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Das Phänomen „Stealthing“ – Aufruf zum Diskurs und Darstellung eines Stealthing-Vorfalls 

von KOK Andres Wißner, M.A.

Beitrag als PDF Version / Transkript narratives Interview

Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema „Stealthing“ und soll einen Überblick über die bisherige rechtliche Entwicklung geben. Der Beitrag beginnt mit einer allgemeinen Einführung in das Thema und wird weitergeführt mit einer Darstellung bisheriger Rechtsprechung in Deutschland sowie verschiedener Literaturmeinungen. Es wird eine rechtliche Einschätzung gegeben. Diese fokussiert auf die Strafwürdigkeit sowie das Handlungsunrecht beim Stealthing. Es wird ein empirischer Beispielfall dargestellt, welcher den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt wurde. Zum Schluss wird ein Fazit gezogen, das den vorhandenen wissenschaftlichen Diskurs anregen und weiterführen soll.   

The article deals with the subject „stealthing“ and is summing up currently prevailing legal opinion, judicial rulings made so far as well as scientific perceptions. Starting with a general introduction of stealthing it continues to present judicial rulings made recently in Germany. Legal assessment is outlined focussing on indictability as well as on unlawful action in regard to stealthing. An empirical example is contoured which did not emerge at law enforcement authorities. At the end of the article the writer draws a conclusion and proposes further scientific discussions.

I. Einführung

Das heimliche Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs ohne Einverständnis des anderen verbunden mit der Fortführung der Penetration wird als „Stealthing“ (abgeleitet vom englischen „stealth“ = heimlich) bezeichnet. Die Nutzung eines Kondoms zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten sowie einer ungewollten Schwangerschaft war Voraussetzung für den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Über diese Bedingung setzt sich der Stealther hinweg.[1] Seit einigen Jahren kommt es länderübergreifend immer wieder zu Berichten von Stealthing-Opfern, die das definitorische Stealthingeerlebt haben und sich dadurch missbraucht fühlen. Insbesondere der stattgefundene Vertrauensbruch, dass sich über den Willen des Opfers hinweggesetzt wurde, verbunden mit der Angst vor Geschlechtskrankheiten, einer ungewollten Schwangerschaft sowie psychischem Leid und Scham, führen zu einem Gefühl der Hilflosigkeit.[2] In der Fachwelt wird seit ein paar Jahren darüber diskutiert, wie Stealthing zu bewerten ist und ob es daher Reformbedarf beim Sexualstrafrecht gibt.

Forschung zu dieser Thematik ist bislang rar. Brodsky hat sich im Jahre 2017 mit dem neuen gesellschaftlichen Phänomen Stealthing empirisch beschäftigt. Sie interviewte weibliche Opfer und wertete Schriften von Stealthing-Tätern aus. Brodsky kam zu dem Schluss, dass sich Stealthing wie Missbrauch anfühle und vergewaltigungsnah sei, obgleich es nicht mit einer solchen gleichgesetzt werden dürfe. Auch Stealthing-Opfer, die sowohl Stealthing als auch eine Vergewaltigung erlebten, gaben an, dass Stealthing kein Äquivalent zur Vergewaltigung darstelle.[3] Brodsky plädiert für eine Strafbarkeit von Stealthing, da 1) der Hautkontakt zu einem Kondom anders zu bewerten sei als der Haut-zu-Haut Kontakt primärer Geschlechtsorgane; und 2) ungeschützter Geschlechtsverkehr mit höheren Risiken (Geschlechtskrankheiten, ungewollte Schwangerschaft etc.) verbunden sei. Hieraus ergebe sich, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr ein gesonderter Sexualakt (im Gegensatz zu geschütztem Geschlechtsverkehr) sei; schließlich geschehe ein Einverständnis/Einwilligung zu einem Sexualakt unter Abwägung von Kosten und Nutzen. Da ungeschützter Geschlechtsverkehr im Vergleich zum geschützten Geschlechtsverkehr die Kosten in Form der angesprochenen Risiken enorm erhöht, würde die konsentierte Sexualhandlung zu einem neuen Sexualakt umgewandelt werden, der wiederum gesondert konsentiert werden müsse.[4]

Des Weiteren wurden von einer Sexual Health Clinic in Melbourne (Australien) Personen befragt, die vorstellig wurden. Insgesamt vervollständigten 1.189 Frauen sowie 1.063 Männer, die Sex mit Männern hatten, den Fragebogen, ob Sie bereits Opfer von Stealthing wurden. Insgesamt gaben 32 % der Frauen sowie 19 % der Männer an, mindestens einmal Opfer von Stealthing geworden zu sein.[5] Eine weitere Studie wurde 2019 von Davisdurchgeführt, in welcher 626 männliche Personen nach ihren Stealthing-Aktivitäten befragt wurden (es wurde explizit danach gefragt, wie oft die befragte Person es geschafft habe, das Kondom heimlich zu entfernen, obwohl die Frau ein Kondom nutzen wollte). Fast 10 % (61) gaben an, seit dem 14. Lebensjahr Stealthing jeweils 1 – 20 Mal betrieben zu haben. Der Durchschnitt betrug 3,62 Mal pro Stealther.[6] Stealthing scheint entsprechend nicht nur eine Randerscheinung, sondern ein besorgniserregendes Phänomen zu sein.

II. Rechtliche Einschätzung 

Sowohl Rechtsprechung als auch Rechtslehre sind sich bislang nicht einig, wie mit dem Phänomen Stealthing umgegangen werden sollte.[7]

1. Rechtsprechung

Die deutsche Gerichtsbarkeit hat sich erst zweimal mit dem Phänomen Stealthing beschäftigt. Der erste Fall wurde im Dezember 2018 vor dem AG Berlin-Tiergarten verhandelt. Der Angeklagte hatte mit der Nebenklägerin einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Es kam zu einem Stellungswechsel. Der Angeklagte zog heimlich das Kondom ab und führte danach die Penetration fort. Dies wurde seitens der Nebenklägerin erst nach der Ejakulation bemerkt. Das Gericht wertete das Verhalten definitorisch als Stealthing. Der Angeklagte wurde wegen eines sexuellen Übergriffs gem. § 177 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung verurteilt und musste im Rahmen des Adhäsionsverfahrens einen zivilrechtlichen Schadensersatz leisten. Eine Vergewaltigung wurde verneint.[8] 

