Abstract
„Evidenzbasierte Kriminalpolitik“ verspricht der aktuelle Koalitionsvertrag; „kriminologische Evidenzen“ sollen bei der Erarbeitung und Evaluation von Gesetzentwürfen berücksichtigt werden. Das klingt vielversprechend – und doch zeigen sich bei genauer Betrachtung gerade im Bereich der Strafgesetzgebung große (inhaltliche wie organisatorische) Probleme, wenn das Postulat der „Evidenzbasierung“ ernsthaft in die Tat umgesetzt werden soll. Der folgende Beitrag geht diesen Problemen anhand aktueller Gesetzentwürfe nach und versucht, Lösungswege aufzuzeigen.
The current coalition agreement promises “evidence-based crime policy”; “Criminological evidence” should be taken into account when drafting and evaluating proposed legislation. That sounds promising. However, a closer inspection reveals major problems (both in terms of content and organizational), especially in the area of criminal legislation, if the requirement of „evidence-based“ will truly be put into practice. The following article investigates these problems with reference to current proposed legislation and attempts to show solutions.
I. Aktueller Anlass
„Evidenzbasierte Kriminalpolitik“ ist etwas, was sich die derzeitige Regierungskoalition ausdrücklich auf die Fahnen geschrieben hat. Im Koalitionsvertrag von 2018 liest sich das so (S. 132):
„Wir betonen die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen und kriminologischen Sicherheitsforschung, u. a. die hohe Relevanz von Dunkelfeldstudien und anderer empirischer Forschung z. B. zu Organisierter Kriminalität, und wollen diese wissenschaftlichen Bereiche beim Bundeskriminalamt und in der wissenschaftlichen Forschung durch Universitäten und Dritte stärken.“
Man kann kritisieren, dass der Fokus hier noch zu sehr auf „Sicherheit“ als Gegenstand kriminologischer Forschung gelegt wird. Auch bleibt offen, wie genau die Forschung durch Universitäten und Dritte gestärkt werden soll. Dennoch findet sich hier ein bemerkenswert klares Bekenntnis zur Kriminologie und der auch politischen Relevanz ihrer Forschungsergebnisse, das sich so in den vorherigen Koalitionsverträgen soweit ersichtlich nicht findet. Das gilt vor allem, wenn man sich die Passage gleich im Anschluss ansieht, die allgemeiner formuliert ist und folgendermaßen lautet (S. 133):
„Wir treten für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ein. Wir wollen, dass kriminologische Evidenzen sowohl bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen als auch bei deren Evaluation berücksichtigt werden.“
So weit so gut. Aber was heißt das genau – „evidenzbasiert“? Ist das vielleicht doch nur ein schön klingendes Modewort aus dem Werkzeugkasten politischer Begründungskunst? Oder hat die Forderung nach „Evidenzbasierung“ tatsächlich Substanz? Und gilt das wirklich auch für den Bereich der Kriminalpolitik, der ja im doppelten Sinn neuralgisch ist: Wo es um Strafrecht als „schärfstes Schwert“ des Staates geht, stehen gravierende Freiheitseingriffe im Raum, die nach Augenmaß und rationaler Begründung verlangen. Zugleich ist hier das Interesse der Allgemeinheit besonders groß, das Skandalisierungspotenzial ebenso, und damit auch der politische Handlungsdruck. Kann der Begriff der „Evidenzbasierung“ sinnvoll zur Auflösung dieses Spannungsverhältnisses beitragen? Hat eine darauf gestützte „Evaluation“ von Strafnormen kritisches Potenzial, das auch kriminalpolitisch wirksam werden kann?
II. Begriffsklärung
Die Diskussion wird dadurch erschwert, dass der Begriff der „Evidenz“ gerade im juristischen Kontext missverständlich ist,[1] weil man ihn auch als (aus subjektiver Sicht) „selbsterklärend“ oder als „ohne weiteren Begründungsaufwand offensichtlich“ verstehen kann. Genau das ist hier aber nicht gemeint – es geht vielmehr darum, dass Maßnahmen auf der Basis des aktuellen Stands der (objektiven) wissenschaftlichen Erkenntnis über tatsächliche Zusammenhänge getroffen werden. Dieses Begriffsverständnis finden wir vor allem in der Medizin, wo seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von „evidence-based medicine“ gesprochen wird.[2] Aber auch in der Kriminalprävention wird im US-amerikanischen Bereich schon seit einiger Zeit gefordert, evidenzbasiert vorzugehen, also die präventiven Wirkungen von Strafen oder alternativen Maßnahmen nicht einfach nur zu postulieren, sondern empirisch zu überprüfen.[3] Ein Beispiel aus Deutschland ist das sog. Düsseldorfer Gutachten, das in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder verschiedene kriminalpräventive Maßnahmen im Rahmen einer Meta-Analyse untersucht hat.[4]
III. Verfassungsrechtlicher Hintergrund
In diesem Sinne evidenzbasiert vorzugehen ist zunächst ein ganz allgemeines Gebot der politischen Klugheit – wer sachgerechte Entscheidungen treffen und diese den Bürgern überzeugend vermitteln will, muss über möglichst umfassende und aktuelle Kenntnisse über den jeweiligen Regelungsgegenstand verfügen und diese der Entscheidung in nachvollziehbarer Weise zugrunde legen.[5] Das bezieht sich auf alle Bereiche politischen Handelns. Wenn wir von „Kriminalpolitik“ sprechen, also von Maßnahmen im Umgang mit Kriminalität, die u.a. auf die Verhinderung zukünftiger Straftaten ausgerichtet sind, kommt aber noch ein weiteres hinzu. Denn dabei geht es um Zwangsmaßnahmen und damit um Grundrechtseingriffe, vor allem und besonders offensichtlich im Bereich der strafrechtlichen Sanktionen, die hier besonders in den Fokus gerückt werden sollen.
