Die Entscheidung im Original finden Sie hier.
LG Berlin, Beschl. v. 31.5.2023 – 502 Qs 138/22: Straßenblockaden der „Letzten Generation“ als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
Leitsatz der Redaktion:
Das Festkleben der Hand auf die Fahrbahn stellt eine strafbewehrte Widerstandshandlung i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB dar.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Der Angeschuldigte habe im Sommer 2022 mit weiteren Angeschuldigten an einer Straßenblockade teilgenommen, wobei dieser sich auf die Straße gesetzt und an dieser festgeklebt habe. Nach Lösung des Klebstoffs durch die Polizeivollzugsbeamten, welches zwei Minuten gedauert habe, sei der Angeschuldigte durch die Beamten von der Straße getragen worden. Die Blockade habe zu einem 15-minütigen Stau geführt. Das AG Tiergarten hat den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Mangels Verwerflichkeit liege kein hinreichender Tatverdacht für eine Verurteilung wegen § 240 StGB vor. Einer Verurteilung wegen § 113 Abs. 1 StGB stehe das Vorliegen von Gewalt entgegen. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung eingelegt.
Entscheidung des LG Berlin:
Die zulässige sofortige Beschwerde hat Erfolg. Zwar liege, wie vom AG Tiergarten angenommen, kein hinreichender Tatverdacht wegen Nötigung vor. Der Eröffnungsbeschluss bezüglich Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sei jedoch zu Unrecht abgelehnt worden und damit aufzuheben.
Die Straßenblockade erfülle – entsprechend der Zweite-Reihe-Rechtsprechung – das Tatbestandsmerkmal der Gewalt. Diese sei vorliegend jedoch nicht rechtswidrig. Die Zweck-Mittel-Relation ergebe, dass die Fortbewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer (Art. 2 Abs. 2 GG) hinter die Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten (Art. 8 Abs. 1 GG) zurücktrete. Das LG Berlin verweist dabei insbesondere darauf, dass es zu keinen außergewöhnlichen Verkehrsbeeinträchtigungen gekommen sei und der Protestgegenstand einen sehr konkreten Bezugspunkt aufweise.
Anders verhalte es sich im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen § 113 Abs. 1 StGB. Hier sieht das LG Berlin sowohl im Versuch sich auf die Fahrbahn zu setzen als auch im Festkleben strafbare Widerstandshandlungen. Widerstand stelle eine aktive (nicht passive) Tätigkeit dar, die eine Verhinderung oder ein Erschweren der Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme zur Folge habe. Ein Erschweren erfordere, dass „eine nicht ganz unerhebliche Kraft“ seitens der Beamten aufgewendet werden müsse. Straflos hingegen seien einfache Sitzblockaden oder Verweigerungen. Vorliegend habe der Angeschuldigte aber versucht, sich aktiv auf die Fahrbahn zu setzen, sodass die Beamten Zwang in Form von Schieben und Drücken, mithin Kraft anwenden mussten. Das Festkleben der Hand auf die Fahrbahn stelle ebenfalls einen strafbaren Widerstand dar. Hierdurch sei das Wegtragen, mit welchem der Angeschuldigte rechnen musste, erschwert worden. Dieser sei auch „bei der Vornahme einer Diensthandlung“ erfolgt. Es genüge, bei entsprechendem Vorsatz, wenn die notwendige Kraftentfaltung schon vor der Durchführung der Maßnahme der Beamten begonnen habe. Von einer solchen Absicht sei hier auszugehen.
Die Sache wird zur Anberaumung einer Hauptverhandlung an das AG Tiergarten zurückverwiesen.
Anmerkung der Redaktion:
Kritisch mit der Entscheidung des LG Berlin und dem Gewaltbegriff von § 113 StGB befasst sich Prof. Dr. Martin Heger im Verfassungsblog.