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Weckruf aus Karlsruhe: Verfassungswidrigkeit der Gefangenenvergütung – Zugleich Besprechung von BVerfG, Urt. v. 20.6.2023 – 2 BvR 166/16, 1683/17

von Dr. Mario Bachmann

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Abstract
Nach einem ersten Urteil im Jahr 1998 hat das BVerfG nun im Juni dieses Jahres die gesetzlichen Regelungen zum Entgelt für Gefangenenarbeit ein zweites Mal für unvereinbar mit dem Resozialisierungsgebot erklärt. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, warum diese Entscheidung ein dringend notwendiger Weckruf war und setzt sich zugleich mit den zentralen Aspekten des Urteils auseinander.

After a first ruling in 1998, the Bundesverfassungsgericht (BVerfG) has now, for a second time, declared the legal regulations on remuneration for prison labour to be incompatible with the resocialisation requirement. This article shows why this decision was an urgently needed wake-up call and at the same time deals with the essential aspects of the judgement.

I. Einführung

Am 16.1.2019 nahm der Verfasser als Sachverständiger an der Anhörung durch den Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtages zum Thema „Kriminologische Forschung im Strafvollzug des Freistaates Sachsen – weitere fachliche Qualifizierung der Vollzugsgestaltung“ teil und führte dort in seinem Eingangsstatement u.a. aus:

„Zum Schluss möchte ich noch einen Bereich ansprechen, in dem ebenfalls Diskussionsbedarf besteht. Das ist die Problematik der Gefangenenarbeit und deren Entlohnung. Ich weiß, dass diese Thematik in der Politik nicht so beliebt ist, denn es geht ums Geld. Allerdings möchte ich in Erinnerung rufen, dass beim BVerfG seit einiger Zeit eine Verfassungsbeschwerde gegen die Vergütungsregelung im Bayerischen Strafvollzugsgesetz anhängig ist. Ich selbst hatte 2016 im Rahmen meiner Tätigkeit am BVerfG einen Entscheidungsvorschlag für diese Verfassungsbeschwerde zu erarbeiten, kann aber zu dessen Inhalt nichts sagen – selbst wenn, weiß ich nicht, was aus diesem Vorschlag in den letzten beiden Jahren geworden ist.

Aus meiner Sicht sind unabhängig davon zwei Dinge klar: Sollte das BVerfG wie zuletzt 1998 eine Erhöhung der Vergütung anmahnen, wäre auch Sachsen davon betroffen, denn hierzulande ist kein höheres Entgelt vorgesehen als in Bayern. Zweitens ist zweifelhaft, ob der dann zu erwartende Verweis darauf, dass es in Sachsen im Unterschied zu Bayern keine Arbeitspflicht mehr gibt, einen Unterschied machen wird. Jedenfalls hat das BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 2016 insoweit Zweifel geäußert. In diesem Beschluss ging es um den Wegfall der nichtmonetären Vergütungskomponente in Rheinland-Pfalz, wo die Arbeit wie in Sachsen ebenfalls nicht mehr verpflichtend ist.

Aber unabhängig von verfassungsrechtlichen Fragen, scheint mir ein Blick auf das aktuelle Sächsische Strafvollzugsgesetz Veranlassung genug zu sein, sich einmal mit der Gefangenenvergütung kritisch zu befassen. So heißt es im § 5 des Sächsischen Strafvollzugsgesetzes – ich darf zitieren: ,Sie‘ – also die Gefangenen – ,sollen dazu angeregt und in die Lage versetzt werden, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, insbesondere eine Schuldenregulierung herbeizuführen.‘ Weiter heißt es: ,Die Gefangenen sollen angehalten werden, den durch die Straftat verursachten materiellen und immateriellen Schaden wiedergutzumachen.‘ Bei einem Arbeitslohn von nicht einmal 2 Euro pro Stunde dürfte all das nur schwer zu machen sein.“[1]

 Im Rahmen der Befragung der Sachverständigen durch die Mitglieder des Ausschusses merkte der Verfasser anschließend u.a. noch Folgendes an:

Ich kann noch einmal sagen: Ich weiß nicht, ob man sich vom BVerfG treiben lassen möchte, was die Gefangenenvergütung betrifft. Hier könnte Sachsen schauen, ob man etwas fortschrittlich gestalten kann und nicht wieder dem hinterherhinkt, was das BVerfG möglicherweise […] sagt.“[2]

Die Mitglieder des Ausschusses hat dies vollkommen ungerührt gelassen. Ihre Reaktion in der Sitzung? Unbeteiligtes Schweigen. Ist dies überraschend? Leider nicht. Niemand an der Stelle des Verfassers hätte wohl ernsthaft erwartet, dass sich der Gesetzgeber enthusiastisch ans Werk begibt und endlich eine Entgeltregelung erarbeitet, die dem Resozialisierungsgebot gerecht wird. Vielleicht hätte man den obigen Appell in manch anderem Bundesland, das sich in der Vergangenheit auf dem Gebiet des Strafvollzuges weit weniger innovativ gezeigt hat als der Freistaat Sachsen,[3] sogar von vornherein wegen offenkundiger Aussichtslosigkeit unterlassen.