Der Fall kam im Juli 2020 vor das Kammergericht Berlin, weil der Angeklagte Revision eingelegt hatte. In der Revisionsschrift wurde v.a. mit der Literaturmeinung von Franzke argumentiert, wonach der § 177 Abs. 1 StGB keine sexuellen Täuschungen erfasse und das Einverständnis der Nebenklägerin zum Geschlechtsakt entsprechend zum Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit geführt habe (inhaltlich wird auf die Thematik der sexuellen Täuschung unter Punkt aa. genauer eingegangen). Das KG Berlin bestätigte jedoch die Feststellungen des AG Berlin-Tiergarten sowie den Schuldspruch eines sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB. Dies sei v.a. der Fall, da der Angeklagte im Körper der Nebenklägerin ejakuliert hätte. Die Tatbestandsmäßigkeit sei jedenfalls bei einem solchen konkreten Sachverhalt erfüllt.[9]

Der zweite Fall wurde erstmals im November 2020 verhandelt. Der Angeklagte entfernte in einer Pause heimlich das Kondom und drang wieder in die Zeugin ein. Diese bemerkte erst im Nachgang, dass der Geschlechtsverkehr ungeschützt fortgesetzt wurde. Der Angeklagte räumte den Sachverhalt objektiv ein, gab jedoch in subjektiver Hinsicht an, dass er davon ausgegangen sei, dass die Zeugin die Kondomentfernung bemerkt hätte. Da diese nicht widersprochen habe, sei der Angeklagte von einem nunmehr vorhandenen Einverständnis ausgegangen; insbesondere, da die Zeugin ihn nach der Pause zur Fortsetzung animiert habe.[10] Der Angeklagte wurde vom AG Kiel freigesprochen. Der Geschlechtsverkehr sei nicht gegen den erkennbaren Willen der Zeugin vollzogen worden. Geschützter und ungeschützter Geschlechtsverkehr seien auch nach dem natürlichen Sprachgebrauch eine Einheit und müssten als eine sexuelle Handlung angesehen werden. Folglich habe ein Einverständnis für die stattgefundene sexuelle Handlung und somit auch ein tatbestandsausschließendes Einverständnis bestanden. Eine Strafbarkeit von Stealthing würde zudem zu fragwürdigen Ergebnissen führen; so müsste es auch strafbar sein, wenn aus vereinbartem ungeschützten Geschlechtsverkehr abredewidrig geschützter Geschlechtsverkehr wird. Zudem würde dies einer Verharmlosung von Vergewaltigungen gleichkommen.[11] Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin legten daraufhin Revision ein. Das Schleswig-Holsteinische OLG hob den Freispruch des AG Kiels im März 2021 auf. Sobald das Stealthing-Opfer im Vorfeld erklärt habe, dass Geschlechtsverkehr nur mit Kondom stattfinden dürfe, könne das ungeschützte Eindringen als sexueller Übergriff gem. § 177 Abs. 1 StGB strafbar sein, wenn die Kondomentfernung nicht bemerkt werde. Der Antrag des Verteidigers, den Fall an den BGH zu überweisen, wurde vom Schleswig-Holsteinischen OLG abgelehnt.[12]

2. Literaturansichten

a) Strafwürdigkeit von „Stealthing“ und geschütztes Rechtsgut

Es stellt sich die Frage, welches Rechtsgut durch Stealthing verletzt wird. In der Literatur wird bislang mehrheitlich die Meinung vertreten, dass Stealthing das sexuelle Selbstbestimmungsrecht betrifft und entsprechend eine Sexualstraftat darstellen sollte. Denn die sexuelle Selbstbestimmung schützt das Recht einer jeden Person über Zeitpunkt, Art, Form und Partner selbst zu bestimmen. Dies beträfe auch die Art und Weise des Geschlechtsverkehrs sowie die ausgewählten Sexualpraktiken. Der § 177 StGB schützt ergänzend insbesondere davor, nicht herabgewürdigt zu werden, indem das Opfer zum Objekt fremdbestimmter sexueller Übergriffe wird. Zudem würde Stealthing das Opfer mit dem Gefühl der ungewollten Beschmutzung und Benutzung zurücklassen, was entsprechend das sexuelle Selbstbestimmungsrecht betreffen würde. Weiter haben gesundheitliche Bedenken einen entscheidenden Einfluss auf die Willensbildung zum sexuellen Handeln. Aus diesem Grund sei eine Strafbarkeit durch das Sexualstrafrecht gerechtfertigt, sobald nach einer erfolgten Kosten-Nutzen-Abwägung das Einverständnis zur sexuellen Handlung, aufgrund der mit geschütztem Sex verbundenen geringeren gesundheitlichen Risiken, zustande kam.[13]

Die Gegenmeinung gründet sich darauf, dass es beim Stealthing um den Schutz der körperlichen Integrität und nicht um den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gehe, da das Wesen der sexuellen Handlung durch Stealthing nicht verändert werde. Der Geschlechtsverkehr an sich sei einvernehmlich gewesen und die Nutzung eines Kondoms nur ein Begleitumstand. Beim Stealthing würde entsprechend weiterhin ein wirksam erteiltes Einverständnis vorliegen. Es würde zudem keine Gesetzeslücke bestehen, da das Strafbedürfnis über Körperverletzungs- und Beleidigungsdelikte abgedeckt werden würde.[14]

Der erstgenannten und überwiegend vertretenen Meinung ist der Vorzug zu gewähren. Denn eine nicht vorhandene Strafbarkeit durch das Sexualstrafrecht würde – wie die Gegenmeinung richtig darstellt – dazu führen, dass Stealthing de lege lata nur durch Körperverletzungs- und Beleidigungsdelikte sanktionierbar wäre. Dies würde dem Unwertgehalt von Stealthing nicht gerecht werden; gerade da eine Verurteilung in den vermutlich meisten Fällen unterbliebe, da der Erfolg einer Körperverletzung nicht eintritt bzw. objektiv gar keine Gefahr vom Stealther ausgegangen ist (hat keine Geschlechtskrankheiten etc.), da bewusst-vorsätzliche Grenzüberschreitungen in Erfolgsfällen meist nur mit Fahrlässigkeitsdelikten und bei Ausbleiben des Erfolgs höchstens mit einer versuchten Körperverletzung geahndet werden würden.[15]

