Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
BVerfG, Beschl. v. 14.01.2021 – 2 BvR 2032/19: Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung bei Verstoß gegen § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO
Leitsatz der Redaktion:
Bestellt das Gericht einen Sachverständigen, der nur formal in einer organisatorisch getrennten Klinik arbeitet, stellt dies einen Verstoß gegen § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO dar, was den Begutachteten in seinem Freiheitsgrundrecht in der Ausprägung des Rechts auf bestmögliche Sachverhaltsaufklärung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) verletzt.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war vom Landgericht Freiburg – Jugendkammer wegen verschiedener Delikte verurteilt worden. Daneben war die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und von einer Jugendstrafe abgesehen worden.
Das für die Vollstreckung zuständige Amtsgericht hatte den Beschwerdeführer zur Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung angehört und festgestellt, dass das erforderliche externe Gutachten noch nicht in Auftrag gegeben war.
Gegen die Beauftragung des Sachverständigen hatte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer keine Einwände erhoben.
Später hatte er den Arzt wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, da er herausgefunden hatte, dass der Sachverständige teils in eigener Praxis und teils in einer Klinik desselben Krankenhausverbunds gearbeitet hatte, zu der auch die Unterbringungseinrichtung des Beschwerdeführers gehört hatte. Dies hätte gegen die Vorschrift des § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO verstoßen.
Das AG hatte nach dem Gutachten die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde ist vom LG Landau in der Pfalz verworfen worden, da keine Bedenken dagegen bestanden hätten, den beauftragten Gutachter im vorliegenden Fall als externen Sachverständigen im Sinne vom § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO anzuerkennen. Er sei neben seiner Tätigkeit in einem eigenen Sachverständigenbüro als Leiter der forensischen Ambulanz des Klinikums für Forensische Psychiatrie beschäftigt. Der Beschwerdeführer habe sich demgegenüber im „P.-Institut“ befunden. Der Sachverständige arbeite somit weder in dem psychiatrischen Krankenhaus, in dem sich der Beschwerdeführer befinde, noch sei er erkennbar zu irgendeinem Zeitpunkt mit dessen Behandlung befasst gewesen.
Der Beschwerdeführer hat sich durch diese Entscheidung in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt gesehen und Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des AG und des LG erhoben.
Entscheidung des BVerfG:
Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde statt. Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzten den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
Das Grundrecht auf Freiheit enthalte aufgrund seines Stellenwerts und der Intensität, die Eingriffe in den Schutzbereich zumeist aufwiesen, auch ein Gebot der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung. Dieses Gebot komme in § 463 Abs. 4 StPO dadurch zum Ausdruck, dass ein unabhängiger Sachverständiger die Notwendigkeit der Fortdauer der Maßnahmen beurteilen soll, um die Entscheidung so objektiv wie nur möglich zu fällen. Da die Einhaltung der prozeduralen Erfordernisse bei Freiheitsentziehungen gem. Art. 104 Abs. 1 GG ein Gebot von Verfassungsrang sei, komme in der Auslegung des einfachen Rechts der StPO ein besonderer grundrechtlicher Einschlag zum Tragen.
Nach diesen Maßstäben hätten die Instanzgerichte die Bedeutung und Tragweite des Erfordernisses in § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO verkannt, so das BVerfG.
Da der Sachverständige lediglich in einer anderen Klinik beschäftigt gewesen sei, die letztlich aber nur formal vom Institut des Beschwerdeführers getrennt gewesen sei, weil sie zur selben betrieblichen Einheit gehörte und zudem ein gemeinsamer Krankenhausträger sowie eine gemeinsame Rechtsform mit gemeinsamer Leitungs- und Verwaltungsebene bestehe, sei der Sachverständige nicht als externer Gutachter im Sinne des § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO zu werten.
Dieses Ergebnis werde von der systematischen, telexlogischen und historischen Auslegung der Norm gestützt. Auch die vorherige Zustimmung des Beschwerdeführers ändere hieran nichts, da da dieser, ungeachtet der Frage der Disponibilität der Vorschrift, jedenfalls bei Bekanntwerden der Umstände seine Zustimmung widerrufen habe.
Anmerkung der Redaktion:
Bereits 2019 hatte das BVerfG entschieden, dass das Gebot der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung bei psychiatrischen Unterbringungen ein besonderes Gewicht habe und deshalb Zweifeln an der Aktualität eines Gutachtens substantiiert nachzugehen ist. Mehr dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 16/2019.