Dass sich die Begeisterung bei den Abgeordneten in Grenzen hielt, hat natürlich seine Ursachen und zu diesen gehört auch der Umstand, dass es sich bei der Erhöhung der Gefangenenvergütung nicht gerade um eine Thematik handelt, mit der man in der Politik glaubt, bei der Bevölkerung „punkten“ zu können. Eine derartige Fokussierung des Gesetzgebers mag man kritisieren, doch sollte dabei nicht übersehen werden, dass letztlich alle Resozialisierungsbemühungen auf ein günstiges gesamtgesellschaftliches Klima angewiesen sind und es insoweit in der Vergangenheit – etwa in den 1970er-Jahren – gewiss schon deutlich bessere Zeiten gegeben hat.[4]

Die vorstehenden Erwägungen vermögen jedoch nichts daran zu ändern, dass die für den Strafvollzug zuständigen Länder hinsichtlich der Gefangenenvergütung ausnahmslos in einer geradezu unverfrorenen Passivität verharrt sind. Dabei hat es – wie noch zu zeigen sein wird – an Alarmzeichen nicht gemangelt und jedem, der einigermaßen mit der Materie vertraut ist, musste klar sein, dass diese Tatenlosigkeit nicht von Dauer sein kann. Wer ernstlich geglaubt hat, das BVerfG würde die Agonie auf dem Gebiet der Entlohnung von Gefangenenarbeit während der vergangenen rund 25 Jahren mit dem Gütesiegel der Verfassungsmäßigkeit versehen, kann sich dem Vorwurf der Realitätsferne nicht entziehen.

II. Ein Blick zurück: Die Karlsruher Entscheidungen aus den Jahren 1998 und 2001

Um die aktuelle Entscheidung des BVerfG vom 20.6.2023 besser einordnen zu können, ist es zunächst notwendig, einen Blick zurück auf die Zeit um die Jahrtausendwende zu werfen, denn das kürzlich ergangene Urteil knüpft daran an. Damals hatten die Karlsruher Richterinnen und Richter die auch heute noch geltenden zentralen Grundsätze zur Gefangenenarbeit und deren Entlohnung aufgestellt:   

  • Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn sie angemessene Anerkennung findet. Letztere muss nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muss aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.
  • Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusst gemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist.[5]

Vor diesem Hintergrund kam das BVerfG seinerzeit zu dem Ergebnis, dass eine Eckvergütung in Höhe von 5 % der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV[6] dem verfassungsrechtlich verankerten Resozialisierungsgebot widerspricht.[7] Konkret erhielt ein Gefangener zum damaligen Zeitpunkt gemäß §§ 43 Abs. 1, 200 Abs. 1 StVollzG a.F. bei einer täglichen Arbeitszeit von durchschnittlich sechs Stunden einen Monatslohn von etwa 200 DM (ca. 1,70 DM je Stunde).[8] Als Konsequenz hieraus hatte das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben, bis spätestens zum 31.12.2000 die Entlohnung der Gefangenenarbeit neu zu regeln. Zugleich ordnete es die Weitergeltung der alten Vorschriften bis zum vorgenannten Zeitpunkt an.[9]

Wenige Tage vor Fristablauf wurde vom Gesetzgeber am 27.12.2000 eine Neuregelung verabschiedet. Danach erhielten die Gefangenen seit dem 1.1.2001 eine Eckvergütung in Höhe von 9 statt zuvor 5 % der Bemessungsgrundlage nach § 18 SGB IV. Auch von der vom BVerfG ausdrücklich ins Spiel gebrachten Möglichkeit, nicht-monetäre Formen der Entlohnung einzuführen, wurde Gebrauch gemacht, und zwar in Form einer „good time“-Regelung. So konnten Gefangene gemäß § 43 Abs. 6 und 7 StVollzG a.F. beantragen, einen Werktag von der Arbeit freigestellt oder aus der Haft beurlaubt zu werden, wenn zwei Monate lang zusammenhängend gearbeitet wurde. Alternativ dazu konnte die Freistellung nach § 43 Abs. 9 StVollzG a.F. auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden.[10]

