafe, die Gesellschaft auf diese Weise zu stabilisieren, oder ist vielleicht doch die Vergeltung selbst ihr ureigener Zweck? Den Antworten auf diese und weitere Fragen ein Stück näher zu kommen war Ziel einer Expertentagung am 29. und 30. November 2018 an der Universität Augsburg. Der Einladung von Prof. Dr. Johannes Kaspar (Universität Augsburg) und RiOLG Prof. Dr. Tonio Walter (Universität Regensburg) folgten dabei zahlreiche prominente Vertreter der Strafrechtswissenschaft aus dem In- und Ausland. Interessierte seien bereits an dieser Stelle auf den geplanten Tagungsband hingewiesen. Einem ersten Überblick über den Verlauf der Tagung dient dieser Bericht.

Eröffnet wurde die Tagung von einem der in diesem Bereich weltweit profiliertesten Strafrechtswissenschaftler: Prof. Dr. Paul H. Robinson von der University of Pennsylvania Law School. In seinem Vortrag mit dem Titel „A truce in the distributive principle wars? Coercive crime control, moral credibility, and empirical desert“ bezeichnete er sein an empirisch ermittelten Gerechtigkeitsvorstellungen ausgerichtetes Modell als Möglichkeit, einen „Waffenstillstand“ im „Krieg“ zwischen Utilitaristen und Vertretern absoluter Straftheorien zu erreichen. In diesem Sinne widmete er sich insbesondere einigen häufig auftretenden Fragen zu einem solchen Konzept, bei deren Beantwortung er argumentativ auf zahlreiche eigene kriminologische Untersuchungen zurückgriff. Dabei betonte er insbesondere die präventiv wirkenden Effekte eines moralisch glaubwürdigen Systems. Ziel jedes Gesetzgebers müsse es deshalb auch aus utilitaristischer Sicht sein, das Strafrecht in weitestgehender Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung auszugestalten. Der verbreiteten Angst vor brutalen und drakonischen Strafbedürfnissen versuchte er mit Hilfe zahlreicher Studien aus dem amerikanischen Raum zu begegnen. Dass dies nicht vollständig gelang, zeigte die anschließende Diskussion, in der unter anderem die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum angezweifelt wurde. Auch wurde die folgerichtige Frage diskutiert, ob eine solche Ausrichtung an den Vergeltungsbedürfnissen im Gegenzug nicht die Gefahr von Straferhöhungen mit sich brächte. Nach dieser lebhaften Debatte endete der erste Tagungstag. 

Den Auftakt des zweiten Tages und somit des ersten Themenbereiches („Straftheoretische Grundlagen“) machten die beiden Veranstalter der Tagung. Zunächst führte dabei RiOLG Prof. Dr. Tonio Walter in die Grundlagen seiner empirisch begründeten Vergeltungstheorie ein, die sich an den Strafbedürfnissen der Gesellschaft orientiere. Dabei betonte er insbesondere die soziologische Begründung des Ansatzes, den er auch als „retributive Generalprävention“ bezeichnete. Die Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen habe in diesem Sinne einen gesellschaftlichen Nutzen, da sie eine Destabilisierung des Staates verhindere und die Kooperation der Bürger mit Polizei und Justiz festige. Spezial- und Generalprävention könnten dabei erfreuliche Nebeneffekte sein, nie aber der eigentliche Grund der Strafe. Aus evolutionsbiologischer Sicht sei es zudem nicht fernliegend, dass sich die menschlichen Vergeltungsbedürfnisse langfristig zurückentwickeln und die Gesellschaft der Zukunft ohne Strafrecht auskomme.