b) Handlungsunrecht beim „Stealthing“

Das Handlungsunrecht beim Stealthing ergibt sich vornehmlich aus der Tatsache, dass etwas gegen den Willen des Opfers geschieht. Das heimliche Abziehen des Kondoms ist nicht konsentiert und die Kondombenutzung wurde im Vorfeld kommuniziert und zur Bedingung für den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gemacht. Grundsätzlich kann ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in Bezug auf den § 177 StGB nur zum Tragen kommen, wenn es sich um einvernehmliche Geschehnisse handelt. Es ist zwar unstreitig, dass beim Stealthing etwas passiert, zu dem kein Einverständnis erteilt wurde; doch fraglich ist, ob hier 1) lediglich eine Täuschung über die durchgängige Kondombenutzung (der Geschlechtsverkehr fand einvernehmlich statt) vorliegt oder 2) das Einverständnis zur sexuellen Handlung/zum ungeschützten Geschlechtsverkehr fehlt.[16]

aa) Täuschung als strafbare Handlung beim „Stealthing“

Für den täuschungsbedingten Willensmangel gibt es im § 177 StGB bislang keinen Raum. Tatbestandlich nicht erfasst ist die Erschleichung des Einverständnisses durch Täuschung. Dies könnte bspw. durch das Vorspielen persönlicher Eigenschaften geschehen oder durch das Verschweigen ansteckender Krankheiten wie HIV oder durch das Täuschen über die eigene Geschlechtsidentität oder über den sexuellen Charakter einer Handlung. Auch Täuschungen über die Nutzung von Verhütungsmitteln (Pille etc.) oder die eigene Fruchtbarkeit fallen explizit nicht unter den § 177 StGB. Die Täuschung führe auch v.a. deshalb nicht zur Unwirksamkeit des Einverständnisses, da es beim Opfer zum Tatzeitpunkt an einem (innerlichen) Nein fehlt. Reine sexuelle Täuschungen erhalten durch den § 177 StGB keinen strafrechtlichen Schutz. Zudem würde eine Strafbarkeit von sexuellen Täuschungen zu bizarren Ergebnissen führen, die auch aufgrund von kriminalpolitischen Einwänden nicht anzustreben ist.[17] Lediglich die Strafbarkeit, wenn über die Geschlechtsidentität oder den sexuellen Charakter einer Handlung getäuscht wird, also rechtsgutbezogene Täuschungen, werden in Teilen gefordert.[18] Vavra vertritt die Auffassung, dass das erteilte Einverständnis zur sexuellen Handlung bereits entfallen würde, sobald über eine Bedingung getäuscht wurde, die das Opfer ausdrücklich gemacht hat. Es dürfe auch nicht unterschieden werden zwischen Täuschungen, die sich auf die sexuelle Handlung an sich beziehen (fraud in the factum) und Täuschungen, die sich auf die Umstände des Geschlechtsverkehres bzw. die Motive eines Sexualpartners (fraud in the inducement) beziehen.[19] 

Aus Sicht des Bearbeiters ist der täuschungsbedingte Willensmangel im Sexualstrafrecht sicherlich eine diffizile Problematik. Eine Kriminalisierung jedweder Täuschungen über notwendige Bedingungen für den Sexualakt würde jedoch zu weit führen. Eine Täuschung darüber, Jungfrau oder unverheiratet zu sein und keine Kinder zu haben, die dazu führt, dass einer der Sexualpartner zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr konsentiert (dies als zwingende Bedingung), darf nicht zur Aufhebung des Einverständnisses zum Geschlechtsverkehr führen. Dem täuschungsbedingten Willensmangel darf im § 177 StGB richtigerweise nicht ohne Einschränkung Raum gegeben werden.[20] In Bezug auf Stealthing ist die herrschende (jedoch nicht alleinige) Auffassung, dass das gegebene Einverständnis zum Geschlechtsverkehr aufrecht erhalten bleibt, wenn von einer reinen Täuschung über die Kon-dom­­­­­­­­­­­­­­­­benutzung ausgegangen wird. Das Einverständnis bezieht sich nämlich auf die sexuelle Handlung und entsprechend würde die reine Täuschung über erhöhte Risiken durch das Weglassen des Kondoms keine Auswirkung auf das tatbestandsausschließende Einverständnis haben.[21]

Anders zu betrachten wäre dies jedoch, wenn es sich eben nicht nur um eine Täuschung über die Kondombenutzung handeln würde. Eine Täuschung wäre nämlich nur dann anzunehmen, wenn die Annahme vorausgesetzt wird, dass es sich bei (mittels Kondoms) geschütztem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr um dieselbe sexuelle Handlung handelt. Sollten geschützter und ungeschützter Geschlechtsverkehr jedoch als unterschiedliche sexuelle Handlungen angesehen werden, so müsste für beides von den Sexualpartnern ein explizites Einverständnis eingeholt werden. Dies vertieft die bereits angesprochene Problematik, ob das Handlungsrecht 1) in einer sexuellen Täuschung oder 2) in einem fehlenden Einverständnis in die sexuelle Handlung selbst zu sehen ist.[22]

bb) „Safer Sex“ und „ungeschützter Sex“ als eigenständig geschützte sexuelle Handlungen

Gemäß § 184h StGB muss die Handlung im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sein. Es existiert keine Legaldefinition in Bezug auf den Begriff sexuelle Handlung. Nach herrschender Meinung werden jedoch alle Handlungen als sexuell angesehen, die nach objektiven Kriterien, alleine vom äußeren Erscheinungsbild her, einen Sexualbezug haben. Die sexuelle Handlung wird zudem i.S.d § 177 StGB vorgenommen, wenn Kontakt zwischen dem eigenen und einem anderen Körper hergestellt wird. Sobald der Täter hierbei eine vom Opfer geäußerte Ablehnung ignoriert, wird eine Strafbarkeit der sexuellen Handlung begründet, um die autonome Entscheidung des Einzelnen zu schützen.[23] 

Beim Stealthing wird die Strafbarkeit der sexuellen Handlung bislang damit begründet, dass es sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr um eine andere sexuelle Handlung handele, als bei geschütztem Geschlechtsverkehr. Diese sexuelle Handlung sei beim definitorischen Stealthing auch gegen den erkennbaren Willen, da das Opfer diesen zuvor kundgetan hat. Dadurch, dass der Stealther, um das Kondom heimlich abzuziehen, den Akt zunächst unterbrechen muss, um im Anschluss eine Re-Penetration zu vollziehen, beginnt ein neuer Geschlechtsverkehr, der (da unterschiedliche sexuelle Handlung) nicht mehr vom Konsens abgedeckt wird. Das heimliche Abziehen des Präservativs ist eine nicht unerhebliche Abweichung vom vereinbarten geschützten Geschlechtsverkehr, d.h., dem nunmehr ungeschützten Verkehr muss gesondert zugestimmt werden. Schließlich ist ein Kondom ein objektiv-äußerliches Element und auch von der Intimität nicht vergleichbar mit dem Haut-zu-Haut Kontakt primärer Geschlechtsorgane, aus welchem auch ein gesteigertes Krankheits- und Schwangerschaftsrisiko resultiert. Zudem habe sich in der Alltagssprache bereits der alleinstehende Begriff „Safer Sex“ durchgesetzt. Vergleichbar ist dies bspw. damit, dass vaginaler und analer Geschlechtsverkehr ebenfalls als unterschiedliche sexuelle Handlungen angesehen werden und Konsens zum einen nicht gleichzeitig Konsens zum anderen bedeutet. Hieraus folgt, dass absprachewidrig ungeschützter Geschlechtsverkehr per se den § 177 Abs. 1 StGB erfüllt.[24]