Schon kurz nach dem Inkrafttreten der Reform musste das BVerfG anlässlich einer Verfassungsbeschwerde über deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz befinden. Dabei kam der Gesetzgeber knapp mit einem „blauen Auge“ davon, denn die entscheidende Kammer stufte die Neuregelung als „noch“ verfassungsgemäß ein.[11] Bei seinem Beschluss spielte für das BVerfG die wirtschaftliche Lage eine durchaus wesentliche Rolle. Letztere könne – so die Kammer – vom Gesetzgeber berücksichtigt werden. Angesichts der strukturell bedingten niedrigen Produktivität der Gefangenenarbeit sowie der weiteren Verschlechterung der Beschäftigungssituation der Inhaftierten in den 1990er-Jahren bestehe nämlich die Gefahr, dass es bei einer weiteren Erhöhung des Entgelts zu einer Gefährdung der Arbeitsplätze in den Haftanstalten komme. Das aber liefe dem Resozialisierungskonzept offenkundig zuwider. Zudem gehe die Erhöhung der monetären Entgeltkomponente um immerhin 80 % über einen bloßen Inflationsausgleich hinaus und stelle eine spürbare Verbesserung für die Gefangenen dar. Auch die „good time“-Regelung werde dem Resozialisierungsgebot gerecht, denn die Aussicht, vorzeitig die Freiheit wiederzuerlangen, sei geeignet, die Gefangenen zu regelmäßiger Arbeit zu motivieren. Das BVerfG betont aber gleichwohl, dass sich die Neuregelung bezüglich beider Komponenten der Entlohnung an der „äußersten Grenze“ dessen bewege, was verfassungsrechtlich noch zulässig sei, weshalb der Gesetzgeber aufgefordert bleibe, den Bereich der Vergütung von Gefangenenarbeit einer steten Prüfung zu unterziehen.[12] In Schrifttum und Praxis wurde diese Entscheidung durchaus kritisiert.[13] Hier wurden schon damals bei einer Spannbreite von 10 % bis 40 % im Durchschnitt etwa 20 % der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV für verfassungsrechtlich notwendig erachtet.[14]

III. Die gegenwärtige Situation – eine kurze Bestandsaufnahme

1. Regelungen zur Gefangenenvergütung

Nachdem die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug durch die Föderalismusreform im Jahr 2006 auf die Länder übergegangen war, änderte sich an der Entgeltregelung im Kern nichts. Die monetäre Komponente wurde ohne Ausnahme aus dem Bundesrecht übernommen. Lediglich im Bereich der nicht monetären Vergütung zeigen sich Unterschiede zwischen den Landesgesetzen. Das wird auch in Bezug auf die beiden Länder, deren Entgeltbestimmungen im Fokus der aktuellen Entscheidung des BVerfG stehen, deutlich. Während Bayern auch insoweit die frühere Regelung des Bundes übernommen hat und Gefangenen nach zwei Monaten zusammenhängender Arbeit einen Freistellungstag gewährt, ist Nordrhein-Westfalen etwas großzügiger und vergibt für drei Monate Arbeit zwei Freistellungstage. In Sachsen-Anhalt ist bei fortbestehender Arbeitspflicht sogar überhaupt keine nicht monetäre Entgeltkomponente vorgesehen. Letzteres gilt – bei gleichzeitigem Wegfall des Arbeitszwangs – auch für Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen.

2. Zusätzliche Kostenbelastungen

Größere Veränderungen haben sich aber hinsichtlich zusätzlicher finanzieller Belastungen für Gefangene ergeben. So ist zunächst festzuhalten, dass die Landesgesetze Kostenbeteiligungen vorsehen, die im früheren Bundesrecht nicht enthalten waren. So erlauben Art. 63 Abs. 2, 65, 94 Abs. 2 BayStVollzG sowie §§ 45 Abs. 3, 48, 55 Abs. 3 StVollzG NRW die Beteiligung der Gefangenen an den Kosten für die Krankenbehandlung, medizinische Leistungen und Suchtmitteltests. Ferner ermöglichen Art. 71 Abs. 1 Satz 2, 73 BayStVollzG sowie §§ 51 Abs. 3 und 52 Abs. 4 StVollzG NRW die finanzielle Inanspruchnahme Inhaftierter bezüglich der Kosten für Strom und den Betrieb elektronischer Geräte.

Über die erwähnten Kostenbeteiligungen hinaus finden sich in den Landesgesetzen Bestimmungen, die in dieser Form im früheren Bundesrecht nicht enthalten waren und im Ergebnis ebenfalls mit finanziellem Mehraufwand für die Gefangenen einhergehen. Im Einzelnen wird dies in Rn. 176 ff.[15] ausgeführt und betrifft insbesondere die Wiedergutmachung der durch die Straftaten verursachten Schäden, die Erbringung von Unterhaltsleistungen sowie die Schuldenregulierung. Insoweit sehen die einschlägigen Vorschriften zwar keine Verpflichtungen vor. Allerdings sollen die Gefangenen zu entsprechendem Tätigwerden angehalten bzw. unterstützt werden (s. z.B. Art. 5a Abs. 2 S. 2, § 78 BayStVollzG, §§ 4 Abs. 3, 7 Abs. 2 S. 3 StVollzG NRW). Darüber hinaus wird das Entgeltniveau auch durch Regelungen wie § 55 Abs. 3 S. 1 StVollzG MV geschmälert. Nach dieser Bestimmung ist in der niedrigsten Vergütungsstufe ein Entgelt von 60 % der Eckvergütung vorgesehen, während das Minimum nach früherem Bundesrecht bei 75 % lag (s. § 43 Abs. 3 S. 1 StVollzG).[16]