Im Anschluss erörterte Prof. Dr. Johannes Kaspar verschiedene verfassungsrechtliche Aspekte einer Generalpräventionstheorie, in der er – insbesondere bei Fragen der Strafzumessung – auch auf empirisch fundierte Befunde zurückgreifen wolle. Wenn man die Wiederherstellung des Rechtsfriedens nämlich [wie er] als empirisches Phänomen verstehe, für das Bevölkerungsumfragen zumindest ein wichtiges Indiz seien, liege es in der Natur der Sache, sich bei der Verfolgung dieses Ziels auch auf letztere zu stützen. Im Rahmen der Strafzumessung sehe er aber nur dort Handlungsbedarf, wo die Bevölkerung auch mit milderen Strafen zufrieden wäre (asymmetrische Relevanz der ermittelten Strafbedürfnisse). Das schon in der Diskussion angeklungene „Expansionsproblem“ würden letztlich auch verschiedene verfassungsrechtliche Grenzen relativieren, die einer solch generalpräventiven Position immanent seien.

Den Abschluss des ersten Themenblocks machte Prof. Dr. Katrin Höffler (Universität Göttingen). Sie referierte zur Rolle der Spezialprävention aus Sicht der Bevölkerung – letztlich also zu der Frage, welche straftheoretischen Erwägungen hinter gesellschaftlichen Straferwartungen ständen. Unter Rückgriff auf verschiedene Studien kam sie zu dem vorsichtigen Schluss, dass man aktuell wohl von einer Zunahme repressiver Tendenzen und einer Abnahme spezialpräventiver Erwägungen sprechen könne. Richte man das Strafrecht an den Strafbedürfnissen der Gesellschaft aus, sei insofern eine Vernachlässigung der Täterbelange zu befürchten. Vor allem aber wies sie darauf hin, dass sich der Einfluss der prävalierenden Strafzwecke im steten Wandel befinde, weshalb die innere Verknüpfung des Strafrechtssystems mit dem einen oder dem anderen nicht zu empfehlen sei, wenn es doch vor allem um die Stabilisierung der Gesellschaft bzw. die Steigerung des Vertrauens in das System gehe. Die mit diesem Vortrag notwendigerweise verbundenen kriminologischen Fragen und methodischen Probleme prägten in der Folge die angeregte Diskussion, die der Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedürfnisse in der Tendenz eher skeptisch gegenüberstand.

Thematisch leitete die Diskussion so nahtlos über zum zweiten Themenblock („Empirisch-kriminologische Aspekte“), den am Nachmittag Prof. Dr. Henning Ernst Müller (Universität Regensburg) eröffnete. In seinem Vortrag zu Methoden und aktuellen Ergebnissen von Studien zur Deliktsschwereeinschätzung grenzte er letztere insbesondere von Punitivitätsuntersuchungen ab, welche zusätzlich die Forderung nach einer angemessenen konkreten Strafe einbezögen. Die Deliktsschwere selbst eindeutig zu definieren sei bisher nicht gelungen. Methodisch seien solche Untersuchungen außerdem schwierig, da je nach gegebener (zusätzlicher) Information über Täter und Tathintergründe die von den Befragten angegebene Schwere differiere und sich so gezielt „steuern“ lasse. Wenn man aber, um solche Differenzen und Ankereffekte weitgehend zu vermeiden, möglichst nur „rohe“ abstrakte Tatinformationen angebe, die sich kaum vom juristischen Tatbestand unterschieden, würden sich Befragte nach kognitionspsychologischen Erkenntnissen dennoch an verschiedenen, von ihm dargelegten Heuristiken orientieren. Einer Ausrichtung des Strafrechts an derartigen kriminologischen Erkenntnissen stehe er deshalb skeptisch gegenüber.

Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Streng (Universität Erlangen-Nürnberg) widmete sich – nach kurzer Einführung in die Problematiken verschiedener Erhebungsmethoden – den Ergebnissen aktueller Studien zu Strafbedürfnissen der Bevölkerung. Als Hauptquelle diente ihm eine Zeitreihen-Studie mit Jura-Studienanfängern, die er selbst erstmals im Jahr 1989 an der Universität Konstanz durch- und von 1993 bis 2016 an der Universität Erlangen-Nürnberg fortgeführt hatte. In den dort gestellten Sanktionsfragen sei übergreifend eine Tendenz oder gar ein klarer Trend zu härteren Strafen beobachtbar. Auf Basis dieser und weiterer vorgestellter Ergebnisse sei es aus seiner Sicht nicht empfehlenswert, für die richterliche Strafzumessung die Vorstellungen der Bürger in ungefilterter Form heranzuziehen. Dafür ständen ohnehin keine ausreichend verlässlichen Methoden zur Verfügung. Vielmehr sei dies in einer repräsentativen Demokratie die Aufgabe der Richter und Staatsanwälte. Um diese zu unterstützen und Strafmaßdisparitäten zu verhindern, empfehle sich aber der Aufbau eines computergestützten bundesweiten Strafzumessungs-Informationssystems.

Nach kurzer Diskussion startete der dritte Themenblock, in dem spezifisch auf konkrete Anwendungsfelder und Erfahrungen aus dem Ausland eingegangen wurde. Dabei gab man zunächst auch dem juristischen Nachwuchs die Möglichkeit aktiver Teilnahme, und so eröffneten den Nachmittag die Vorträge von drei Doktoranden: Philipp Eierle (Universität Augsburg) wies zunächst darauf hin, dass es mit den Termini des „Öffentlichen Interesses“ und der „Verteidigung der Rechtsordnung“ durchaus bereits Rechtsbegriffe mit empirischem Gehalt gebe. Bei ihnen fehle dem Richter oder Staatsanwalt allerdings abseits des subjektiven Empfindens jegliche Erkenntnisquelle. Unterstützend sei es hier also durchaus empfehlenswert, der Justiz empirische Erkenntnisse an die Hand zu geben. Lukas Cerny (Universität Regensburg) ging auf die Bedeutung des Unrechtsbewusstseins für die Gerechtigkeitsintuitionen und Strafbedürfnisse der Bevölkerung ein. Dabei warb er zunächst dafür, seines Erachtens bislang ignorierte Fragen bei (fehlendem) Unrechtsbewusstsein als Argument im straftheoretischen Diskurs heranzuziehen. Anschließend zog er aus straftheoretischen Einsichten und empirischen Erkenntnissen Konsequenzen zur dogmatischen und kriminalpolitischen Behandlung verschiedener Fragen rund um die §§ 16, 17 StGB. Einen ersten internationalen Vergleich lieferte Gregor Prijatelj (Universität Augsburg), der die Vorstellungen zur Reichweite des Notwehrrechts in der deutschen und slowenischen Bevölkerung darstellte. Dabei verglich er insbesondere die Ergebnisse einer deutschen Studie von Amelung/Kilian zur Akzeptanz des Notwehrrechts und einer entsprechenden Replikationsstudie aus Slowenien. Seines Erachtens sind die Einstellungen der Bevölkerung bis auf wenige Ausnahmen sehr ähnlich. Diese Übereinstimmungen legten die Vermutung nahe, dass sich die Vorstellungen der Gesellschaft unabhängig von der rechtlichen Situation entwickelten. Es sei deshalb ratsam, diese Bedürfnisse im nationalen und auch im europäischen Strafrecht nicht zu vernachlässigen.

Zur Frage, inwieweit Strafbedürfnisse der Bevölkerung im Internationalen Strafrecht (Strafanwendungsrecht) Berücksichtigung finden könnten, referierte die Habilitandin Dr. Konstantina Papathanasiou (Universität Regensburg). Über eine generell normtheoretische Betrachtung, in der sich die faktische Komponente des Rechts in den Begriffen der Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit widerspiegeln lasse, schlug Papathanasiou den Bogen zur Straftheorie. Dort würden die Gerechtigkeitsvorstellungen eine zentrale Rolle spielen. Da es eine Tatsache sei, dass Strafen immer auch einen vergeltenden Charakter hätten, gehe es bei der Befriedigungsfunktion der §§ 3 ff. StGB auch um die Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen. Insofern könne die empirische Ermittlung von Strafbedürfnissen schließlich relevant für die Frage sein, ob die extraterritoriale Strafgewaltserstreckung mit dem Einmischungsverbot vereinbar sei.