Dem gegenüber sieht die Mindermeinung in einer solchen Zäsur erhebliche Abgrenzungsproblematiken. Daher sollten geschützter und/oder ungeschützter Geschlechtsverkehr keine gesonderten sexuellen Handlungen darstellen. Der Schutz durch ein Kondom betreffe nur die äußeren Rahmenbedingungen.[25]

Die Mindermeinung ist hier abzulehnen. Die Unterschiede zwischen geschütztem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr sind so essentiell, dass in letzteren gesondert eingewilligt werden muss. Die Risiken (Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft) erhöhen sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr auf eine Art und Weise, dass es nicht als Äquivalent zu geschütztem Geschlechtsverkehr angesehen werden kann.[26] Gerade, da bei Verhandlungen über den gemeinsamen Austausch von Intimitäten auch im Sprachgebrauch zwischen geschütztem und ungeschütztem Sexualverkehr ähnlich unterschieden wird, wie zwischen vaginalem und analem Geschlechtsverkehr. Zudem kann hier auch nicht argumentiert werden, wie vom AG Kiel eingeworfen, dass Abgrenzungsprobleme entstünden, wie bspw. dass ein heimliches Aufziehen des Kondoms bei vorheriger Vereinbarung zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr, dann ebenfalls von § 177 StGB erfasst werden müsste.[27] Hierbei handelt es sich nämlich lediglich um eine Intimitätswegnahme und eine stattgefundene Kosten-Nutzen-Abwägung wird nicht erheblich beeinträchtigt.    

c) Der erkennbare Wille beim „Stealthing“

Beim Stealthing kommuniziert das Opfer im Vorfeld aktiv, dass kein Einverständnis für Geschlechtsverkehr ohne Kondom besteht. Während der Tathandlung bekommt das Opfer dies jedoch nicht sofort oder eventuell gar nicht mit. Entsprechend wird diskutiert, ob Stealthing gegen den erkennbaren Willen des Opfers stattfindet.

Hier gehen die Meinung bislang auseinander, ohne dass ein signifikanter Trend erkennbar wäre. Die eine Seite argumentiert, dass das Opfer die Grenzüberschreitung erst im Nachgang bzw. erst nach Beginn der ungeschützten Penetration mitbekäme. Der § 177 Abs. 1 StGB würde jedoch voraussetzen, dass während der Tathandlung ein akuter und bewusster (nicht nur ein natürlicher) Gegenwille gebildet wurde und ein im Vorfeld erklärter Widerspruch keinen Einfluss auf die Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens in der konkreten Situation habe. In dieser müsse ein kommunikativer Beitrag geschehen, sodass für einen objektiven Dritten der entgegenstehende Wille erkennbar sei (ohne, dass die vorherige Absprache bekannt ist). Für konkrete Einzelfälle, in denen der entgegenstehende Wille nicht erkennbar ist, sei der § 177 Abs. 2 StGB geschaffen worden. Eine Strafbarkeit von Stealthing durch den Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 StGB würde entsprechend ausscheiden.[28]

Die andere Seite nimmt einen entgegenstehenden Willen für ungeschützten Geschlechtsverkehr, wenn dieser im Vorfeld klar kommuniziert wurde, über die gesamte Zeit des Aktes an. Das Opfer würde in die dauerhafte Kondom-benutzung vertrauen und da es sich um eine klar definierte Sexualpraktik sowie einen überschaubaren Sachverhalt handele, seien keine neuen Willensentschlüsse seitens des Opfers notwendig. Denn bei Stealthing führe eine kontextabhängige Betrachtung mit Blick auf die Erkennbarkeit zum Resümee, dass der zuvor kundgetane entgegenstehende Wille zum ungeschützten Geschlechtsverkehr weiterhin fortwirke. Es müsse zu einer aufhebenden Erlaubniserklärung kommen. Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass das Opfer dem ungeschützten Geschlechtsverkehr widersprochen hätte, wenn es die Kondomentfernung wahrgenommen hätte.[29]

Grundsätzlich ist für solche Fälle, in denen es fraglich ist, ob der entgegenstehende Wille objektiv erkennbar ist, § 177 Abs. 2 StGB geschaffen worden. Dieser erfasst Sachverhalte, bei denen aufgrund der Konstitution oder konkreten Situation vom Opfer kein erkennbarer entgegenstehender Wille gebildet werden kann. Der § 177 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB behandelt hierbei Fälle, in denen das Opfer nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern bzw. in der Willensäußerung erheblich eingeschränkt ist. Dies trifft auf Stealthing nicht zu, da sich aus der Systematik des Tatbestands sowie Gesetzesgeschichte ergibt, dass hier v.a. Personen geschützt werden sollten, die geistig und/oder körperlich in einem besonderen Maße beeinträchtig sind. Das Opfer müsste zur Bildung eines erkennbaren Willens nahezu unfähig sein. Der § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB thematisiert das sog. Überraschungsmoment. Hier muss das Opfer jedoch durch den sexuellen Übergriff so überrascht oder überrumpelt werden, dass dieses paralysiert den sexuellen Übergriff zulässt. Diese Wortlautgrenze dürfte in den meisten Stealthing Fällen überschritten sein, sodass eine Strafbarkeit von Stealthing gem. § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB ebenfalls entfällt. Der § 177 Abs. 2 Nr. 4 und 5 StGB ist tatbestandlich ebenfalls nicht einschlägig, da beim definitorischen Stealthing nicht von einer Nötigung bzw. einer Drohung mit einem empfindlichen Übel auszugehen ist. Doch auch wenn eine Strafbarkeit aufgrund des erkennbaren und entgegenstehenden Willens teilweise verneint wird, so wird gleichzeitig auch der Ruf nach Reformen laut. Stealthing ist moralisch verwerflich und strafwürdig; eine vorhandene Gesetzeslücke muss geschlossen werden.[30]

d) Besonders schwerer Fall nach § 177 Abs. 6 StGB

Wer den Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB verwirklicht, kann auch ein Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 StGB erfüllen, wenn weitere Faktoren hinzukommen. Für Stealthing ist v.a. relevant, dass ein besonders schwerer Fall in der Regel angenommen wird, wenn der Täter sexuelle Handlungen am Opfer vornimmt, die dieses besonders erniedrigen. Dies sei insbesondere dann gegeben, wenn der sexuelle Übergriff mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist (Vergewaltigung). Da dies bei Stealthing faktisch der Fall ist, wird teilweise angenommen oder zumindest hervorgehoben, dass das Regelbeispiel grundsätzlich erfüllt sei. Es bleibe jedoch noch zu untersuchen, ob dies tatsächlich indiziert werden sollte. Gerade das Faktum, dass sich der Stealther über den Opferwillen vorsätzlich hinwegsetzt, würde das Opfer zum bloßen Sexualobjekt degradieren. Mit aus diesem Grund sei beim Stealthing das Regelbeispiel nicht (ausnahmsweise) abzulehnen.[31]

Die Gegenmeinung stellt darauf ab, dass sich im § 177 StGB eine bewusste Zuspitzung befinde. Diese erfahre mit der Verwirklichung des besonders schweren Falles (Vergewaltigung) ihren Höhepunkt. Der Täter begehe damit eine besonders schwere Form des Missbrauchs. Stealthing sei jedoch keine solche besonders schwere Form und andere Strafzumessungsfaktoren könnten entsprechend den beim Regelbeispiel indizierten besonders schweren Fall kompensieren.[32]

III. Beispielfall

1. Methodik

Aufgrund des vom Verfasser in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform publizierten Artikels „Stealthing: ein besorgniserregender Trend? Herausforderung für die Justiz – Ein Kommentar.“ nahm ein weibliches Stealthing-Opfer mit dem Verfasser Kontakt auf und erklärte sich bereit für ein Interview. Es wurde vereinbart, ein narratives Interview durchzuführen, um die Sicht- und Handlungsweisen des Stealthing-Opfers anhand der Erzählung des Erlebten zu verstehen bzw. erfahrungsnahe, subjektive Aussagen über den erlebten Stealthing-Vorfall zu erhalten.[33]

2. Narratives Interview

Das narrative Interview fand im April 2021 in Frankfurt am Main statt und hat eine Gesamtlänge von 37:40 Minuten. Namen wurden zum Zweck der Anonymisierung geändert.

Maria erzählt, dass sie bei einem Restaurantbesuch auf Thomas aufmerksam wurde und sie den späteren Kontakt initiiert hatte. Nach anfänglichem Chatkontakt kam es zu einem Treffen. Maria ging mit Thomas essen und das Date verlief gut. Bei Maria zu Hause kam es schließlich zum Austausch einvernehmlicher Intimitäten (knutschen). Maria habe gemerkt, dass Thomas auf Geschlechtsverkehr aus war und ließ sich darauf ein. Vor dem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr teilte Maria mit, dass der Sexualkontakt nur mit einem Kondom stattfinden dürfe, u.a. da Maria nicht die Pille einnehme. Daraufhin kam es zum einvernehmlichen geschützten Geschlechtsverkehr, welcher jedoch nicht lange gegangen sein soll. Thomas habe danach verlauten lassen, dass sich Sex mit Kondom für ihn nicht so intensiv anfühle. Dies habe Maria zur Kenntnis genommen, aber gleichzeitig wiederholt, dass Sex nur mit Kondom stattfinden dürfe. Kurze Zeit später kam es erneut, aber dieses Mal zum ungeschützten Geschlechtsverkehr. Nach Ende des Verkehrs haben sich beide wieder hingelegt, dabei fiel Maria das fehlende Präservativ auf. Als Maria Thomas damit konfrontierte, gab dieser an, dass er das vorher abgezogen hatte und Maria dies doch gesehen haben müsste. Maria entgegnete, dass sie das nicht gesehen hätte.[34]

„Also, das wäre ja auch total bescheuert, […] so nach dem Motto: „Nee, wenn wir jetzt zweimal an einem Abend Sex haben, dann: das erste Mal haben wir mit Kondom Sex und beim zweiten Mal kannst du es natürlich abziehen, das ist ja gar kein Problem“. Also diese Logik dahinter ergibt sich ja irgendwie nicht“.[35]

Maria fragte daraufhin sofort, wann sich Thomas das letzte Mal auf Geschlechtskrankheiten habe testen lassen. Dieser gab an, dies im Mai 2020 getan und damals nichts gehabt zu haben. Maria war in dem Moment nach eigenen Angaben schockiert, empfand die Situation als unangenehm und gab sich teilweise selbst die Schuld an dem, was passiert ist, da sie den Kontakt pro-aktiv initiiert hatte. Sie hatte in der Woche danach Beschwerden, dachte jedoch, dass es sich um eine Blasenentzündung oder Pilzinfektion handele. Bei dem erst im ersten Quartal 2021 stattfindenden Frauenarzttermin erhielt Maria die Nachricht an Chlamydien erkrankt zu sein. Maria fragte Thomas, ob er sich testen lassen könnte. Thomas habe angegeben, dass er sich gerade habe testen lassen; alles sei negativ gewesen, doch aufgrund von Privatsphäre würde er Maria das schriftliche Ergebnis nicht zeigen wollen. Auf den Vorwurf Marias, dass er das Kondom heimlich abgezogen und dann ungeschützten Sex mit ihr gehabt habe, was sie auf gar keinen Fall wollte, erwiderte Thomas, dass Maria das Abziehen gesehen haben müsse. Zudem teilte Thomas mit, dass er irgendwie seinen Kopf in dem Moment ausgeschaltet habe. Als er diesen wieder eingeschaltet hatte, hätte er gemerkt, dass sein Handeln falsch gewesen sei.[36]

Neben der Möglichkeit, sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt zu haben, war es besonders belastend und schlimm für Maria, dass sie einige Zeit nach der Tat ein gestörtes Verhältnis zu Körperkontakt mit Männern hatte, als auch die Reaktion von Thomas. Als Maria diesen nach dem Stealthing damit konfrontierte, dass sie die Pille nicht nehme, habe er geantwortet, dass es dann gut gewesen sei, dass er nicht in ihr gekommen wäre. Auch das Faktum, dass sich Thomas einfach über ihren Willen hinweggesetzt und ihr die Entscheidung abgenommen hatte, ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben, habe sie sauer gemacht und stelle für sie einen gravierenden Vertrauensbruch dar.[37] 

Maria zog viele Menschen ins Vertrauen und fragte um Rat, wie sie mit dieser Situation umgehen solle. Von Vielen sei sie (vor dem Test-Ergebnis) v.a. beruhigt worden. Ihre Mitbewohnerin (mit einem rechtlichen Hintergrund) riet ihr sogar von einer Anzeige ab, da dies, ihrer Auffassung nach, nichts bringen würde. Es stünde Aussage gegen Aussage. Aufgrund dieser Meinung, aber auch Selbstvorwürfen sowie der Befürchtung, dass ein Gerichtsverfahren sie nochmal stark belasten würde und sie das Ganze nicht erneut durchleben möchte, sah Maria von einer Anzeige bis heute ab.[38]   

3. Bewertung

Anhand der dargestellten Rechtsauffassungen ist der Verfasser der Meinung, dass es sich bei dem vorgestellten Fall definitionsgemäß um Stealthing handelt. Maria machte die Kondombenutzung zur zwingenden Bedingung für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr und gab ihre Zustimmung ausdrücklich nur zur sexuellen Handlung Safer Sex und ausdrücklich nicht zu ungeschütztem Sex. Nach dem ersten einvernehmlichen geschützten Geschlechtsverkehr kam es zu einer Zäsur des Geschehens (hier unstrittig aufgrund einer Pause zwischen den sexuellen Handlungen). Der Sexualkontakt wurde von Thomas später (nach Angaben von Maria maximal nach drei Minuten) ungeschützt fortgesetzt. Maria befand sich bei Beginn mit dem Rücken zu Thomas und war noch im Vertrauen, dass Thomas das Kondom übergestreift hatte, da es für Maria evident war, dass sich am „Nein“ zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr seit dem ersten Sexualkontakt natürlich nichts geändert hat. In der Pause wurde dies von Mariaauch nochmals bekräftigt. Erst nach Ende des zweiten Sexualkontaktes fiel Maria auf, dass Thomas kein Präservativ übergestreift hatte. Der Anfangsverdacht einer Straftat gem. § 177 StGB ist nach Auffassung des Verfassers entsprechend gegeben.

Aufgrund der Strafverfolgungspflicht des Verfassers wurde dieser Sachverhalt zur Prüfung an das zuständige Fachkommissariat des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main weitergeleitet. Dies fand mit dem Einverständnis von Maria statt, die sich auch bereit erklärte, eine Aussage bei der Polizei zu tätigen. In der Folge wurde ein Ermittlungsverfahren eröffnet.[39]   

IV. Fazit

Das erste Stealthing-Urteil seitens des AG Berlin-Tiergarten sowie KG Berlin sieht eine Strafbarkeit von Stealthing gem. § 177 Abs. 1 StGB als gegeben an, obwohl das KG Berlin leider versäumt klarzustellen, dass alleine die definitorische Begehung jedweden Stealthings den Tatbestand erfüllt und nicht nur, wenn es beim Stealthing zur Ejakulation kommt.[40] Das zweite Stealthing-Urteil ist interessant, da es aufzeigt, dass es noch juristischen Klärungs- bzw. Reformbedarf gibt. Das AG Kiel vertritt die Auffassung, dass Stealthing nicht gegen den erkennbaren Willen geschieht und es sich bei geschütztem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht um unterschiedliche sexuelle Handlungen handelt (siehe Punkt bb) sowie c). Das Schleswig-Holsteinische OLG vertritt die gegenteilige Auffassung. In Bezug auf die herrschende Rechtsprechung zeichnet sich durch zwei Urteile der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf Ebene der Oberlandesgerichte entsprechend der Trend ab, dass Stealthing gem. § 177 Abs. 1 StGB de lege lata strafbar ist.

Die herrschende Meinung in der Literatur tendiert ebenfalls zur Strafbarkeit und fußt hauptsächlich auf der Annahme, dass es sich bei geschütztem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr um zwei unterschiedliche sexuelle Handlungen handelt, wodurch das Handlungsunrecht nicht bei einer Täuschung liegt (dann würde eine Strafbarkeit nach herrschender Meinung entfallen). Strittig wird noch diskutiert, ob Stealthing gegen den erkennbaren Willen des Opfers stattfindet; gerade da es zum Zeitpunkt der Tathandlung an einem innerlichen Nein fehlt. Dieser Einwand ist grundsätzlich nicht von der Hand zu weisen, insbesondere da für solche Fallkonstellationen extra der Grundtatbestand des § 177 Abs. 2 StGB geschaffen wurde; dessen Alternativen derzeit jedoch nicht auf Stealthing angewandt werden können (siehe Punkt c). 

Um Rechtssicherheit zu schaffen, schlägt der Verfasser folgende Erweiterung des § 177 Abs. 2 StGB vor, wodurch die Problematik des erkennbaren Willens gelöst und endgültig geklärt würde, dass Stealthing gem. § 177 StGB strafbar ist:[41]  

„§ 177 Abs. 2 StGB:

Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn […]

    1. der Täter eine auf die sexuelle Handlung bezogene, vom Opfer im Vorfeld kommunizierte zwingende Bedingung zielgerichtet missachtet, die eine nicht nur unerhebliche Abweichung darstellt (insb. das sog. Stealthing).“ [42]

 

Weiterhin wird diskutiert, ob bei Bejahung des § 177 Abs. 1 StGB auch das indizierte Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 StGB erfüllt ist; schließlich ist der sexuelle Übergriff beim Stealthing mit dem Eindringen in den Opferkörper verbunden. Zu Recht wirft das AG Kiel ein, dass eine Bejahung zu einer Verharmlosung der Vergewaltigung führen würde. Auch die in der Einleitung dargestellte empirische Studie (Befragung von Stealthing-Opfern) kommt zu dem Ergebnis, dass Stealthing vergewaltigungsnah ist, aber eben kein Äquivalent zur Vergewaltigung darstellt. Auch die bereits vorhandenen Urteile sehen zwar eine Strafbarkeit gem. § 177 Abs. 1 StGB, verneinen aufgrund individueller Strafzumessungsfaktoren jedoch eine Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 6 StGB; gleichwohl vom KG Berlin die Richtigkeit dieser Einschätzung vom AG Berlin-Tiergarten nicht bestätigt und eher infrage gestellt wird.[43] Der Diskurs ist hierbei entsprechend noch nicht beendet[44], zumal sich noch nicht alle Rechtsmeinungen, welche die Strafbarkeit bislang generell verneinen, zur Thematik, ob Stealthing eine Vergewaltigung darstellt, geäußert haben. Zu klären ist entsprechend, ob die Entscheidung darüber, ob Stealthing einen besonders schweren Fall des sexuellen Übergriffs darstellt, den einzelnen Gerichten bei Bewertung des konkreten Einzelfalls überlassen werden sollte, oder ob das definitorische Stealthing per se als ein besonders schwerer Fall oder nicht als ein solcher angesehen werden sollte. Das in diesem Beitrag interviewte Stealthing-Opfer sagt hierzu:     

Esist halt auch […] keine Vergewaltigung. Aber der hat ja trotzdem was mit mir gemacht, was ich nicht wollte“.[45]

Der Verfasser vertritt die Auffassung, dass Stealthing gem. § 177 StGB strafbar sein sollte, da geschützter und ungeschützter Geschlechtsverkehr zwei unterschiedliche sexuelle Handlungen sind und sich somit die Frage des generellen oder bedingten Einverständnisses nicht stellt. Zudem spricht sich der Verfasser dafür aus, Stealthing per se nicht als einen besonders schweren Fall gem. § 177 Abs. 6 StGB anzusehen. Der Zuspitzung im § 177 StGB muss Rechnung getragen werden[46] und Stealthing ist (gerade aufgrund des Fehlens eines akuten innerlichen Neins) weit davon entfernt bezüglich der Strafwürdigkeit mit einem besonders schweren Fall auf gleicher Ebene zu sein. Sowohl die Opfer aus der empirischen Studie von Brodsky[47] als auch das hier interviewte vermeintliche Stealthing-Opfer sehen Stealthing nicht als Äquivalent zur Vergewaltigung. Die faktischen Unterschiede vom definitorischen Stealthing zu Einzelfällen, die aus der Gesetzesdynamik heraus einen besonders schweren Fall gem. § 177 Abs. 6 StGB erfüllen, sind so prägnant, dass ein solcher nur in absoluten Ausnahmefällen mit erheblichen Strafzumessungsfaktoren angenommen werden sollte.

 