Damit gilt automatisch, dass der Staat aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in verhältnismäßiger Weise vorgehen darf. Das wiederum setzt voraus, dass seine Maßnahmen zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sind.[6] Nun enthält die Frage der „Angemessenheit“ einer Maßnahme offensichtlich ein Wertungselement – was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Kern die Zweckrationalität staatlichen Handelns sichert, basierend auf der Abwehrfunktion der Grundrechte. Denn der Staat muss seinem Bürger vereinfacht ausgedrückt mit guten Gründen erklären können, warum er in dessen Freiheitsgrundrecht eingreift, was er damit erreichen will und warum er das so und nicht anders tut, vor allem im Hinblick auf potenziell mildere Mittel, die den verfolgten Zweck möglicherweise genauso erfüllen würden. Hier kommt dann offensichtlich auch die Anforderung ins Spiel, wissenschaftliche Erkenntnisse oder eben „Evidenzen“ zur Kenntnis zu nehmen und auch die tatsächlichen Wirkungen staatlicher Maßnahmen in Rechnung zu stellen.[7] Die Empirie spielt hier also eine wichtige und verfassungsrechtlich abgesicherte Rolle.
Auch der Gesetzgeber muss vor diesem Hintergrund empirisches Wissen bei seiner Entscheidung heranziehen, er muss den aktuellen Stand der Wissenschaft berücksichtigen, mit anderen Worten: evidenzbasiert entscheiden. Diese Fakten geben einen Rahmen vor, innerhalb dessen ihm – zu Recht – ein großer Einschätzungsspielraum auch für Wertungen zugebilligt wird, die selbst nicht mit empirischen Methoden überprüft und falsifiziert werden können. Aber er darf eben keine Wertungen treffen, die allseits anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren. Das heißt nicht, dass der Gesetzgeber mit seinen (vielleicht auch ganz dringlichen) Entscheidungen, mit denen er auf akute Probleme reagiert, immer warten müsste, bis gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Er darf mit anderen Worten auch auf rein prognostischer Basis handeln. Aber er hat dann nach der Rechtsprechung des BVerfG die Pflicht, seine Maßnahmen zu beobachten und ggf. nachzubessern.[8] Diese Beobachtungspflicht gebietet auch, den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis im Blick zu behalten und zukünftigen Entscheidungen zu Grunde zu legen. Ein Beispiel ist die Entscheidung des BVerfG zur Verständigung im Strafverfahren, wo wesentlich auf eine aktuelle empirische Studie Bezug genommen und dem Gesetzgeber zugleich aufgegeben wurde, die zukünftige Entwicklung der Praxis weiter zu verfolgen.[9]
IV. Probleme der Umsetzung
Das Kriterium der „Evidenzbasierung“ verspricht Wissenschaftlichkeit und Rationalität, was erklärt, warum es beliebt und allseits konsensfähig erscheint. Und doch ergeben sich bei genauer Betrachtung erhebliche Probleme, wenn man versucht, dieses Postulat gerade im Bereich der Kriminalpolitik ernsthaft umzusetzen. Man kann dabei inhaltliche Probleme, die aus den Besonderheiten des Gegenstandsbereichs des Strafrechts folgen, von organisatorischen Problemen unterscheiden, die praktische Fragen des Austauschs von Wissenschaft und Politik betreffen.
1. Inhaltliche Probleme
a) Formulierung des Schutzgutes und Schädlichkeitskontrolle
Bereits bei der (genuin kriminalpolitischen) Frage, welche Verhaltensweisen der Gesetzgeber unter Strafe stellt (und auch stellen darf), ergeben sich Schwierigkeiten. Kurz gesagt erleben wir bereits hier, bei der Suche nach legitimen Schutzgütern von Strafnormen, eine Tendenz zur Normativierung, die zugleich eine Immunisierung gegenüber empirischer Überprüfung mit sich bringt. „Evidenzbasierung“ im oben beschriebenen objektiven Sinn läuft dann leer, die Entscheidung des Gesetzgebers wird zur reinen Wertung, die man mit wissenschaftlicher Erkenntnis in einem empirischen Sinn nicht in Frage stellen kann.
Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass das strafrechtliche Verbot eines Verhaltens (auch aus den erwähnten verfassungsrechtlichen Gründen) nur dann legitim ist, wenn dieses Verhalten für hinreichend gewichtige Güter und Interessen schädlich ist, ob man diese nun „Rechtsgüter“ nennt oder nicht.[10] Dabei enthält die Frage der „Gewichtigkeit“ eines Guts natürlich ein wertendes Element, das der Gesetzgeber ausfüllen muss und das man nicht aufgrund von empirischen wissenschaftlichen Erkenntnissen als „falsch“ qualifizieren kann. Anders ist dies bei der Frage der Schädlichkeit des Verhaltens, die auf tatsächliche Zusammenhänge Bezug nimmt und damit jedenfalls auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängt. Um konkreter zu werden: Taucht eine neue chemische Substanz auf, die möglicherweise völlig harmlos ist, deren Konsum möglicherweise aber auch schwere Gesundheitsschäden und körperliche Abhängigkeiten verursacht, ist bei der Frage eines strafrechtlichen Verbots des Besitzes und des Handeltreibens mit dieser Substanz offensichtlich der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über ihre Wirkungen zu berücksichtigen. Ein Verbot ist jedenfalls dann nicht (mehr) legitim, wenn sich herausstellt, dass das Mittel entgegen den ursprünglichen Befürchtungen keinerlei schädliche Wirkung für die Gesundheit der Konsumenten nach sich zieht.
