Sarah Bayer: Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht

von Tino Haupt

Beitrag als PDF Version 

2019, Nomos, Baden-Baden, ISBN 978-3-8487-5495-3, S. 373, Euro 96,00.

I. Einleitung

Nur wenige Normen der Strafprozessordnung haben potentiell soviel Öffentlichkeitswirksamkeit wie die zur Wiederaufnahme in den §§ 359 ff. StPO. Dies haben in den letzten Jahren einige Fälle gezeigt, die in der Öffentlichkeit thematisiert und zumeist auch emotional diskutiert wurden.[1] Zum einen mag dies an den teils spektakulären Umständen der jeweiligen Sachverhalte liegen, zum anderen sind diese Fälle aber auch mit erheblichen rechtlichen Problemen verbunden. Mit der rechtlichen Betrachtung dieser Thematik setzt sich die zu Beginn des Jahres 2019 erschienene Dissertation von Sarah Bayer auseinander. Die Verfasserin stellt in ihrer Dissertationsschrift die historische und aktuelle Situation des Wiederaufnahmerechts in Deutschland, sowie rechtsvergleichend die Möglichkeiten zur Überprüfung rechtskräftiger Strafurteile nach geltendem französischem und englischem Recht dar, um hieraus letztendlich Ideen für eine Reform des deutschen Rechts zu gewinnen. Diese Darstellung mit Rechtsstand April 2018, erfolgt auf insgesamt 373 Seiten.

II. Zum Inhalt

Die Verfasserin beginnt ihre Ausführungen mit der Thematisierung von Grundlagenfragen zu Gerechtigkeit und Wahrheitsermittlung im Strafverfahren. Dabei stellt sie den Zusammenhang zwischen Recht und Gerechtigkeit, die Ziele des Strafprozesses, sowie die Problematik, dass die Wahrheitsermittlung nicht um jeden Preis möglich ist, dar. Die Frage nach der Häufigkeit von Fehlurteilen kann auch von ihr nicht beantwortet werden. In diesem Zusammenhang stellt sie jedoch die wesentlichen Gründe für Fehlurteile dar, die ihrer Ansicht nach unter anderem aufgrund falscher Rechtsanwendung entstehen können.

Nach diesem Kapitel, das auch dem Leser, der sich zuvor noch nicht vertieft mit dem strafrechtlichen Wiederaufnahmerecht beschäftigt hat, den Einstieg in die Thematik ermöglicht, widmet sich das zweite Kapitel der historischen Entwicklung des deutschen Wiederaufnahmerechts. Wie viele andere Normen der StPO, sind auch die Normen, die die Wiederaufnahme regeln, seit ihrem Inkrafttreten[2] unverändert geblieben. Beginnend mit der Darstellung des inquisitorischen Prozesses im gemeinen Recht erläutert Bayer auf etwa 70 Seiten die verschiedenen Entwicklungen und Veränderungen des Wiederaufnahmerechts im Laufe der Zeit. Dabei werden die Einflüsse des französischen akkusatorischen Prozesses ebenso wie die Reichsstrafprozessordnung von 1877 behandelt. Im Rahmen der Darstellung der Reichsstrafprozessordnung als erstes einheitliches Strafprozessrecht stellt sie die in diesem enthaltenen Wiederaufnahmegründe zugunsten und zuungunsten des Angeklagten, sowie das Verfahren der Wiederaufnahme prägnant auf etwa 20 Seiten dar. Zum Abschluss dieses Kapitels erfolgt die Erläuterung der Entwicklung nach Erlass der Reichsstrafprozessordnung, wobei Bayer hier den Fokus auf die Reform der Reichsstrafprozessordnung im Jahr 1924, die Änderungen in der NS-Zeit und schlussendlich die Entwicklungen seit 1945 legt.

Im Anschluss an die Darstellung der historischen Entwicklung dient das Augenmerk des dritten Kapitels dem geltenden deutschen Wiederaufnahmerecht. Dabei verfolgt die Verfasserin ein gleichermaßen verständliches, wie auch übersichtliches Schema: Zunächst werden die Wiederaufnahmegründe zugunsten und im Anschluss zuungunsten des Angeklagten erläutert. Sie schlüsselt die einzelnen Normen sehr detailliert auf, sodass dem Leser sich während der Lektüre entstehende Fragen sofort beantwortet werden. Dies erfolgt unter stets vorbildlicher Auswertung relevanter Rechtsprechungs- und Literaturquellen. Dem folgt die Darstellung des Verfahrens zur Durchführung einer Wiederaufnahme.

