Toni Böhme: Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht? Eine Untersuchung zu den Ursachen von Fehlurteilen im Strafprozess und den Möglichkeiten ihrer Vermeidung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2018, Nomos, Baden-Baden, ISBN: 978-3-8487-5285-0, S. 379, Euro 99,00.

Die Dissertation von Böhme geht der Frage nach, ob es sich bei Fehlurteilen in deutschen Strafverfahren um eine unvermeidbare Systemimmanenz oder um vermeidbare Irrtümer handelt. Außerdem werden Überlegungen angestellt, wie diese Fehler verringert oder gar verhindert werden können (S. 22).

Dazu beginnt er einleitend mit einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Fehlurteils“ (S. 25 ff.). Es wird zwischen Fehlurteil im engeren Sinne und Fehlurteil im weiteren Sinne differenziert. Unter einem Fehlurteil im engeren Sinne versteht der Verfasser eine gerichtliche Entscheidung, die der gerichtlich ermittelbaren Wahrheit nicht entspricht und daher falsch ist. Dem Gericht muss dabei ein kausaler und vermeidbarer Fehler bei der Sachverhaltsermittlung oder bei der Rechtsanwendung unterlaufen sein, der sich auf den Schuldspruch oder die Strafzumessung bezieht. Ein Fehlurteil im weiteren Sinne nimmt Böhme dann an, wenn die gerichtliche Entscheidung der historischen Wahrheit nicht entspricht und demnach ebenfalls falsch ist. Allerdings muss bei einem Fehlurteil im weiteren Sinn der aufgetretene Fehler nicht vermeidbar gewesen sein; ein kausaler Zusammenhang ist ausreichend. Sowohl das Fehlurteil im engeren als auch das Fehlurteil im weiteren Sinne müssen nicht rechtskräftig sein (S. 53 f.).

Im nächsten Schritt beleuchtet Böhme die Häufigkeit von Fehlurteilen. Da es keine Fehlurteilsstatistik gibt (S. 56), versucht er, Zahlen aus der Statistik Rechtspflege Strafgerichte zu gewinnen. Der Verfasser stellt aber zutreffend fest, dass sich keine Aussagen zur Häufigkeit von Fehlurteilen daraus ziehen lassen, da insbesondere die Daten zu den Rechtsmitteln keinen Schluss darüber erlauben, in welchem Umfang erfolgreiche Rechtsmittel auf Fehlurteile zurückgehen oder andere Ursachen haben (S. 62). Anleihen werden dann aus der Statistik über erbrachte Entschädigungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) genommen (S. 65 ff.). Diese Statistik weist für die Jahre 1971 bis 2014 insgesamt 476 Fehlurteile aus – umgerechnet ca. 13 Fehlurteile pro Jahr. Setzt man dies ins Verhältnis zu den strafgerichtlichen Erledigungszahlen, so kommt der Verfasser auf eine Fehlurteilsquote von ca. 0,0018 % (S. 74). Das ist wenig. Zu bedenken ist, dass es sich bei den Zahlen lediglich um das Hellfeld handelt (S. 77). Insofern ist insgesamt von einer deutlich höheren Quote auszugehen.

Im folgenden Kapitel gibt Böhme eine normative Übersicht über Möglichkeiten der Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur im Strafverfahren (S. 80 ff.). Hier wird ein bunter Strauß an prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Fehlervermeidung und -korrektur aufgezeigt. In ausnahmslos jedem Verfahrensabschnitt werden in großer Dichte Vorschriften verortet, die zum Teil sogar als „Sicherung in der Sicherung“ als Kontrolle der Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfsentscheidung dienen. Daher bescheinigt der Verfasser dem deutschen Verfahrensrecht in seiner theoretischen Grundlegung eine strenge Fehlervermeidungs- und Fehlerkorrekturphilosophie (S. 131).

Es schließt sich ein umfangreicher empirischer Abschnitt zu den Ursachen strafgerichtlicher Fehlurteile und Möglichkeiten ihrer Vermeidung an (S. 132-245). Dabei beschränkt sich die Studie auf die Identifikation von Fehlerquellen des Erkenntnisverfahrens, d.h. vom Beginn des Ermittlungsverfahrens bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens. Hier wird eine Kategorisierung und Systematisierung der Fehlergruppen vorgenommen, um die Ursachen für Fehlurteile übersichtlich herauszuarbeiten. Auf dieser Grundlage möchte der Verfasser die Möglichkeiten erarbeiten, die zu einer Vermeidung oder Verringerung dieser Fehler führen (S. 132).