Diese hier nur skizzierte „Schädlichkeitskontrolle“ in Bezug auf die pönalisierte Verhaltensweise wird dann erschwert oder sogar unmöglich gemacht, wenn man vage und zugleich abstrakte Rechtsgüter formuliert, die sich von tatsächlichen Wirkungszusammenhängen entfernen. Auch hierzu ein Beispiel: Wenn der Gesetzgeber Doping bei Leistungssportlern u.a. mit dem Argument verbietet, dass dadurch die „Fairness“ des Sports verletzt würde[11], wird ein stark wertausfüllungsbedürftiger Begriff zum Schutzgut einer Strafnorm gemacht, das man in fast allen Lebensbereichen durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen als „verletzt“ ansehen könnte. Auf tatsächliche Wirkungszusammenhänge wird dabei nicht Bezug genommen, so dass auch eine evidenzbasierte Kontrolle schwerfällt.[12] Gleiches gilt auch beispielsweise für die Verletzung der „Integrität des Sports“, die bei der Einführung des Sportwettbetrugs ins Feld geführt wurde.[13] Kritische Potenz hat ein solch weites Verständnis vom legitimen Schutzgut einer Strafnorm kaum.
b) Formulierung des Sanktionszwecks und Wirkungskontrolle
Das Problem der Normativierung und daraus folgender Immunisierung gegenüber wissenschaftlicher Evidenz lässt sich auch zeigen, wenn man die vom Gesetzgeber implementierte Sanktionsdrohung und deren Zielsetzung hinzunimmt.[14] Man befindet sich dann im uralten und nach wie vor nicht befriedigend gelösten Streit über die Strafzwecke.[15] Folgt man der in der Rechtsprechung herrschenden schuldorientierten Vereinigungstheorie[16], kommt es (bei aller ergänzender präventiver Rhetorik) entscheidend auf den durch Strafe bewirkten „Schuldausgleich“ an, anders formuliert: es geht um Vergeltung. Das ist eine absolute Strafbegründung, die ausdrücklich nicht auf empirisch messbare Zusammenhänge oder Wirkungen der Strafe abhebt – um Prävention soll es definitionsgemäß ja gerade nicht gehen. Ohne dass ich das hier vertiefen kann, meine ich, dass gerade die Betonung der entscheidenden Rolle des angeblichen Strafzwecks des „Schuldausgleichs“ jede empirische Überprüfung hinfällig macht und damit auch einer ernst zu nehmenden „Evidenzbasierung“ im Bereich der strafrechtlichen Sanktionierung im Weg steht.[17]
Man denke sich zur Veranschaulichung des Problems eine (fiktive) Begründung in einem Gesetz, das eine der derzeit üblichen Strafschärfungen enthält: „Die bisher vorgesehene Höchststrafe von fünf Jahren genügt nicht zur Vergeltung bzw. zum Ausgleich der Schuld. Dafür sind zwingend bis zu 10 Jahre erforderlich“. Welche gegenläufigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sollte man dieser Behauptung entgegenstellen? Interessanterweise verlässt sich der Gesetzgeber selbst selten auf eine solche offen absolute Strafbegründung. Er arbeitet vielmehr in der Regel mit Hinweisen auf präventive Wirkungszusammenhänge, allerdings oft etwas verklausuliert, so dass die Formulierung einer zu überprüfenden Zielsetzung des Gesetzes, die dann Gegenstand einer wissenschaftlichen Evaluation sein könnte, schwerfällt.
Beliebt ist in diesem Zusammenhang die Redeweise vom unzureichenden „Schutz“ bestimmter Opfergruppen, der verbessert werden müsse. Exemplarisch kann auf einen Gesetzesentwurf des Saarlandes zur Reform von § 113 StGB aus dem Jahr 2015 verwiesen werden, in dem sich folgende Passage findet:
„Die geltende Rechtslage bietet für Gewaltstraftaten gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern der Polizei und der Justiz sowie Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die dadurch, dass sie im Rahmen ihrer Dienstausübung das Gewaltmonopol des Staates repräsentieren, in gesteigertem Ausmaß Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sind, keinen ausreichenden Strafrechtsschutz.“[18]
Statt vom „Schutz“ ist bei neueren Gesetzesvorhaben oft auch – martialischer – von der „Bekämpfung“ die Rede. So heißt es etwa in der Begründung des Gesetzes zur Reform der §§ 73 ff. StGB, dass eine „nachhaltige Kriminalitätsbekämpfung“ eine wirksame strafrechtliche Vermögensabschöpfung voraussetze.[19]
Wenn nun aber mit einer den status quo verschärfenden Neuregelung mehr „Schutz“ bewirkt bzw. Kriminalität „bekämpft“ werden soll, setzt das doch an sich voraus, dass die härtere Sanktionierung tatsächlich zu weniger entsprechenden Straftaten führt – eine voraussetzungsreiche Annahme, die nach den Ergebnissen der Generalpräventionsforschung[20] sehr skeptisch zu beurteilen ist. Entsprechende Vorher-Nachher-Untersuchungen sind methodisch aufwändig, aber nicht unmöglich. Sie wären konsequent, wenn man die Legitimität der Neuregelung wirklich von einem generalpräventiven Effekt abhängig machen würde. Dies würde dann auch der oben erwähnten Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers entsprechen. Dazu kommt es aber auch deshalb nicht, weil der präventive, Straftaten reduzierende Effekt vom Gesetzgeber wie gesehen nicht klar formuliert wird und damit auch nicht zur Bedingung der Legitimität des Gesetzes gemacht wird. Damit wird die im aktuellen Koalitionsentwurf erwähnte „Evaluation“ von Gesetzen anhand „kriminologischer Evidenzen“ im Ergebnis jedenfalls bislang nicht ernsthaft ins Auge gefasst.
Das liegt auch daran, dass regelmäßig (wenn man wohlwollend ist: der Logik der Vereinigungstheorien folgend) noch ergänzende Regelungszwecke ins Spiel gebracht werden, die teilweise aber einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. So heißt es im eben erwähnten Gesetzentwurf zur Reform von § 113 StGB weiter:
„Diese Fallkonstellationen erfordern einer von den allgemeinen Strafvorschriften in §§ 223 ff., 240 ff. StGB abgesetzten eigenständigen strafrechtlichen Unrechtstypisierung durch den Gesetzgeber, da die Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht als individuelle Person, sondern um ihrer Funktion als Repräsentantin/Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols willen angegriffen werden.“[21].