Zu berücksichtigen ist im gegebenen Zusammenhang auch der Verweis des Beschwerdeführers in dem gegen die bayerische Entgeltregelung gerichteten Verfahren, wonach die Preise für den anstaltsinternen Einkauf im Zeitraum von 2001 bis zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde im Jahr 2016 um durchschnittlich etwa 100 % gestiegen seien (Rn. 130). Unabhängig von der konkret angegebenen Höhe der Preissteigerungen, die hier nicht näher nachvollzogen werden kann, handelt es sich um ein wichtiges Vorbringen, das durch die seit 2022 erheblich gestiegene Inflation noch zusätzlich an Bedeutung gewonnen hat. Vollzugsspezifische Besonderheiten verschärfen die Situation dabei weiter. Hintergrund sind die Regelungen in Art. 24 Abs. 1 S. 1 BayStVollzG sowie § 17 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW, die festlegen, dass Gefangene nur aus einem von der Anstalt vermittelten Angebot Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen können. Auch der gemäß Art. 25 Abs. 1 BayStVollzG mögliche Sondereinkauf erlaubt den Gefangenen nur – anstelle des nicht (mehr) möglichen Empfangs von Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln (vgl. Art. 36 Abs. 1 S. 3 BayStVollzG) – aus einem durch die Anstalt vermittelten Angebot an entsprechenden Waren zu Weihnachten, Ostern und einem von den Gefangenen zu wählenden weiteren Zeitpunkt einzukaufen. Dies bedeutet, dass den Gefangenen ein Anspruch auf Einkauf zukommt, Auswahl des Kaufmanns und Organisation der Durchführung allerdings im Ermessen der Anstalt stehen.[17] Dabei ist die Vollzugsbehörde verpflichtet, gelegentlich zu überprüfen, ob die Preise der angebotenen Waren angemessen sind, wobei Maßstab nicht Supermärkte sind, sondern der Einzelhandel.[18] Dies und der Umstand, dass der Verkaufsstelle in den Haftanstalten eine monopolartige Stellung zukommt, weil es an dem sonst üblichen freien Wettbewerb fehlt, ist ursächlich dafür, dass die Einkaufspreise im Strafvollzug grundsätzlich höher sind als außerhalb.[19] Besonders deutlich ist dies in der Vergangenheit gerade auch im Bereich der Telefonie geworden. So musste das BVerfG im Jahr 2015 darauf hinweisen, dass die Justizvollzugsanstalten im Rahmen des Resozialisierungsgebots die finanziellen Interessen der Gefangenen auch dann zu wahren haben, wenn sie bestimmte Leistungen nicht unmittelbar selbst erbringen, sondern hierfür Private einschalten. In einem solchen Fall müssen die Anstalten sicherstellen, dass der ausgewählte private Anbieter die Leistung zu marktgerechten Preisen erbringt.[20] Hintergrund der Entscheidung war, dass der europäische Marktführer für Telefonanlagen im Justizvollzug seine Dienstleistungen in einer JVA in Sachsen-Anhalt (und auch andernorts) zu Gebühren angeboten hatte, die deutlich über den außerhalb des Vollzugs üblichen Entgelten lagen, ohne dass ökonomische Gesichtspunkte oder Erfordernisse des Strafvollzugs dies notwendig gemacht hatten.[21]

3. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Zu berücksichtigen sind nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Bereits in seinem Beschluss vom März 2002, mit dem das BVerfG die Entgelterhöhung von 5 % auf 9 % der Eckvergütung als „noch“ verfassungsgemäß gebilligt hatte, führte die entscheidende Kammer aus:                                                                    

„Wegen der weiter verschlechterten Produktivität von Gefangenenarbeit, die mit der allgemeinen, von hoher Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung gekennzeichneten wirtschaftlichen Lage am Arbeitsmarkt einhergeht, wird der Abwägungsspielraum des Gesetzgebers eingeschränkt. Angesichts der strukturell bedingten niedrigen Produktivität der Gefangenenarbeit sowie der weiteren Verschlechterung der Beschäftigungssituation von Gefangenen in den 90er Jahren besteht die Gefahr, dass bei einer weiteren Erhöhung des Arbeitsentgelts eine Gefährdung der Gefangenenarbeitsplätze eintritt […]. Es droht bei weiter abnehmender Produktivität durch ein Ungleichgewicht von Lohnkosten und Ertrag die Schließung von Anstaltsbetrieben […]. Dieser Effekt einer Erhöhung der Bezugsgröße liefe dem Resozialisierungskonzept gerade zuwider. Weiterhin darf der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die allgemeinen Bedingungen des Arbeitsmarkts berücksichtigen […]. Da der durch die Neuregelung erforderlich gewordene Mehraufwand von etwa 70 bis 80 Millionen DM, was einem Mehraufwand der Länderhaushalte für den Aufgabenbereich des Strafvollzugs von gut 2 % entspricht […], bei hoher Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung bereits eine erhebliche Belastung bedeutet, ist der Gestaltungsraum für weitergehende Maßnahmen des Gesetzgebers beschränkt.“     