[1]      vgl. Brodsky, Columbia J Gend Law 2017, 32 (2), 183 (210), 185; Schaper, Ungewollt Sex ohne Kondom: Ein Stealthing-Opfer berichtet, 2018, abrufbar unter: https://mads.de/ungewollt-sex-ohne-kondom-ein-stealthing-opfer-berichtet/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Anwalt, Stealthing: Vergewaltigung oder sexueller Übergriff?, 2019, online abrufbar unter: https://www.anwalt.de/rechtstipps/stealthing-vergewaltigung-oder-sexueller-uebergriff_151385.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Kujus, Stealthing auch in Deutschland strafbar, 2019, online abrufbar unter: https://kujus-strafverteidigung.de/blog/stealthing-auch-in-deutschland-strafbar/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Losensky, Polizist verurteilt, weil er heimlich das Kondom abzog, 2019, online abrufbar unter: https://www.bz-berlin.de/tatort/menschen-vor-gericht/polizist-verurteilt-weil-er-heimlich-das-kondom-abzog (zuletzt abgerufen am 29.4.2021);  Casper, Stealthing: Wenn der Mann heimlich das Kondom abzieht, 2019, online abrufbar unter: https://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Wissen/Stealthing-Wenn-der-Mann-heimlich-das-Kondom-abzieht (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Rohde, Stealthing: Vorsicht vor diesem Sex-Trend, 2019, online abrufbar unter: https://www.gofeminin.de/leidenschaft/stealthing-s4000650.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Jahn, Urteil: Bewährungsstrafe für Stealthing, 2018, online abrufbar unter: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/stealthing-erstes-urteil-in-deutschland (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Burgard-Arp, Stellungswechsel, Gummi ab, 2018, online abrufbar unter: https://www.zeit.de/campus/2018-01/stealthing-sexualstraftat-rechtslage-opfer-taeter (zuletzt abgerufen am 29.4.2021).
[2]      vgl. Schaper (Fn. 1); Burgard-Arp (Fn. 1).
[3]      vgl. Brodsky (Fn. 1), 183 – 190, 205 – 206.
[4]      vgl. Brodsky (Fn. 1), 190 – 191, 195.
[5]      vgl. Latimer/Vodstrcil/Fairley/Cornelisse/Chow/Read/Bradshaw, PLOS ONE 2018, 14(2).
[6]      vgl. Davis, Health Psychology 2019, 38 (11), 997 (1000).
[7]      Eine detailliertere Darstellung der unterschiedlichen Literaturmeinungen sowie des ersten Stealthing-Urteils ist Bestandteil des vom Verfasser in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim) 2020, 103(04), 315 – 330 publizierten Artikels „Stealthing: ein besorgniserregender Trend? Herausforderung für die Justiz – ein Kommentar“.
[8]      vgl. AG Berlin-Tiergarten, Urt. v. 11.12.2018 – (278 Ls) 284 Js 118/18 (14/18), Rn. 3 – 12, 18 – 19, 20 – 23, 30, 34 – 35, 37, 42, 45 – 48, 50, 56, 58; Losensky (Fn. 1).
[9]      vgl. KG Berlin, Beschl. v. 27.7.2020 – 4 Ss 58/20, 161 Ss 48/20, Rn. 12 – 13, 15 – 16, 17 – 25, 29.
[10]    vgl. Kienzerle, FD-StrafR 2021, 435820, 1.
[11]    vgl. Kienzerle (Fn. 10), 1 – 2.
[12]    vgl. TAZ, Gummi abziehen doch strafbar, 2021, online abrufbar unter: https://taz.de/Stealthing-Entscheidung-aus-Schleswig-Holstein/!5756768/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); N-TV, Gericht hebt „Stealthing“-Freispruch auf, 2021, online abrufbar unter:  https://www.n-tv.de/panorama/Gericht-hebt-Stealthing-Freispruch-auf-article22437317.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); N-TV, Bundespolizist wegen „Stealthing“ verurteilt, 2018, online abrufbar unter: https://www.n-tv.de/panorama/Bundespolizist-wegen-Stealthing-verurteilt-article20780677.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2021).
[13]    vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage (2020), § 177 Rn. 2; Renzikowski, Urteil: Bewährungsstrafe für Stealthing, 2018, online abrufbar unter: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/stealthing-erstes-urteil-in-deutschland (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); ders., in: MüKo-StGB, 3. Auflage (2017), § 174 Rn. 8; Herzog, in: FS Fischer, 2018, S. 351 (354, 359); Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, 2019, S. 811 (815 – 816, 825); Hoffman, NStZ 2019, 16 (18).   
[14]    vgl. Franzke, BRJ 2019, 114 (122); Denzel/Kramer, KriPoZ 2019, 347 (354).
[15]    vgl. Wißner, MschrKrim 2020, 315 (330).  
[16]    vgl. Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage (2019), Vorbem. §§ 32 ff. Rn. 31; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (323).  
[17]    vgl. Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (161); Wißner, MschrKrim 2020, 315 (323 – 324); El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (168); Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 177 Rn. 6; Denzel/Kramer, KriPoZ 2019, 347 (354).
[18]    vgl. Denzel/Kramer, KriPoZ 2019, 347 (354); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (161).
[19]    vgl. Vavra, ZIS 2018, 611 (618).
[20]    vgl. Wißner, MschrKrim 2020, 315 (323 – 324); hierzu auch: Franzke, BRJ 2019, 114 (119 – 120); Denzel/Kramer, KriPoZ 2019, 347 (354).
[21]    vgl. Fischer, StGB, § 177 Rn. 9b; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (323 – 324).
[22]    vgl. Fischer, StGB, § 177 Rn. 9a, 9b; Herzog, in: FS Fischer, S. 357; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (323 – 324); Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (15).
[23]    vgl. El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (160 – 161); 160; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (324 – 325); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156.
[24]    vgl. AG Berlin-Tiergarten (Fn. 8), Rn. 35 – 37; Linoh, Anm. zu: AG Berlin-Tiergarten, 2019, Urt. v. 11.12.2018 – (278 Ls) 284 Js 118/18 (14/18), Anm. 5, C; Hoffman, NStZ 2019, 16 (17); Herzog, in: FS Fischer, 2018, S. 351 (355, 356); Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, S. 811 (816 – 817); KG Berlin (Fn. 9), Fn. 27 – 28, 36, 38, 47; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (324 – 327); Kienzerle (Fn. 10), 2 – 3; Wolters, in: SSW-StGB, 5. Auflage (2020), § 177 Rn. 19; Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (12 – 14).
[25]    vgl. Denzel/Kramer, KriPoZ 2019, 347 (354).
[26]    vgl. Wißner, MschrKrim 2020, 315 (328).
[27]    vgl. Kienzerle (Fn. 10), 1 – 2.
[28]    vgl. Hörnle, NStZ 2017, 13 (21); Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, S. 821 – 822, 824 – 825; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (325 – 326); hierzu auch: Franzke, BRJ 2019, 114 (116 – 119).
[29]    vgl. AG Berlin-Tiergarten (Fn. 8), Rn. 37; Linoh (Fn. 24), Anm. 5, C; KG Berlin (Fn. 9), Rn. 41 – 45; Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, S. 819; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (325 – 326); Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (12 – 13); Linoh/Wettmann, ZIS 2020, 383 (396).
[30]    vgl. Schumann/Schefer, in: FS Kindhäuser, S. 822 – 825; Hörnle, NStZ 2017, 13 (16 – 18); Renzikowski, NJW 2016, 3553 (3558), 3555; Wißner, MschrKrim 2020, 315 (325 – 326).
[31]    vgl Hoffman, NStZ 2019, 16 (18); Makepeace, KriPoZ 2021, 10 (18); Laudon, Erstes Urteil zum sogenannten Stealthing, 2019, online abrufbar unter: https://www.strafakte.de/sexualstrafrecht/erstes-urteil-zum-sogenannten-stealthing/ (zuletzt abgerufen am 29.4.2021); Schaper (Fn. 1); Anwalt (Fn. 1); Kujus (Fn. 1); Jahn (Fn. 1); N-TV (Fn. 12).
[32]    vgl. AG Berlin-Tiergarten (Fn. 8), Rn. 37, 39, 42; Jahn (Fn. 1); Spiegel, 37-Jähriger wegen „Stealthing“ verurteilt, 2018, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/stealthing-heimlich-das-kondom-abgezogen-bundespolizist-in-berlin-verurteilt-a-1244425.html (zuletzt abgerufen am 29.4.2019).
[33]    vgl. Schnell/Hill/Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 2013, S. 379 – 380; Diekmann, Empirische Sozialforschung. Grundlagen Methoden Anwendung, 11. Auflage (2017), S. 540 – 542.
[34]    vgl. narratives Interview, 1 (547), 40 – 55, 59 – 124, 314 – 317, online abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2021/09/wissner-narratives-interview-das-phaenomen-stealthing.pdf.
[35]    narratives Interview (Fn. 34), 442 – 446.
[36]    vgl. narratives Interview (Fn. 34), 125 – 226, 233 – 259, 264 – 271, 277 – 305, 375 – 397.
[37]    vgl. narratives Interview (Fn. 34), 236 – 244, 401 – 414, 420 – 425, 429 – 473.
[38]    vgl. narratives Interview (Fn. 34), 324 – 342, 347 – 358, 362 – 369, 375 – 397, 480 – 492.
[39]    vgl. narratives Interview (Fn. 34), 480 – 492.
[40]    vgl. Wißner, MschrKrim 2020, 315 (327 – 328).
[41]    vgl. Wißner, MschrKrim 2020, 315 (328 – 329).
[42]    Wißner, MschrKrim 2020, 315 (328).
[43]    vgl. AG Berlin-Tiergarten (Fn. 8), Rn. 35 – 42; KG Berlin (Fn. 9), Fn. 42, 50.
[44]    vgl. Hoffman, NStZ 2019, 16 (18); Linoh (Fn. 24), Anm. 5, C; Hörnle, NStZ 2017, 13 (21); Herzog, in: FS Fischer, 2018, S. 351 (359); Jani, Kammergericht in Berlin entscheidet erstmals obergerichtlich über die Strafbarkeit des sog. Stealhtings (PM 51/2020), online abrufbar unter: https://www.berlin.de/gerichte/presse/pressemitteilungen-der-ordentlichen-gerichtsbarkeit/2020/pressemitteilung.975296.php (zuletzt abgerufen am 29.4.2021).
[45]    narratives Interview (Fn. 34), 524 – 526.
[46]    vgl. Wißner (Fn. 15), 328.
[47]    vgl. Brodsky (Fn. 1), 183 – 190, 205 – 206.

 

 

 

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