Hier stellt sich die Frage, ob denn die „eigenständige strafrechtliche Unrechtstypisierung“, quasi als Selbstzweck unabhängig vom zuvor formulierten präventiven Schutzgedanken, zur Legitimation der Norm beitragen soll. Das wäre problematisch, denn jede Strafnorm typisiert ihrem Wesen nach bestimmte als Unrecht qualifizierte Verhaltensweisen. Unrechtstypisierung ist mit anderen Worten nur die Beschreibung des Inhalts der Strafnorm, der nicht zugleich der die Norm legitimierende Zweck sein kann.[22] Eine „Wirkungskontrolle“ in Bezug auf diesen Zweck würde offensichtlich wenig Sinn ergeben, was übrigens auch für den teilweise bemühten Zweck gilt, eine „angemessene Ahndung“[23] oder eine „schuldangemessene“ Sanktionierung[24] zu ermöglichen.
Eine ähnlich tautologisch bzw. zirkulär anmutende Begründung findet sich in einem aktuellen Gesetzentwurf der Länder Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Saarland zur Strafbarkeit des sog. „Upskirtings“. Es geht dabei um das Erstellen heimlicher Bildaufnahmen des an sich durch Kleidung geschützten Intimbereichs anderer Personen, z.B. durch Fotografieren „unter den Rock“, das in einem neuen § 184k StGB erfasst werden soll.[25] Wenn es im Entwurf heißt, das Gesetz verfolge u.a. den Zweck, dass Täter in Zukunft für entsprechende Verhalten auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten,[26] ist das eine erkennbar schwache Begründung;[27] denn der Umstand, dass ein bestimmtes Verhalten für strafbar erklärt wird, ist das automatische Ergebnis jeder Pönalisierung und ersetzt nicht die Formulierung eines Zwecks, dessen Eintritt oder Nicht-Eintritt man sinnvoll überprüfen könnte. Auch die weiteren im Entwurf aufgelisteten Zwecke der geplanten Strafbarkeit sind teilweise problematisch. So soll durch die Einführung der Strafbarkeit „das Unrecht derartiger Taten in das Bewusstsein der Bevölkerung gebracht“ werden.[28] Das ist immerhin ein messbarer Effekt, der für sich genommen aber wenig Gewicht hat, wenn man ihn nicht mit einem damit verbundenen Präventionseffekt durch Verhaltensänderung verbindet. Wenn die Sensibilisierung für das Unrecht einer Tat aber nur die Vorstufe einer erhofften straftatreduzierenden Wirkung ist, stiftet es eher Verwirrung, sie scheinbar gleichrangig neben den an dieser Stelle ebenfalls erwähnten präventiven Zielen des Opferschutzes und der Abschreckung zu platzieren.
Manchmal wird davon gesprochen, dass durch eine Reform des geltenden Rechts den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung Rechnung getragen werden soll.[29] Letztere sind prinzipiell mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung erforschbar – aber es ist sehr umstritten, ob es straftheoretisch gerechtfertigt ist, das „Ob“ und das „Wie“ staatlichen Strafens an den Erwartungen und Vorstellungen der Allgemeinheit auszurichten.[30] Nach hier vertretener Ansicht lässt sich das zumindest in Bezug auf Strafbarkeitseinschränkungen und Strafmilderungen auf der Grundlage des Strafzwecks der verhältnismäßigen Generalprävention bejahen.[31] Unabhängig davon sollte es aber selbstverständlich sein, dass der Gesetzgeber gehalten ist, entsprechende Behauptungen über Vorstellungen der Allgemeinheit zumindest mit Quellenangaben zu belegen, wenn er diese schon als Argument für Gesetzesänderungen verwendet. Nur so wird Transparenz hergestellt, nur so lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht eine Kontrolle der entsprechenden Befunde (sofern sie existieren und publiziert sind) sicherstellen.
Ein Beispiel, wo dieses Postulat nicht beachtet wurde, ist die Reform der 2009 eingeführten Kronzeugenregelung in § 46b StGB im Jahre 2013.[32] Ursprünglich galt die Strafmilderungsmöglichkeit für die im Gesetz sog. „Aufklärungs- und Präventionshilfe“ auch bei inkonnexen Sachverhalten. Der Kronzeuge konnte in seinem eigenen Strafverfahren also auch dann mit Nachsicht rechnen, wenn er Informationen zu Straftaten lieferte, die mit der ihm vorgeworfenen Tat in keinem Zusammenhang standen. Straftheoretisch ließ sich dies nach hier vertretener Ansicht durchaus rechtfertigen.[33] Anders sah dies der Gesetzgeber, der der Meinung war, dass die Strafmilderung bei inkonnexen Sachverhalten nicht in einem „vor allem für das Opfer und die rechtstreue Bevölkerung“ nachvollziehbaren Einklang mit dem Schuldprinzip stehe.[34] Vielmehr könne die ursprüngliche Regelung das „Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts“ beeinträchtigen[35]. Mit dieser Begründung wurde der Anwendungsbereich der Norm, kaum vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten, wieder reduziert.
Es ist bemerkenswert, dass sich der Gesetzgeber hier weniger zu einer eigenen Wertung bekennt, wonach durch eine angeblich zu milde Bestrafung des Kronzeugen das Schuldprinzip verletzt sei (was im Sinne einer absoluten Strafbegründung, die auf Schuldausgleich setzt, durchaus konsequent wäre). Vielmehr beruft er sich maßgeblich auf die vermeintliche Einschätzung der Opfer von Straftaten sowie der Allgemeinheit, dass hier schuldunangemessen gestraft werde und ein damit verbundenes erschüttertes Vertrauen der Bevölkerung. Die zuletzt genannten Aspekte wären immerhin zumindest im Grundsatz empirisch überprüfbare tatsächliche Umstände – entsprechende Forschungsergebnisse gab es zum damaligen Zeitpunkt allerdings nicht, so wie insgesamt damals noch kaum Erkenntnisse über die Anwendungspraxis von § 46b StGB vorlagen. Das hinderte den Gesetzgeber nicht, die Reform zu diesem frühen Zeitpunkt mit dieser Begründung (man muss eher sagen: Behauptung) durchzusetzen.[36] Die Anregung des Verfassers im Rahmen der Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestags, man möge doch abwarten, bis Forschungsergebnisse vorliegen und dann auf dieser Grundlage (mit anderen Worten: evidenzbasiert) entscheiden, blieb leider ungehört. Mittlerweile zeigen die vorliegenden empirischen Daten, dass die Norm in der Praxis sehr maßvoll angewendet wird und dass zumindest die von uns befragten Jura-Studierenden mit einer Strafmilderung für Kronzeugen auch bei inkonnexen Sachverhalten ganz überwiegend kein Problem haben[37], so dass nichts dafür spricht, dass die Bevölkerung insgesamt durch eine solche Praxis geradezu „erschüttert“ wird. Ein zentrales Argument, dass zur Einschränkung einer Strafmilderungsnorm verwendet wurde, kann damit zwar nicht als widerlegt, aber doch im Licht aktueller Forschungsergebnisse als zweifelhaft gelten. Eine solche Entwicklung sollte eigentlich Anlass sein, über die Korrektur einer Regelung nachzudenken, ganz im Sinne der oben erwähnten Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht (ohne damit die Verfassungswidrigkeit des status quo behaupten zu wollen).