Nach der sich anschließenden Diskussion und Kaffeepause eröffnete Prof. Dr. Martino Mona (Universität Bern) in Vertretung seiner FrauAss.-Prof. Dr. Anna Coninx (Universität Luzern) den letzten Referatsblock mit einem Vortrag zu Möglichkeiten und Grenzen empirischer Argumente in der Schweizerischen Strafzweckdiskussion. Er ging dabei zunächst auf einige direkt-demokratische Besonderheiten des Schweizerischen Rechts ein. Im Anschluss wies er darauf hin, dass in der Schweiz keine Forderung nach generell schärferen Strafen auszumachen sei. Es gebe aber klare Anzeichen für einen Ruf nach einem schärferen, präventiv ausgerichteten Maßnahmenrecht. Einem überbordenden Sanktionenrecht müsse dadurch Einhalt geboten werden, dass wieder vermehrt über die gerechte Strafe für alle nachgedacht werde. Diese Neuauflage des Vergeltungsgedankens sollte seines Erachtens aber nicht mit Befragungen der Bevölkerung, sondern im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten politischen Debatte über die Ankerpunkte der mildesten und schärfsten Strafe (kardinale Proportionalität) stattfinden.

Prof. Dr. Peter Lewisch (Universität Wien) befasste sich im Anschluss mit dem individuellen Strafverhalten aus Sicht der Rechtsökonomie. Sie biete der traditionellen Rechtsdogmatik ein Verhaltensmodell, welches als Grundlage für die Beurteilung der Wirkungsweise von Rechtsnormen herangezogen werden könne. Verschiedene Aspekte des rationalen, altruistischen und rachsüchtigen Handelns erläuterte er dabei anhand einer Reihe rechtsökonomischer Experimente, von denen ein Großteil auch unter eigener Mitwirkung stattgefunden hatte.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Prof. Dr. Elisa Hoven (Universität Leipzig) und Prof. Dr. Thomas Weigend (Universität zu Köln) zur Rolle empirisch ermittelter Einstellungen der Bevölkerung im Bereich der Strafgesetzgebung und der Strafzumessung. Dabei stellten  auch  sie  die Ergebnisse  einer  Reihe  eigener Studien vor. So ließen sich beispielweise in einer – bereits veröffentlichten – Studie, in der die Kommentarspalten verschiedener Online-Zeitschriften analysiert wurden, gewisse Muster in der öffentlichen Wahrnehmung von Strafzumessungsentscheidungen feststellen. Auch eine noch unveröffentlichte Folgestudie mit Studenten verschiedener Fakultäten zeige den bedeutenden medialen Einfluss, dessen Wirkweise im Übrigen je nach berichtendem Medium stark variiere. Schließlich wurden die Ergebnisse einer Vignettenbefragung von 200 Berufsrichtern und 1000 Laien verglichen. Danach würden Laien im Durchschnitt härter als die professionellen Richter urteilen, bei denen sich aber auch starke Schwankungen zeigten. Sämtliche Befunde würden letztlich ein Umdenken in der Strafzumessung nahelegen. In diesem Sinne sei die Einführung von Strafzumessungsrichtlinien zu befürworten, wobei zuvor eine Vielzahl von Aspekten, etwa das Maß an Verbindlichkeit oder die Detailgenauigkeit, geklärt werden müssten. Nach einer abschließenden Diskussion, in der Einigkeit zumindest dahingehend herrschte, dass die verschiedenen Beiträge zahlreiche anregende Denkansätze liefern konnten, schloss die rundum gelungene Tagung schließlich mit einem Dankeswort der beiden Veranstalter und einem gemeinsamen Abendessen.

 

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