Hierzu werden in einem ersten Schritt die älteren Studien zu Fehlurteilen von Hirschberg, Kiwit und Peters ausgewertet, kategorisiert und systematisiert. In einem zweiten Schritt werden zehn leitfadengestützte Interviews geführt (S.138). Schade ist, dass sich der Verfasser nicht dazu entschließen konnte, auch eine Aktenanalyse vorzunehmen (S. 134 f.), die doch einen erheblicheren Mehrwert an Erkenntnissen hätte generieren können als die alleinige Auswertung älterer Studien und von Experteninterviews. So bleibt zu hoffen, dass nach dieser Arbeit eine weitere Studie in diese Forschungslücke stößt.

Die drei Studien werden schön zusammengefasst und jeweils im Überblick die Fehlerquellen aufgeführt. Außerdem erfolgt eine kritische Betrachtung der jeweiligen Studie, wobei diese teilweise sehr knapp ausfällt. Zusammenfassend aus allen drei Studien arbeitet Böhme als Hauptfehlerquellen des Strafprozesses folgende Punkte heraus: den Personalbeweis, die (polizeiliche) Ermittlung, die (gerichtliche) Aufklärung, die richterliche Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung sowie die Ausgestaltung verschiedener gesetzlicher Vorschriften (S. 181). Dies klingt erst einmal danach, dass Fehlerquellen eben – fast – überall zu finden sind. Hilfreich ist die sich anschließende Tabelle, die die Stichpunkte etwas ausdifferenziert (S. 182 f.).

Es folgt eine Darstellung der Ergebnisse der Experteninterviews mit Strafrichtern an Rechtsmittelgerichten in Baden-Württemberg und am BGH (S. 184 ff.). Hier wäre wünschenswert gewesen, nicht nur einseitig den kritischen Blick der Strafrichter in den Fokus zu nehmen, sondern auch andere am Strafverfahren Beteiligte zu befragen, wie beispielsweise Strafverteidiger, Nebenkläger und Staatsanwälte.

Vor Darstellung der Interviewergebnisse wird die Auswahl der Richter und die Durchführung der Interviews sowie das Vorgehen bei der Auswertung vorgestellt. Zu der Häufigkeit strafgerichtlicher Fehlurteile werden unterschiedliche Aussagen getroffen. So geben 6 der10 Befragten überhaupt keine Einschätzung ab, die anderen gehen von eher geringen Quoten aus, wobei von zwei Experten gemutmaßt wird, dass Fehlurteile zugunsten der Angeklagten wesentlich häufiger vorkämen (S. 188 f.).

Die Experten verorten die zentralen Fehlerquellen im Strafverfahren auf der Sachverhaltsebene. Hier geben sie neben dem Grund des Zeitmangels auch den Personalbeweis, das Einlassungsverhalten des Beschuldigten/Angeklagten, die Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren und das Absprache- und Strafbefehlsverfahren an. Ferner werden als begünstigende Umstände für Fehler die Verkomplizierung des Rechts durch bspw. neue Straftatbestände und die mangelnde Fachkenntnis in Spezialrechtsgebieten angegeben.

Auf der Rechtsebene halten die Experten die Überzeugungsbildung des Gerichts generell und die Beweiswürdigung speziell für besonders fehleranfällig. Auch auf der Ebene der Strafzumessung verorten die Experten bedeutsame Fehlerquellen, insbesondere bei der fehlerhaften Darstellung von Strafzumessungserwägungen, bei der falschen Strafrahmenbestimmung, bei der fehlerhaften Gesamtstrafenbildung, bei der fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung des § 64 StGB, bei Verstößen gegen das Doppelverwertungsverbot und bei der unzulässigen strafschärfenden Berücksichtigung des Fehlens eines Strafmilderungsgrundes.

Der Verfasser resümiert, dass die Ergebnisse der Experteninterviews die Befunde der zuvor ausgewerteten Studien überwiegend bestätigt hätten. Allerdings wird entgegen der Studien den gerichtlichen Aufklärungsfehlern nur eine geringere Bedeutung zugewiesen. Dagegen sehen die Experten insbesondere auch die Personalbeweisschwäche als die zentrale Fehlerquelle im Strafverfahren an. Um dieser Schwäche zu begegnen, schlugen die Interviewpartner die Vermittlung von Kenntnissen in der Zeugen- und Aussagepsychologie vor.

Den durch den Zeit- und Erledigungsdruck bedingten Fehlern könne man nur durch eine Reduzierung der Arbeitsbelastung begegnen, so die befragten Richter. Die Personaldecke sei auf allen Ebenen der Strafjustiz zu verstärken. So wichtig die Experten diese Forderung auch einschätzen, so wenig besteht doch angesichts des politischen Sparvorbehalts die Hoffnung, dass dieser Forderung auch nachgekommen wird.