Sodann wendet sich Bayer der Situation in Frankreich zu. Dem französischen Recht sei, ihren einleitenden Bemerkungen zufolge, die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten fremd. Nach einer prägnanten Darstellung der historischen Hintergründe und auch der Bemühungen in den letzten Jahren für die Einführung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten erfolgt sodann schwerpunktmäßig die Thematisierung der bestehenden Wiederaufnahmemöglichkeiten zugunsten des Angeklagten. Die Vorgehensweise der Verfasserin ist hierbei ähnlich wie bereits bei der Darstellung der deutschen Rechtslage, sodass die relevanten Normen jeweils detailliert untersucht und hinterfragt werden.

Im fünften Kapitel befasst sie sich mit der englischen Rechtslage. Im Gegensatz zur bisherigen Darstellung besteht für die Erörterung der Situation in England nicht die Möglichkeit der Orientierung an einer einheitlichen legislativen Vorlage, wie es in Deutschland anhand der Strafprozessordnung und in Frankreich anhand des Code de Procédure pénale möglich ist. Sie schildert diese Problematik in aller Kürze und versucht sodann, dem englischen Recht Verfahren zu entnehmen, die dem kontinentaleuropäischen Wiederaufnahmeverfahren ähnlich sind. Dabei behält sie die für die anderen Jurisdiktionen verwendete Vorgehensweise weitgehend bei, wonach Rechtsmittel zugunsten und zuungunsten des Angeklagten, sowie das Verfahren dargestellt werden.

Das im Vergleich zu den bisherigen Ausführungen eher kurz ausfallende sechste und letzte Kapitel der Arbeit widmet sich insbesondere Reformüberlegungen in Bezug auf das deutsche Recht der Wiederaufnahme. Bayer sieht zum einen Änderungsbedarf, um bestehende Unklarheiten und offene Rechtsfragen im deutschen Recht zu klären. Dabei lässt sich eine Tendenz zu Änderungsvorschlägen erkennen, die für von einem Wiederaufnahmeverfahren betroffene Angeklagte vorteilhaft wären. So befürwortet sie unter anderem die Beschränkung der § 362 Nr. 1 bis 3 StPO auf Fälle der Veranlassung oder Zurechenbarkeit der die Wiederaufnahme begründeten Straftaten durch den Angeklagten. Weiterhin fordert sie zum Beispiel zum Schutz des Angeklagten die Abschaffung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten für die Fälle, in denen die reguläre Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist.  Zum anderen hält die Verfasserin aber auch die aus dem französischen und englischen Recht gewonnenen Erkenntnisse für diskussionswürdig, um Ideen für das deutsche Recht zu gewinnen. Aus diesen Erkenntnissen heraus diskutiert sie sowohl eine komplette Abschaffung der ungünstigen Wiederaufnahme als auch eine Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahmegründe und kommt zu dem Ergebnis, dass die ungünstige Wiederaufnahme zwar beizubehalten sei, gleichzeitig aber auch die Gründe für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nicht auszuweiten seien. Ihren Abschluss findet die Arbeit mit dem Fazit der Verfasserin, wonach das deutsche Wiederaufnahmerecht zwar keiner Änderung in seiner Grundkonzeption bedürfe, aber durchaus Bereiche bestünden, in denen Änderungen notwendig seien.

III. Stellungnahme

Mit Ihrer Darstellung zur strafrechtlichen Wiederaufnahme liefert Bayer einen umfassenden Überblick über die Rechtslage in den behandelten Ländern ab. In sprachlicher Hinsicht fällt auf, dass das Werk zumeist gut lesbar und verständlich geschrieben ist. Störend ist in diesem Zusammenhang aber die große Anzahl an wörtlichen Zitaten. Hierbei handelt es sich häufig um Gesetzeszitate, deren wörtliche Zitation zwar unumgänglich sein mag, die aber doch – stets in kursiver Schrift eingefügt – den Lesefluss immer wieder unterbrechen.

Der Verfasserin gelingt es durchgehend, sowohl die Wiederaufnahmegründe zugunsten, als auch zuungunsten des Angeklagten in ausgewogener Weise darzustellen. Dabei ist es ein großer Verdienst, das weite Feld der strafrechtlichen Wiederaufnahme nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern auch für Frankreich und England, übersichtlich in einem Werk darzustellen und so dem Leser zu ermöglichen, selbst neue Ideen aus anderen Rechtsbereichen zu schöpfen.

 

[1]      Vergleiche hierzu die von der Verfasserin angeführten Fälle: Bayer, Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht, 2019, S. 21 Fn. 2.
[2]      Einen guten Überblick über die Entwicklung der StPO und das Strafverfahrensrecht im Allgemeinen bieten Peters, Strafprozess, 4. Aufl. (1985) m.w.N., sowie Krey, JA 1983, 356-363.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen