2021, Nomos, ISBN: 978-3-8487-7113-4, S. 771, Euro 199,00.
Die Debatte um die Vor- und Nachteile biometrischer Videoüberwachung wird schon seit längerer Zeit geführt, da den Vorteilen bei der Strafverfolgung Nachteile u.a. durch Eingriffe in Grundrechte und datenschutzrechtliche Belange entgegenstehen. In der umfangreichen Dissertation von Schindler werden nun ausführlich die rechtlichen und technischen Anforderungen an den polizeilichen Einsatz von Gesichtserkennung in Verbindung mit Videoüberwachung zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten erläutert. Dazu werden nicht nur die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Anforderungen der deutschen Rechtsordnung, sondern auch europäische und völkerrechtliche Vorgaben in den Blick genommen.
Die Grundlage dieser rechtlichen Überprüfung bildet zunächst die sehr ausführliche Darstellung der technischen Funktionsweisen sowohl der konventionellen Videoüberwachung als auch der biometrischen Gesichtserkennung auf rund 100 Seiten. Zudem werden die Einsatzmöglichkeiten der biometrischen Gesichtserkennung allgemein beschrieben bevor in Kapitel 3 vier konkrete polizeiliche Einsatzszenarien von Gesichtserkennung mit Videoüberwachung vorgestellt werden. Neben der kontinuierlichen Personenfahndung im öffentlichen Raum, wird die anlassbezogene Suche in Lichtbilddatenbanken, die Sichtung und Auswertung von Videoaufzeichnungen sowie der Einsatz von Softbiometrie in den Blick genommen.
Nach dieser technischen und auf den polizeilichen Einsatz orientierten Fundierung wird sich den bestehenden Regelungen im europäischen Recht gewidmet. Auch wenn in der Kapitelüberschrift zu Kapitel 4 Bezug auf das „Regelungsregime im deutschen und europäischen Recht“ genommen wird, wird das deutsche Recht doch – jedenfalls an dieser Stelle – nur gestreift und festgestellt, dass die deutsche Polizei bei ihrer innerstaatlichen Tätigkeit an das deutsche Recht gebunden ist. Diese Erkenntnis ist trivial und hätte zumindest mit dem Hinweis verbunden werden können, dass eine intensive Auseinandersetzung zur rechtlichen Bewertung des Einsatzes biometrischer Gesichtserkennung einem gesonderten Kapitel vorbehalten bleibt.
Dezidiert wird sich dann mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit für den polizeilichen Einsatz von Gesichtserkennung in Verbindung mit der Videoüberwachung die EMRK von Relevanz sein kann. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass die Konventionsrechte beim polizeilichen Einsatz biometrischer Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung immer dann relevant sind, wenn sie den betroffenen Personen einen höheren Schutz als die deutschen Grundrechte bieten. Umgekehrt könne die Konvention nicht als Argument verwendet werden, den durch die Grundrechte vermittelten Schutz abzusenken. Insofern bestehe in der EMRK neben den deutschen Grundrechten eine weitere Ebene des Grundrechtsschutzes, der auch von der Polizei und eben auch beim Einsatz von Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung zu berücksichtigen sei.
Sodann prüft Schindler anwendbare Vorschriften des Unionsrechts, also neben den einschlägigen Artikeln des AEUV die JI-Richtlinie. Diese sei auf die innerstaatliche Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Polizei anwendbar, so dass ihre Vorgaben in nationales Recht umzusetzen seien. Auch nach Drucklegung der Dissertation hat Deutschland (Stand: April 2022) noch keine Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in Bezug auf die Tätigkeit der Bundespolizei ergriffen oder mitgeteilt, so dass ein entsprechendes Aufforderungsschreiben der Europäischen Kommission ergangen ist.[1]
Würden die Vorgaben der JI-Richtlinie einschließlich der materiellen Mindestvorgaben in deutsches Recht umgesetzt, so sei bei der Umsetzung auch von einer Bindung an die Unionsgrundrechte auszugehen. Falle der polizeiliche Einsatz von Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung in den Anwendungsbereich der JI-Richtlinie, liege daher sowohl für die zu erlassenden als auch bereits vorhandenen Regelungen als auch für ihren Vollzug eine Bindung an die Unionsgrundrechte vor. Die nationalen Grundrechte seien neben den Unionsgrundrechten anwendbar, wobei die nationalen Grundrechte strengere Anforderungen stellen könnten, ohne den Vorrang des Unionsrechts zu beeinträchtigen. Daneben bringe die JI-Richtlinie selbst zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten nicht gehindert seien, zum Schutz betroffener Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten Garantien festzulegen, die strenger sind als die Garantien der Richtline.
Aufgrund des ausdifferenzierten Regelungs- und Schutzprogramms in Deutschland und der Europäischen Union träten völkerrechtliche Regelung in den Hintergrund, so dass der Verfasser auf eine nähere Darstellung verzichtet (S. 273).