Diesbezüglich ist zunächst festzuhalten, dass sich der Bundesgesetzgeber seinerzeit einer Arbeitslosenquote in der Allgemeinbevölkerung von über 10 % bei weiter steigender Tendenz gegenübersah (2001: 9,4 %; 2003: 10,5 %; 2005: 11,7 %),[22] während Bayern in den vergangenen Jahren zum Teil Vollbeschäftigung erreicht hat. In Nordrhein-Westfalen ist die Situation am Arbeitsmarkt zwar nicht so gut wie in Bayern, aber ebenfalls deutlich besser als zum Zeitpunkt der letzten Entgelterhöhung für Gefangene im Jahr 2001.[23] Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich der Bundesgesetzgeber zu Beginn des neuen Jahrtausends mit einer insgesamt steigenden Verschuldung seines Haushalts konfrontiert sah, wohingegen der Freistaat Bayern bis Ende 2019 sogar Schulden abbauen konnte und trotz in letzter Zeit wieder steigender Verschuldung im bundesweiten Vergleich immer noch sehr gut aufgestellt ist. Wiederum schlechter stellt sich die Situation in Nordrhein-Westfalen dar, aber auch hier konnten zwischen 2012 und 2018 kontinuierlich Schulden abgebaut werden.[24]

Innerhalb des Strafvollzugs sind jedenfalls für Bayern keine Anzeichen für eine Verschlechterung der Arbeitssituation im Vergleich zu Beginn des Jahrtausends ersichtlich – ganz im Gegenteil: In Beantwortung eines Fragenkatalogs des BVerfG in dem der aktuellen Entscheidung zu Grunde liegenden Verfahren teilte das Bayerische Staatsministerium der Justiz mit, dass sich die Beschäftigungsquote seit dem Jahr 2001 zwischen 44 % und 59 % bewegt habe (Rn. 63). Nach den aktuellen Zahlen für 2021 lag sie bei 54,5 %.[25] Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Vergleich der Daten aus Bayern nach eigener Aussage des Bundeslandes mit denen anderer Länder aufgrund von Besonderheiten bei der Berechnung nicht ohne Weiteres möglich ist.[26] Für Nordrhein-Westfalen teilte das zuständige Justizministerium im Rahmen der Beantwortung des erwähnten Fragenkatalogs hingegen mit, dass der Anteil der Gefangenen, die mangels Arbeit nicht hätten beschäftigt werden können, von 11,4 % im Jahr 2001 auf 22,10 % im Jahr 2017 gestiegen sei (Rn. 102).

4. Fazit

Bei Gesamtbetrachtung der beschriebenen gegenwärtigen Situation der Regelungen zum Arbeitsentgelt von Gefangenen ergibt sich ein klares Bild: Während die Höhe der Vergütung seit dem 1.1.2001 im Wesentlichen unverändert geblieben ist, haben die finanziellen Belastungen für Gefangene in mehrfacher Hinsicht deutlich zugenommen, und zwar durch gesetzlich festgelegte Kostenbeteiligungen, durch zusätzliche Vorgaben, wofür sie ihr Entgelt verwenden sollen und schließlich durch Preissteigerungen. Damit ist klar, dass die Vergütungsregelung des Jahres 2001, die das BVerfG schon seinerzeit nur als „noch“ verfassungsgemäß bewertet hatte, schon lange nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar ist, weil das damalige Entgeltniveau aufgrund der beschriebenen Kostenbelastungen faktisch schon lange verfehlt wird.[27] Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, denen das BVerfG bei seiner Entscheidung im Jahr 2002 eine wichtige Bedeutung beigemessen hatten, seither überwiegend verbessert haben, wenngleich deutlich geworden ist, dass die Spielräume für den Freistaat Bayern insoweit größer sind als für Nordrhein-Westfalen.