Man könnte die Beispiele beliebig vermehren, wofür hier der Platz fehlt. Abschließend soll nur noch auf den Bereich des Jugendstrafrechts eingegangen werden. Auch hier lässt sich die unklare Gemengelage von prinzipiell empirisch überprüfbaren präventiven Zwecken (deren Überprüfung aber nicht ernsthaft eingefordert wird) und gegen evidenzbasierte Kritik immunisierten abweichenden Zielsetzungen zeigen. Das ist besonders bemerkenswert, da vor dem Hintergrund des in § 2 Abs. 1 JGG verankerten Erziehungsgedankens eine Evidenzbasierung und Wirkungsorientierung bei den jugendstrafrechtlichen Sanktionen besonders nahe liegt. Aber auch hier zeigen sich schnell ganz ähnliche Probleme und Hürden, wie sie oben in Bezug auf das allgemeine Strafrecht beschrieben wurden.
Als Beispiel kann auf das Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012 verwiesen werden.[38] In der Begründung des Gesetzentwurfs bekennt sich der Gesetzgeber an sich mit erfreulicher Klarheit zu einer fortlaufenden Wirkungskontrolle, gerade im Hinblick auf den angestrebten positiven erzieherischen Effekt, der zu weniger Straftaten führen soll:
„Unabhängig von der Entwicklung der Jugendkriminalität insgesamt verlangt die damit verbundene Wirkungsorientierung der jugendkriminalrechtlichen Reaktionen und Sanktionen und auch des Jugendstrafverfahrens eine beständige Überprüfung auf kriminologischer und empirischer Grundlage, ob die gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die genannte Zielsetzung (= Verhinderung von Straftaten, J.K.) noch ausreichend und angemessen sind. Gleichzeitig ist eine beständige Beobachtung der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen in der Praxis geboten“.[39]
Das klingt nach einem starken Bekenntnis zu evidenzbasierter Evaluation. Blickt man dann aber auf die konkreten vorgeschlagenen Maßnahmen und ihre Begründung, wird man enttäuscht. So soll es beim in § 16a JGG neu eingeführten sog. „Warnschussarrest“, also der Koppelung von Jugendarrest und bedingter Jugendstrafe, darum gehen, einen Impuls zur Verhaltensänderung zu setzen, aber zugleich darum, das Unrecht der Tat zu verdeutlichen.[40] Dabei bleibt unklar, ob „Unrechtsverdeutlichung“ ein eigenständiger Zweck der Sanktionierung sein soll, unabhängig von einem damit tatsächlich erzielten positiven erzieherischen Effekt. Sollte dies der Fall sein, wird eine empirische Wirkungskontrolle obsolet, denn ob eine Sanktion in ausreichender Weise das „Unrecht verdeutlicht“ hat (oder ob dies auch von einer milderen Sanktion erzielt worden wäre) lässt sich ebenso wenig messen und überprüfen wie die Frage, ob mit dieser Sanktion in ausreichender oder vielleicht sogar übermäßiger Weise „Schuld ausgeglichen“ wurde.
Eine ausdrückliche Verabschiedung evidenzbasierter Kontrolle findet sich dann bei der ebenfalls im genannten Gesetz vorgenommenen Heraufsetzung der Höchststrafe für Mord mit besonders schwerer Schuld bei Heranwachsenden von zehn auf fünfzehn Jahre Jugendstrafe gem. § 105 Abs. 3 S. 2 JGG. Zur Begründung dieser Strafschärfung wird ausgeführt:
„In Fällen besonders grausamer oder anderer besonders schwerer Mordverbrechen von Heranwachsenden wurde dieses Höchstmaß wiederholt nicht nur von Teilen der Öffentlichkeit und der Kriminalpolitik, sondern vereinzelt auch in Verlautbarungen von Vorsitzenden erkennender Gerichte als unzureichend angesehen, um dem Ausmaß der Schuld gerecht zu werden“.[41]
Wir kennen diese Argumentation, bei der man sich entscheidend ohne jede Quellenangabe auf das angebliche Rechtsgefühl namentlich nicht genannter Personen beruft, bereits von der oben beschriebenen Reform von § 46b StGB. Der Unterschied ist nur, dass der Gesetzgeber sich hier noch deutlicher zum zweckfreien Schuldausgleich bekennt, bei dem aus präventiver Sicht dysfunktionale Effekte durch langjährigen Freiheitsentzug schlicht in Kauf genommen werden. Nichts anderes ist gemeint, wenn der Gesetzgeber ausführt:
„Es geht dabei auch um eine ethische und gesellschaftliche Wertung, die der Gesetzgeber als Grundentscheidung zu treffen hat und hinter der gegebenenfalls kriminologische Bedenken zurücktreten müssen“.[42]
Von Evidenzbasierung im engen Sinn bleibt also jedenfalls in diesem Bereich der Schwerstdelinquenz auch im Jugendstrafrecht nichts übrig – wo keine messbare Wirkung angestrebt wird, sondern nur nicht genauer definierten oder belegten „Wertungen“ gefolgt werden soll, gibt es wenig Ansatzpunkte für eine empirische Wirksamkeitskontrolle.
2. Organisatorische Probleme
Daneben existieren organisatorische Probleme, die den Austausch von Wissenschaft und Politik erschweren. Wer systemtheoretisch denkt, könnte behaupten, dass eine wechselseitige Beeinflussung ohnehin unmöglich sei, weil beide Systeme nach ganz eigenständigen Regeln funktionieren. So pessimistisch muss man das nicht sehen, es gibt durchaus gelungene Beispiele, wo wissenschaftliche Einflüsse auf politische Entscheidungen nachweisbar sind.
Aber oft gelingt das eben nicht, und zwar auch aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, unter denen in beiden Bereichen gearbeitet wird. Forschung braucht Zeit, der Politikbetrieb hat in der Regel keine. Anfragen zu bestimmten Themen, auch im Hinblick auf eine Tätigkeit als Sachverständiger, erfolgen nicht selten mit sehr wenig zeitlichem Vorlauf und sind schon deshalb nicht immer leicht zu erfüllen. Zudem liegen empirische wissenschaftliche Erkenntnisse oft noch nicht vor, wenn ein bestimmtes Thema gerade auf der politischen Agenda steht – auf das Beispiel der Reform von § 46b StGB wurde oben bereits hingewiesen. Immerhin hatte die letzte Regierung in ihrem Koalitionsvertrag sogar eine Evaluation der Regelung verankert, was dann aber vermutlich auch mit Blick auf unsere damals noch laufende Augsburger Studie nicht weiterverfolgt wurde. Nun liegen deren Ergebnisse vor, aber die bisherigen Rückmeldungen aus Berlin klingen nicht so, als habe man weiterhin Interesse an evidenzbasierter Nachbesserung. Das Thema ist offenbar „durch“.
Ganz ähnlich dürfte es bei § 16a JGG laufen. Die gesetzliche Einführung des oben bereits erwähnten „Warnschussarrests“ war – an sich vorbildlich – mit einem Evaluations-Auftrag flankiert worden. Die darauf beruhende bundesweite Studie[43] wurde mittlerweile durchgeführt, mit durchaus ambivalenten Ergebnissen – ob diese nun aber Anlass zu Reformüberlegungen sein werden, ist ungewiss. Das gleiche Schicksal könnte auch unsere Augsburger Studie zum „Warnschussarrest“ erleiden, die vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz gefördert wurde und deren Ergebnisse mittlerweile vorliegen und bald publiziert werden.[44] Auch dieses Thema scheint auf der kriminalpolitischen Agenda nicht ganz oben zu stehen, worauf man als Forscher letztlich wenig bis gar keinen Einfluss hat.
V. Lösungsansätze
1. Inhaltliche Probleme
Wie könnten nun Lösungsansätze aussehen? Was die inhaltlichen Probleme angeht, sollte man sich nicht zu viel Hoffnung machen: Solange mit „Schuldausgleich“ ein empiriefreier Strafzweck allseits anerkannt ist und der Gesetzgeber darüber hinaus mit tautologischen Regelungszwecken wie „Unrechtsverdeutlichung“ oder „Ahndung“ operiert, wird die im Koalitionsvertrag hervorgehobene evidenzbasierte Evaluation von Strafgesetzen ein zahnloser Tiger bleiben. Auch die oft mit „Schutz“ oder „Bekämpfung“ umschriebenen tatsächlich eintretenden präventiven Wirkungen gesetzgeberischer Maßnahmen werden in der Regel nicht klar und vor allem nicht als echte Legitimationsbedingung formuliert. Daher würde auch eine Falsifikation der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Wirkungsannahmen (die zugegebenermaßen aufgrund methodischer Probleme nicht immer einfach zu erzielen sein wird) ein Gesetz in der Regel nicht zu Fall bringen.
Was die Redeweise von der „Evidenzbasierung“ immerhin voranbringen könnte, wäre eine Sensibilisierung des Gesetzgebers für den Anspruch, dass bei der Beschreibung von Zielsetzungen, die mit einer kriminalpolitischen Maßnahme verbunden werden, möglichst klare und empirisch überprüfbare Formulierungen verwendet werden. Diese könnten dann die Grundlage einer (idealerweise mit öffentlichen Mitteln geförderten) unabhängigen wissenschaftlichen Evaluation sein. Und dann muss man auch noch den Mut haben, gesetzgeberische Entscheidungen rückgängig zu machen, die auf (wie man dann aufgrund neuer Forschungsergebnisse weiß) zweifelhaften Annahmen beruhten.
2. Organisatorische Probleme
Welche Verbesserungen sind in organisatorischer Hinsicht denkbar? Zunächst sollte man anerkennen, dass die Situation so schlecht nicht ist, gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern, wo der Einfluss der Wissenschaft auf Gesetzgebung und Justizpraxis dem Vernehmen nach geringer ist. Immerhin: Der nationale Gesetzgeber nimmt bei seiner Arbeit Bezug auf wissenschaftliche Ergebnisse und Diskussionen. Sachverständige werden ganz regelmäßig im Rahmen von Anhörungen eingebunden, wenn auch spät. Es gibt wichtige Forschungsinstitutionen wie das MPI in Freiburg, das KFN in Hannover, die KrimZ in Wiesbaden oder das Nationale Zentrum Kriminalprävention in Bonn, die allesamt empirische Untersuchungen durchführen, teilweise auch im Auftrag staatlicher Behörden.