Herzstück der Dissertation mit rund 450 Seiten ist dann das Kapitel zur rechtlichen Bewertung des Einsatzes von Gesichtserkennung. Hier wird danach gefragt, inwieweit der polizeiliche Einsatz von Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten in Einklang gebracht werden kann. Sehr dezidiert und unter Berücksichtigung umfangreicher Literatur wird hier eine fundierte und facettenreiche Abwägung getroffen. Aufgrund der Grundrechtseingriffe sei eine dem Bestimmtheitsgebot und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragende Rechtsgrundlage vonnöten, die in den Polizeigesetzen sowie in der Strafprozessordnung bereits geschaffen worden sei. Allerdings sei damit noch nicht entschieden, ob diese vorhandenen Regelungen auch zur Videoüberwachung und zum automatisierten Datenabgleich herangezogen werden könnten. Unter differenzierter Betrachtung der einzelnen in Kapitel 3 aufgezeigten Einsatzszenarien kommt der Verfasser hier zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Für Szenario 1, d.h. den Einsatz von Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung zur kontinuierlichen Personenfahndung im öffentlichen Raume seien die bisherigen Rechtsgrundlagen aufgrund des hohen Eingriffsgewichts nicht ausreichend. Allerdings seien aufgrund der großen verfassungsrechtlichen Bedeutung der Verhinderung und Verfolgung von Straftaten Rechtsgrundlagen möglich, sofern die strengen Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit beachtet würden. Ausreichend seien laut Verfasser aber die bestehenden Rechtsgrundlagen, um die Szenarien 2-4 legitimieren zu können, also den Einsatz biometrischer Erkennung zur anlassbezogenen Suche in erkennungsdienstlichen Lichtbilddatenbanken und zur Sicherung von Videoaufzeichnungen. Allerdings seien auch hier spezifische Vorschriften vorzugswürdig. Solange dies nicht geschähe, seien die vorhandenen Vorschriften verfassungskonform anzuwenden und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, damit den verfolgten Zielen keine unangemessenen Eingriffe gegenüberstünden.
Im nächsten Unterabschnitt geht der Verfasser möglichen Ungleichbehandlungen beim Einsatz von Gesichtserkennung und Softbiometrie in Verbindung mit Videoüberwachung nach. Da die einschlägigen Normen in den Polizeigesetzen und in der Strafprozessordnung neutral formuliert seien, sei eine Ungleichbehandlung auf Gesetzesebene zwar nicht zu erkennen. Jedoch könne es auf Anwendungsebene zu Ungleichbehandlungen kommen, wenn Personen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder Alters in den Fokus der Videoüberwachung und der biometrischen Auswertung der Aufnahmen geraten. Allerdings sei auch hier angesichts der großen verfassungsrechtlichen Bedeutung der Verhinderung und Verfolgung von Straftaten eine Rechtfertigung nicht von vornherein ausgeschlossen. Ausgeschlossen sein müsse aber die Überwachung bestimmter Personengruppen allein aufgrund einer vorurteilsbeladenen Motivationslage. Dagegen sei eine spezifische Personenbeschreibung nach Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht und Alter dann möglich, sofern nach tatverdächtigen Personen gesucht werde.
Schließlich legt der Verfasser dar, welche Anforderungen die JI-Richtlinie an den Einsatz von Gesichtserkennung und Softbiometrie in Verbindung mit Videoüberwachung stellt. Insbesondere wird sich hier den Vorgaben des Art. 8 und 10 zur Rechtmäßigkeit der Verarbeitung gewidmet. Es wird die Auffassung vertreten, dass die bestehenden deutschen Rechtsgrundlagen den Anforderungen des Art. 8 JI-Richtlinie bereits genügen. Der Einsatz biometrischer Gesichtserkennung falle unter Art. 10 JI-Richtline, wobei bei entsprechender Umsetzung in deutsches Recht ein besonderes Gewicht auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zu legen sei. Die in Umsetzung von Art. 10 JI-Richtlinie geschaffene Vorschrift des § 48 Abs. 1 BDSG sei allerdings derart unbestimmt, dass sie überflüssig sei und hinter den fachgesetzlichen Vorschriften in der Strafprozessordnung und in den Polizeigesetzen zurücktrete. Insofern sei jedenfalls für eingriffsintensivere Maßnahmen zu fordern, dass die Erlaubnis zur Verarbeitung biometrischer Daten in Verbindung mit Bild- oder Videoaufnahmen aus der gesetzlichen Regelung deutlich hervorgeht. Sei ein Einsatz biometrischer Gesichtserkennung zur kontinuierlichen Personenfahndung im öffentlichen Raum gewünscht, so müsse eine entsprechende Regelung erst noch geschaffen werden. Auch seien gem. Art. 10 JI-Richtlinie geeignete Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen vorzusehen.
Allerdings sei nicht erkennbar, dass durch Art. 8 und 10 JI-Richtlinie höhere Anforderungen an den Einsatz von Gesichtserkennung i.V.m. Videoüberwachung gestellt werden, als dies nach deutschem Verfassungsrecht sowie nach der Grundrechtecharta und der EMRK bereits der Fall ist. Letztlich hält Schindler einen rechtskonformen Einsatz durchaus für möglich – allerdings müsse nicht alles, was rechtlich möglich ist, auch technisch umgesetzt werden. Werde der deutsche Gesetzgeber tätig, so hätte er über die beleuchteten Aspekte hinaus auch den Verordungsvorschlag zur Regelung Künstlicher Intelligenz – COM(2021) 206 final zu beachten, der in Art. 5 Abs. 1 lit. d ein grundsätzliches Verbot der Verwendung biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierungssysteme im öffentlich zugänglichen Raum zu Strafverfolgungszwecken vorsieht. Jedoch enthalte das Verbot Ausnahmen.
Die Dissertation überzeugt durch die vielfältigen Perspektiven auf den rechtlich sehr diffizilen Gegenstand biometrischer Videoüberwachung. Knapp 800 Seiten hat dies beansprucht, jedoch wünscht man sich nun einen Ausblick darauf, wie und ob das technisch Mögliche auch rechtlich erlaubt werden sollte. Hier bleibt der Verfasser etwas vage und gibt ausblickend zu erkennen, dass eine Rechtsgrundlage jedenfalls denkbar sei. Wie diese aussehen könnte, bleibt insofern weiteren Arbeiten überlassen, die aber aus der Grundlagenarbeit von Schindler reichlich Material schöpfen können.
[1] Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/inf_22_1769 (zuletzt abgerufen am 17.5.2022).