IV. Blick nach vorn: Was zukünftig anders werden muss

1. Inhaltliche Anforderungen an die Regelungen zum Arbeitsentgelt

Weil also – wie gesehen – das im Kern stets unverändert gebliebene Arbeitsentgelt nach der Föderalismusreform auf eine gestiegene Zahl an finanziellen Belastungen gestoßen ist, verwundert es nicht, wenn das BVerfG in seiner Entscheidung (Rn. 210) feststellt: 

„Insofern erschließt sich nicht, wie diese Anforderungen von den Gefangenen erfüllt werden sollen, ohne dass ihnen mehr Lohn für die von ihnen geleistete Arbeit zur Verfügung stünde.“

Angesichts dieser Intransparenz fordert das BVerfG in sich stimmige gesetzliche Regelungen, die folgende Gesichtspunkte berücksichtigen (Rn. 167 ff.):

  • Bedeutung der Arbeit im Gesamtkontexts des Resozialisierungskonzeptes, insbesondere auch im Vergleich zu anderen Behandlungsmaßnahmen.
  • Gewichtung des monetären und nicht monetären Teils der Vergütung.
  • Festlegung der Bemessungsgrundlage des monetären Teils.
  • Gegebenenfalls Bestimmung von verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Arbeit sowie Zuordnung verschiedener Vergütungsstufen.
  • Benennung der Zwecke, die mit der Vergütung erreicht werden sollen einschließlich einer Gewichtung.

Das BVerfG betont zugleich, dass es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, auch weiterhin Kostenbeteiligungen der Gefangenen vorzusehen (Rn. 178 ff.) Insoweit hat es gegen keine der bisher erfolgten finanziellen Inanspruchnahmen grundlegende verfassungsrechtliche Bedenken.

2. Evidenzbasiertes Regelungskonzept

Was das Gesetzgebungsverfahren anbelangt betont der entscheidende Senat zwar, dass besondere prozedurale Anforderungen nicht bestehen (Rn. 195). Allerdings verlangt er mit Recht, dass die gesetzlichen Vorgaben für die „Ausgestaltung des Vollzuges“ (also nicht nur diejenigen hinsichtlich der Arbeitsvergütung!) auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen über die Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen beruhen müssen (Rn. 165). Dabei ist der Gesetzgeber verpflichtet, sich sowohl an dem in der Praxis verfügbaren Erfahrungswissen als auch an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren (a.a.O.). Zudem müssen völkerrechtliche Vorgaben und internationale Standards „gebührend berücksichtigt“ werden (Rn. 166).

Im gegebenen Zusammenhang thematisiert das BVerfG auch den Kriminologischen Dienst (KrimD), der sowohl in Bayern als auch in Nordrhein-Westfalen eingerichtet ist und der jeweils einen (vollkommen berechtigten) „Rüffel“ aus Karlsruhe erhält. Bezüglich des erstgenannten Bundeslandes führt der Senat aus, dass sich der dortige KrimD nach eigener Aussage mit den relevanten Fragen rund um Gefangenenarbeit und deren Vergütung bisher noch nicht schwerpunktmäßig beschäftigt habe. Arbeit sei vielmehr stets als selbstverständliche und wirksame Maßnahme angesehen worden, die traditionsbedingt schon immer Teil des Strafvollzuges gewesen sei (Rn. 216). Etwas zynisch formuliert lautet die „Logik“ dahinter offenbar: Solange etwas nur lange genug gemacht wird, folgt daraus gewissermaßen von selbst, dass es wohl richtig sein muss. Das BVerfG hat das – wenig verwunderlich – nicht überzeugt und stellt kurz und knapp fest (Rn. 217):

„Dies wird der Komplexität der Materie und der Gestaltungsbedürftigkeit des an den Gesetzgeber gerichteten Resozialisierungsgebots in Bezug auf die grundrechtsrelevante Frage der Bedeutung von Arbeit und ihrer Vergütung als Behandlungsmaßnahme nicht gerecht.“

 Keine wesentlich bessere Figur macht der KrimD in Nordrhein-Westfalen. Die Vertreterin dieses Bundeslandes verweist zwar in der mündlichen Verhandlung auf das Projekt EVALiS, in dessen Rahmen etwa 400 Maßnahmen untersucht würden (Rn. 230). Eine nähere Befassung mit den Auswirkungen von Arbeit im Strafvollzug und deren Vergütung sei aber bisher noch nicht erfolgt (Rn. 232). Auch hier stellt das BVerfGunmissverständlich klar, dass dies den Anforderungen des Resozialisierungsgebotes nicht gerecht wird (a.a.O).

Ganz entscheidend und erschwerend kommt hinzu, dass das BVerfG schon im Rahmen seines Beschlusses vom 24.3.2002 ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass der Gesetzgeber aufgefordert bleibe, die Entgeltregelung nicht festzuschreiben, sondern einer steten Prüfung zu unterziehen.[28] Es hat daran auch später noch einmal erinnert.[29]  Hätte man dies tatsächlich beachtet, wäre ganz zwanglos aufgefallen, dass die mit der Arbeitsvergütung zu verfolgenden Zwecke und die finanziellen Belastungen für die Gefangenen deutlich gestiegen sind, während die Entgelthöhe in den vergangenen beiden Jahrzehnten im Kern unverändert geblieben ist.