Die strukturellen Schwächen der Revision wollen manche der befragten Experten dadurch ausgleichen, dass sie die Revision um eine begrenzte Kompetenz des Revisionsgerichts zur Tatsachenüberprüfung erweitern. Eine allgemeine zweite Tatsacheninstanz lehnen sie aber ab.

Erstaunlicher Weise spricht sich die Mehrheit der befragten Richter gegen eine audiovisuelle Dokumentation der Zeugenvernehmung im Hauptverfahren aus. Die Bedenken bestehen primär in der vermuteten beeinflussenden Wirkung auf die Verfahrensbeteiligten. Dagegen sympathisieren einige der Befragten zumindest mit einer Aufzeichnung im Ermittlungsverfahren. Warum diese weniger beeinflussende Wirkung haben sollte, bleibt aber unklar.

Ebenfalls abgelehnt wird eine personelle Trennung von eröffnendem und erkennenden Spruchkörper im Zwischen- bzw. Hauptverfahren. Auch das Wiederaufnahmerecht wird als wirkungsvoll genug zur Korrektur von Fehlurteilen bewertet. Insgesamt weist Böhme aber darauf hin, dass die Antworten der Experten sehr heterogen ausfielen (S. 245).

In einem nächsten Abschnitt werden die verschiedenen Möglichkeiten der Fehlervermeidung im Strafverfahren diskutiert und Empfehlungen ausgesprochen (S. 246 ff.). Im Hinblick auf die Fehlervermeidungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Personalbeweis plädiert der Verfasser für vertiefende Ausbildungs- bzw. Fortbildungsbausteine im Bereich der Aussagepsychologie, Forensik, Kriminalistik und Vernehmungslehre. Zudem seien alle Vernehmungen im Ermittlungsverfahren und alle strafgerichtlichen Hauptverhandlungen auditiv zu dokumentieren (S. 299). Die Möglichkeit zur audiovisuellen Aufzeichnung im Strafprozess wurde durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens weiter gestärkt (BGBl. 2019 I, S. 2121 ff.), wenn es auch weit hinter den Forderungen umfassender Aufzeichnungspflichten zurückblieb.

Um gerichtliche Aufklärungsfehler zu vermeiden, spricht sich Böhme für eine Verstärkung des Personals in der deutschen Strafjustiz aus. Außerdem empfiehlt er, Assessoren im Staatsdienst möglichst für ein Jahr als Mitglied einer Strafkammer tätig werden zu lassen, um so vom Erfahrungsschatz älterer Kollegen zu partizipieren. Zudem sollten bundesweite Tutoren- und Patenprogramme sowie Assessorenrunden etabliert werden. Leichtfertiges und grob fahrlässiges Fehlverhalten von Richtern und Staatsanwälten sollte disziplinarrechtlich konsequent(er) geahndet werden (S. 317).

Fehler im Zwischenverfahren könnten dadurch vermieden werden, indem die Gefahren der Voreingenommenheit infolge der richterlichen Tätigkeit im Zwischenverfahren durch eine fehlurteilsspezifische Ausbildung im Referendariat und in Fortbildungen für Juristen deutlich gemacht würden. Zudem sei das Zwischenverfahren aufzuwerten und dem Angeklagten ein Rechtsbehelf gegen den Eröffnungsbeschluss einzuräumen. Für eine personelle Trennung des im Zwischenverfahren und Hauptverfahren entscheidenden Richters spricht sich Böhme dagegen – leider – nicht aus.

Letztlich hält der Verfasser eine Forschungsstelle für erforderlich, die Fehlerquellen des Strafprozesses erschließt, um Fehlurteile auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse besser vermeiden zu können (S. 337). Es ist sicher sinnvoll, die Forschung auf diesem Gebiet weiter zu betreiben.  Die umfangreiche  Studie von Peters  bedarf einer Fortsetzung und Aktualisierung. Die Arbeit von Böhme gibt nicht nur den Hinweis auf verschiedene Möglichkeiten, wie Fehlerquellen im Strafverfahren zu vermeiden sind. Sie zeigt auch Forschungslücken auf, die weiter zu befüllen sind. Aktenanalysen von Wiederaufnahmeverfahren sind hier ebenso in den Blick zu nehmen, wie spektakuläre, umstrittene Indizienurteile, in denen der steinige und häufig aussichtslose Weg der Wiederaufnahme nicht beschritten wird. Zusätzlich wäre es sicher wünschenswert, das sehr restriktive Instrument des Wiederaufnahmeverfahrens näher zu beleuchten und den Zugang zur Überprüfung von (Fehl-)Entscheidungen anzupassen und zu erleichtern.

 

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