Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BVerfG, Beschl. v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11: Sog. Elektronische Fußfessel ist verfassungsgemäß
Amtliche Leitsätze:
1. Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
2. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO ist materiell verfassungsgemäß:
a) Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Möglichkeit, den Aufenthaltsort eines Weisungsbetroffenen gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO anlassbezogen festzustellen, greift weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch führt sie zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren „Rundumüberwachung“.
b) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.
c) 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB verstößt nicht gegen das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine wesentliche Erschwerung der Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft oder der Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist nicht gegeben. Die mit der „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit sind jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter gerechtfertigt.
d) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verletzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. § 463a Abs. 4 StPO trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten Rechnung.
3. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat. Dessen Notwendigkeit kann sich im Einzelfall jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergeben.
4. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (sog. elektronische Fußfessel) an das BVerfG gewendet.
Diese war als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht nach einer langen Haftstrafe ihm gegenüber angeordnet worden, was er für einen ungerechtfertigten Eingriff in sein informationelles Selbstbestimmungsrecht, das Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gehalten hat.
Durch die Überwachung seines Aufenthaltsortes werde seine freie Willensbildung ausgeschaltet, da er letztlich nur noch ein Glied in einem umfassenden technisch-elektronischen Überwachungssystem sei. Zudem führe die Fußfessel zu einer sozialen Stigmatisierung, da es im engeren sozialen Kontext nicht möglich sei, die ihn als Schwerstverbrecher ausweisende Fußfessel zu verbergen.
Entscheidung des BVerfG:
Das BVerfG entschied, dass die Verfassungsbeschwerden zulässig aber unbegründet seien, da weder die gerichtliche Rechtsanwendung noch die abstrakte Rechtsgrundlage zur Anordnung der Überwachung verfassungswidrig seien. Die Möglichkeit zur Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in §§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht sei mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers vereinbar.
Zunächst stellte das BVerfG fest, dass der Bund für die elektronische Aufenthaltsüberwachung als Maßnahme der Führungsaufsicht die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG habe, da sie als staatliche Reaktion an die vorangegangene Begehung einer Straftat anknüpfe.
Im Weiteren führte der Senat aus, dass ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Dies begründete er damit, dass die Ermächtigung zur Beobachtung anlassbezogen ausgestaltet sei. Daneben sei eine Überwachung der Tätigkeit des Beobachteten gerade nicht möglich, da weder optische noch akustische Überwachung durch die Fußfessel möglich sei. Dadurch handele es sich nicht um eine sog. Rundumüberwachung, die den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns mache, da lediglich der Aufenthaltsort permanent aufgezeichnet werde, was beispielsweise die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils nichts erlaube.
Zwar stelle die Ermächtigungsgrundlage des § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO einen tiefgreifenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar, dieser sei jedoch gerechtfertigt und daher verfassungsgemäß. Dies folge unter anderem daraus, dass die Ermächtigungsgrundlage ihren Anwendungsbereich auf den Schutz sehr gewichtiger Rechtsgüter einschränke. Zudem müssten auch in Zukunft hinreichend schwere Straftaten zu erwarten sein und deren Begehung durch den Weisungsbetroffenen hinreichend konkret wahrscheinlich erscheinen.
Ebenfalls nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt werde das Recht auf Resozialisierung des ehemaligen Gefangenen als Ausprägung des allg. Persönlichkeitsrechts. Die elektronische Fußfessel erschwere die eigenverantwortliche Lebensgestaltung oder die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht wesentlich, so das BVerfG. Die Fußfessel lasse sich im Alltag verbergen und die durchaus höheren Belastungen bei intimen Kontakten seien gerechtfertigt, da auf der anderen Seite die hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung anderer geschützt würden.
Ein ebenfalls gerechtfertigter Eingriff sei in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben, da die Aufenthaltsdaten zwar permanent erhoben aber nicht auf unendliche Dauer gespeichert würden. Die Löschfrist von zwei Monaten (§ 463a Abs. 4 Satz 5 StPO) und die weiteren Vorgaben in § 463a StPO sorgten im Ergebnis für die Angemessenheit der Norm im verfassungsrechtlichen Sinne.
Die Berufsfreiheit sei schon mangels objektiv berufsregelnder Tendenz nicht betroffen.
Weitere Grundrechte des Beschwerdeführers seien ebenfalls, wie das Zitiergebot, nicht verletzt.
Anmerkung der Redaktion:
Die sog. elektronische Fußfessel zur Aufenthaltsüberwachung war am 22. Dezember 2010 durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen in das StGB eingeführt worden. Vorausgegangen war eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die deutsche Sicherungsverwahrung von über 10 Jahren für einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehalten hatte. Die daraus resultierende Freilassung vieler Sicherungsverwahrter führte zu einem massiven polizeilichen Überwachungseinsatz, den der Gesetzgeber durch Einführung der elektronischen Fußfessel abmindern wollte.
Mittlerweile ist ein Gesetzentwurf über den Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden, der die Führungsaufsicht stärken soll, indem die zwangsweise Anlegung der elektronischen Fußfessel ermöglicht werden soll. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.