Zur (vermeintlichen) Rechtfertigung der Versäumnisse werden zunächst altbekannte Argumente vorgetragen, ohne dass diese mangels aktueller Studien auf einer tragfähigen empirischen Grundlage beruhen. Dazu gehören u.a. die Behauptungen, dass eine Erhöhung der Vergütung zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führe oder dass eine immer geringer werdende Produktivität eine Entgelterhöhung nicht zulasse.[30] Zum anderen werden hilflos wirkende Ausflüchte bemüht. Deutlich wird dies etwa an einer Antwort Nordrhein-Westfalens auf den Fragenkatalog des BVerfG (Rn. 115):

„Eine regelmäßige Erhöhung des Arbeitsentgelts erfolge durch die jährliche Anhebung der maßgebenden Rechengrößen nach § 18 SGB IV. Zudem würden die Gefangenen wohlwollend den existierenden Vergütungsgruppen zugeordnet, der überwiegende Teil erhalte mindestens 100 % der Eckvergütung. Vor dem Hintergrund der zusätzlich normierten nicht monetären Vergütungskomponenten sei die Erhöhung des Arbeitsentgelts seit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes NRW nicht für erforderlich und zielführend erachtet worden.“ 

Diesbezüglich ist festzuhalten, dass ein bloßer rechnerischer Automatismus natürlich noch keinerlei Prüfvorgang darstellt. Dass der „überwiegende“ Teil der Gefangenen wenigstens 100 % der (verfassungswidrigen) Vergütung enthält, mag ein kleiner Trost sein, zeigt aber zugleich, dass offenbar nicht wenige Gefangene nicht einmal dieses Entgelt erhalten. Sofern mit der „zusätzlich normierten nicht monetären Vergütungskomponente“ der Umstand gemeint sein soll, dass in Nordrhein-Westfalen gegenüber der früheren Bundesregelung pro Jahr zwei Tage mehr Freistellung durch regelmäßige Arbeit erworben werden können, bleibt rätselhaft, wie sich allein aus einer derart geringen Steigerung die Schlussfolgerung ergeben kann, dass eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes nicht erforderlich und zielführend sein soll. Das Vorbringen des Beschwerdeführers im gegen Nordrhein-Westfalen gerichteten Verfahren enthält insoweit den beachtenswerten Denkanstoß, dass freie Zeit im Strafvollzug für die Gefangenen so gut wie keinen Wert besitze und auch eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes ein so geringer Vorteil sei, dass er eine zu geringe monetäre Arbeitsvergütung nicht ausgleichen könne (Rn. 53).[31] Letztlich kann festgehalten werden: Die Länder haben den Prüfauftrag des BVerfG nicht ernst genommen und es war nicht zu erwarten, dass die Karlsruher Richterinnen und Richter dies einfach hinnehmen würden.

3. Möglichkeiten zur Umsetzung der verfassungsrechtlichen Anforderungen

Was die erforderliche Neuregelung anbelangt, gibt das BVerfG dem Gesetzgeber zwei Jahre Zeit (bis zum 30.6.2025) und betont zudem in inhaltlicher Hinsicht dessen weitgehenden Gestaltungsspielraum. Zugleich wagt es einen Blick über Deutschland hinaus und zeigt Möglichkeiten auf, an denen sich eine Neuregelung orientieren könnte (Rn. 15 ff.). In Betracht kommt dabei natürlich zunächst das Festhalten am bisherigen Prinzip eines Nettobetrages, indem beispielsweise der aktuelle Wert der Eckvergütung in Höhe von 9 % angehoben wird. Möglich wäre aber auch ein Bruttolohnsystem, das sich beispielsweise an einem (tariflichen) Mindestlohn orientiert. Von einer solchen Vergütung könnten dann gesetzlich festzulegende Abschläge vorgenommen werden (z.B. mit Blick auf eine geringere Produktivität sowie anfallende Kosten für Verpflegung und Unterbringung).[32]

Im Ergebnis erscheint eine Neuregelung im Sinne eines Bruttolohnsystems vorzugswürdig. Gerade mit Blick auf den Angleichungsgrundsatz erscheint das bisherige Modell einer Eckvergütung recht technisch und wenig lebensnah. Zugleich schafft ein Bruttolohnsystem mehr Transparenz, und zwar nicht zuletzt für die Gefangenen, die dadurch auch einen klaren Überblick über die mit dem Strafvollzug verbundenen Kosten erhalten.