Ein positives Beispiel des Zusammenwirkens von Politik und empirischer Wissenschaft sind die beiden Periodischen Sicherheitsberichte, die sehr ausgewogen und wissenschaftlich fundiert über die Kriminalitätslage in Deutschland berichtet haben. Leider ist dieser Bericht seit 2006 nicht mehr neu erschienen; im aktuellen Koalitionsvertrag ist aber eine Neuauflage anvisiert, was uneingeschränkt zu begrüßen ist. Auch Foren wie der Deutsche Juristentag bewirken einen Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik – wenngleich die 2018 auf der Grundlage eines Gutachtens des Verfassers[45] diskutierte Thematik der Reform des Strafzumessungsrechts bislang wenig politische Aktivitäten hervorgebracht hat. Ein leuchtendes Beispiel für offensichtlich evidenzbasierte Kriminalpolitik ist dagegen die Einführung der Wiedergutmachungsnorm des § 46a StGB im Jahre 1994.[46] Sie wurde von mehreren wissenschaftlichen Vorarbeiten beeinflusst, vor allem dem DJT-Gutachten von Heinz Schöch,[47] dem Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung[48] sowie einer empirischen Studie von Sessar, der zeigen konnte, dass Strafmilderungen nach Wiedergutmachung bei der Bevölkerung auf Akzeptanz stoßen.[49]
Um zu vermeiden, dass solche Beispiele eher glückliche Ausnahmen bleiben, sollte man über Mittel und Wege einer verbesserten Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft nachdenken. Ein bereits jetzt teilweise genutztes Mittel könnten die Ankündigungen in Koalitionsverträgen sein, die auf kommende Themen, vielleicht auch auf anstehende und zu fördernde Forschungsprojekte hinweisen.
Auch das derzeit noch stark von persönlichen Bekanntschaften und Netzwerken abhängige Sachverständigen-Gutachterwesen könnte besser organisiert werden. Vielleicht ließe sich eine Art Anmeldemöglichkeit schaffen, mit der man sich als Wissenschaftler für bestimmte Themenbereiche als potenzieller Sachverständiger registrieren lässt? Insgesamt wäre eine möglichst frühzeitige Einbindung von wissenschaftlichem Sachverstand in die Gesetzgebung wünschenswert. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass im Rahmen von offiziellen Anhörungen zu bereits existierenden Gesetzentwürfen die wichtigsten Entscheidungen meist schon gefallen sind, so dass zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Einfluss genommen werden kann. Ideal wäre also ein Austausch schon vor oder während des Stadiums der Entwurfsfassung.
Bedenkenswert wäre es auch, erhöhte formale Anforderungen an Gesetzesentwürfe zu stellen. Es sollte zur Selbstverständlichkeit werden, dass vom Gesetzgeber in der Begründung erwähnte und der Regelung zugrunde gelegte tatsächliche Annahmen (auch in Bezug auf die erstrebte Wirkung des jeweiligen Gesetzes) mit Quellenangaben versehen werden, um diese Annahmen besser nachvollziehen und überprüfen zu können.
Auch sollte sich zukünftig jeder Gesetzentwurf standardisiert zur Frage verhalten, ob eine Evaluierung des Gesetzes (und wenn ja in welcher Hinsicht) geplant ist. Der Gesetzentwurf zur Reform des Einziehungsrechts aus dem Jahr 2016 enthielt unter VII. den Gliederungspunkt „Befristung und Evaluierung“, der aber ausdrücklich leer blieb.[50] Der Nationale Normen-Kontroll-Rat hat genau diesen Umstand kritisiert: Damit bleibe „ein wichtiges Instrument der besseren Rechtsetzung ungenutzt“[51]. Das sollte in Zukunft häufiger beachtet werden, ganz im Sinne der oben erwähnten Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers.[52]
Generell sollte über Möglichkeiten der weiteren Verstetigung und ggf. auch Institutionalisierung des Dialogs von Wissenschaft und Politik nachgedacht werden – der Kriminalpolitische Kreis[53], dem der Verfasser angehört, könnte sich insofern auch in der Zukunft als geeignete Plattform erweisen.
[1] Vgl. zum Folgenden Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014, S. 2 f.
[2] Nachweise bei Hamann, S. 3 f.
[3] Siehe nur Sherman u.a., Evidence-based Crime prevention, 2002.
[4] Rössner u.a., Düsseldorfer Gutachten, 2002. Siehe dazu auch Coester, in: Walsh/Pniewski/Kober/Armborst, Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland, 2018, S. 37 ff.
[5] Vgl. Hamann, S. 1: „Wenn Recht nicht nur gerecht, sondern auch sachgerecht sein will, kommt es nicht umhin, Sachlagen zu erfassen, also Erfahrungswissen zu berücksichtigen“ (Hervorhebungen im Original).
[6] Umfassend dazu Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014.
[7] Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Hamann, S. 37 m.w.N.
[8] BVerfGE 25, 1 (12 f.); 49, 89 (130); 95, 267 (314 f.): Dort wird dem Gesetzgeber angesichts der Komplexität der Materie auch eine „angemessene Frist zur Sammlung von Erfahrungen“ zugebilligt – der von politischen Entscheidungsträgern oft ins Feld geführte Zeitdruck ergibt sich also in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht aus dem Verfassungsrecht.
[9] BVerfGE 133, 168 (194 ff. und 235 f).
[10] Auf diese Debatte kann hier nicht näher eingegangen werden, siehe dazu nur Engländer, ZStW 127 (2015), 616 und Kudlich, ZStW 127 (2015), 635 sowie Roxin, GA 2013, 433. Die verfassungsrechtlichen Dimensionen der Rechtsgutstheorie werden umfassend erörtert bei Kaspar (Fn. 6), S. 205 ff.
[11] Vgl. nur Maas, NStZ 2015, 305 (307).
[12] Denkbar wäre es, durch repräsentative Umfragen empirisch zu ermitteln, ob die Allgemeinheit von einem (strafwürdigen!) Fairnessverstoß ausgeht. Zu diesem Ansatz s. sogleich im Text.
[13] BT-Drs. 18/8831, S. 10.
[14] Nicht weiter vertieft wird hier die Ebene der konkreten Strafzumessung durch das Gericht. Auch insoweit stellen sich ganz ähnliche Probleme wie sie im Text beschrieben werden: das Maß der „Schuld“ (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1 StGB) lässt sich evidenzbasiert überhaupt nicht ermitteln, und bei den einer Evidenzbasierung prinzipiell zugänglichen präventiven Entscheidungselementen (etwa den spezialpräventiven Folgen der Bestrafung gem. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB oder den Belangen der „Verteidigung der Rechtsordnung“) wird diese nicht ernsthaft eingefordert.
[15] Überblick bei Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 2 ff; siehe auch Kaspar, AT, 3. Aufl. (2019), §1 Rn. 8 ff. sowie Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. (2017).
[16] Vgl. nur Roxin, AT I, § 3 Rn. 33 ff.
[17] S. dazu näher Kaspar (Fn. 6), S. 130 ff.
[18] BR-Drs. 187/15, S. 3.
[19] BT-Drs. 18/9515, S. 1 sowie ähnlich S. 45.
[20] S. nur Kaspar (Fn. 6), S. 398 ff.
[21] BR-Drs. 187/15, S. 5.
[22] S. dazu näher Kaspar (Fn. 6), S. 120 ff. und 138 ff.
[23] So heißt es etwa im aktuell kursierenden Referenten-Entwurf des Bundesjustizministeriums zur Bekämpfung (!) von Unternehmenskriminalität auf S. 1 (und erneut auf S. 50), dass die Neuregelung u.a. dem Ziel diene, eine „angemessene Ahndung“ von Verbandsstraftaten zu ermöglichen.
[24] Vgl. etwa BT-Drs. 18/11272, S. 1 und S. 14 (in Bezug auf die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Fahrverbots).
[25] Mittlerweile wurde der Entwurf in den Bundestag eingebracht, siehe BT-Drs. 19/15825. Die Bundesregierung lehnte in ihrer Stellungnahme (siehe a.a.O., S. 25) zwar die Einführung eines neuen § 184k StGB ab, spricht sich jedoch ebenfalls für eine Kriminalisierung des sog. „Upskirtings“ in Form einer Anpassung des § 201a StGB aus. In ihrem eigenen Gesetzentwurf vom 6.11.2019 (abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Verbesserung_Persoenlichkeitsschutz.html?__blob=, zuletzt abgerufen am 21.1.2020) fasst sich die Bundesregierung bezüglich der Ziele der Gesetzesänderung knapp. Es wird lediglich an verschiedenen Stellen auf die Ausweitung des strafrechtlichen „Schutzes“ verwiesen; auch hier stellt sich die oben im Text erörterte Frage, ob damit tatsächlich eine (messbare) Reduktion entsprechender Taten gemeint ist.
[26] BR-Drs. 443/19, S. 12.
[27] Vgl. auch Eisele/Straub, KriPoZ 2019, 367 (369).
[28] BR-Drs. 443/19, S. 12.
[29] Vgl. etwa BT-Drs. 18/9525, S. 45 und S. 65, wo im Zusammenhang mit der Reform der §§ 73 ff. StGB vom „Vertrauen der Bevölkerung in die Gerechtigkeit und die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung“ gesprochen wird.
[30] Vgl. zu dieser sehr kontroversen Frage die Beiträge in: Kaspar/Walter (Hrsg.), Strafen im Namen des Volkes?, 2019.
[31] Siehe dazu näher Kaspar, Verfassungsrechtliche Aspekte einer empirisch fundierten Theorie der Generalprävention, in: Kaspar/Walter, S. 61.
[32] S. zur Reform Christoph, Der Kronzeuge im Strafgesetzbuch, 2019, S. 85 ff., Kaspar/Christoph, Die „Kronzeugenregelung“ in der Rechtswirklichkeit – erste empirische Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt zur Aufklärungs- und Präventionshilfe gem. § 46b StGB, in: Neubacher u.a., Krise – Kriminalität – Kriminologie, 2016, S. 487 ff.; Christoph, KritV 2014, 82 ff.; Peglau, NJW 2013, 1910 ff.
[33] Vgl. Kaspar/Wengenroth, GA 2010, 453 ff.
[34] BT-Drs. 17/9695, S. 6.
[35] BT-Drs. 17/9695, S. 7.
[36] Krit. daher Christoph, S. 90; Christoph, KritV 2014, 91 f.
[37] Vgl. Christoph, S. 479 ff.
[38] BGBl. I 2012, S. 1854; s. dazu Höffler/Kaspar, RdJB 2018, 449.
[39] BT-Drs. 17/9389, S. 7.
[40] BT-Drs. 17/9389, S. 7.
[41] BT-Drs. 17/9389, S. 8.
[42] BT-Drs. 17/9389, S. 8.
[43] Klatt u.a., Evaluation des neu eingeführten Jugendarrests neben zur Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe (§ 16a JGG), 2016.
[44] Erste Ergebnisse bei Kaspar/Schmidt, Der „Warnschussarrest“ gem. § 16a JGG in Bayern, in: Boers/Schaerff, Kriminologische Welt in Bewegung, 2018, S. 382 ff. Siehe demnächst Schmidt, Die Koppelung von Jugendarrest und bedingter Jugendstrafe als sog. „Warnschussarrest“ gem. § 16a JGG (im Erscheinen).
[45] Kaspar, Sentencing Guidelines vs. freies richterliches Ermessen – Brauchen wir ein neues Strafzumessungsrecht? Gutachten C für den 72. Deutschen Juristentag, 2018.
[46] Siehe zur Entstehungsgeschichte näher Kaspar, Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, 2004, S. 97 f.
[47] Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C für den 59. Deutschen Juristentag, 1992.
[48] Baumann u.a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992.
[49] Sessar, Wiedergutmachen oder Strafen, 1992.
[50] BT-Drs. 18/9525, S. 60.
[51] BT-Drs. 18/9525, S. 111.
[52] Der kursierende Referenten-Entwurf zur Bekämpfung von Unternehmenskriminalität (Stand: August 2019) sieht auf S. 70 eine Evaluation des Gesetzes nach fünf Jahren vor, was zu begrüßen ist. Allerdings soll dabei u.a. auch geprüft werden, ob das Gesetz eine „angemessene“ Sanktionierung von verbandsbezogenem Unrecht ermöglicht hat, was schwer operationalisierbar ist und damit auch mit empirischen Forschungsmethoden nicht sinnvoll „evaluiert“ werden kann.
[53] Siehe dazu https://kriminalpolitischer-kreis.de.