Unabhängig von der Frage, welches Vergütungsmodell zur Anwendung kommt, muss in jedem Fall geregelt werden, wofür das Arbeitsentgelt verwendet werden soll. Entsprechend der bisherigen Regelungen in § 37 StVollzG NRW und Art. 51 BayStVollzG zum Überbrückungsgeld sollten dabei konkrete Größenordnungen angegeben werden. Damit dies realitätsnah geschehen kann, bedarf es tragfähiger empirischer Erkenntnisse, die jedoch bisher fehlen. Deutlich wird dies z.B., wenn das bayerische Justizministerium in Beantwortung eines verfassungsgerichtlichen Fragenkatalogs ausführt (Rn. 90):

„Betriebswirtschaftliche Kennzahlen zur Produktivität und Effektivität der Gefangenenarbeit sowie Daten zu Verschuldung, Unterhaltsverpflichtungen oder Wiedergutmachungs- und Schmerzensgeldzahlungen der Strafgefangenen, zu deren Beteiligung an Gesundheitsleistungen, zum Empfang von Sozialleistungen nach der Haftentlassung und ihrer sozialen Absicherung würden statistisch nicht erfasst oder ausgewertet.“

Die Antwort Nordrhein-Westfalens fiel ähnlich aus (Rn. 124). Das Fehlen derartiger Erkenntnisse führt im Übrigen einmal mehr vor Augen, wie wenig die Länder dem verfassungsgerichtlichen Prüfauftrag in Bezug auf die Gefangenenarbeit bisher nachgekommen sind.[33]

Hinsichtlich der nun vorzunehmenden Neuregelung ist noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass das BVerfG in dem in Rede stehenden Urteil nicht direkt eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes fordert. Es stellt vielmehr nur fest, dass mangels eines in sich stimmigen Gesamtkonzeptes derzeit nicht klar sei, wie die Gefangenen den vielfältigen finanziellen Verpflichtungen, die in den Strafvollzugsgesetzen angelegt sind, ohne höheren Lohn nachkommen sollen (Rn. 210). Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass man auf die Idee kommen könnte, die Bedeutung des Faktors Arbeit und die mit ihr zu erreichenden Zwecke so herabzusetzen, dass sie im Einklang mit der bisherigen Vergütung stehen. Dieser Gedanke spielte im Kreis der Länder, die die Arbeitspflicht abgeschafft haben, durchaus eine Rolle. Ein Blick auf die Gesetzgebungsverfahren zeigt hier, dass vielfach davon ausgegangen wurde, dass die vom BVerfG statuierten Anforderungen an eine angemessene Arbeitsentlohnung nur dann von Bedeutung seien, wenn Pflichtarbeit in Rede stehe.[34] Dem treten die Karlsruher Richterinnen und Richter in ihrem jüngst ergangenen Urteil nun mit Recht entgegen und weisen darauf hin, dass die in Rede stehenden Anforderungen an die Vergütung unabhängig davon gelten, ob die Arbeit verpflichtend oder freiwillig ist (Rn. 170). Überraschend ist auch dies nicht, denn bereits im Jahr 2016 hatte ein Kammerbeschluss des BVerfG diesen Weg vorgezeichnet.[35]  Damit steht also unmissverständlich fest: Die Umgehung der Anforderungen an ein angemessenes Entgelt durch schlichte Abschaffung der Arbeitspflicht ist nicht möglich. Ferner stellt das BVerfG klar (Rn. 167):

„Selbst wenn Arbeit – sei sie nun freiwillig oder als Pflichtarbeit zugewiesen – nicht (mehr) als vorrangige Behandlungsmaßnahme angesehen werden sollte, kommt ihr auch mit Blick auf andere bedeutsame Behandlungsmaßnahmen nach wie vor ein erhebliches Gewicht zu.“ 

Dies verdeutlicht, dass der Spielraum für eine Reduzierung der Bedeutung von Arbeit im Resozialisierungskonzept durchaus nicht ohne Grenzen ist. So ist zu berücksichtigen, dass viele Gefangene schon vor ihrer Inhaftierung im schulischen und beruflichen Bereich teils erhebliche Probleme hatten.[36] Dies kann im Rahmen eines sinnvollen Behandlungsvollzuges natürlich nicht unberücksichtigt bleiben. Es kommt hinzu, dass Arbeitsangebote unabhängig von der Behebung etwaiger Defizite im beruflichen Bereich auch deshalb wichtig sind, weil mit ihnen viele weitere positive Aspekte verbunden sind, denen mit Blick auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung Bedeutung zukommt: Schaffung eines strukturierten Tagesablaufs, Entgegenwirken von Langeweile, Stärkung des Selbstvertrauens etc.[37]

Ohnehin greift der Ansatz, sich der Thematik einer angemessenen Vergütung dadurch entziehen zu wollen, dass man der Arbeit keine entscheidende Rolle mehr zubilligt, viel zu kurz. So weist Marisken mit Recht darauf hin, dass man in diesem Fall eine Kompensation vorsehen müsste, weil sonst die Gefahr bestünde, dass das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß an Resozialisierung unterschritten wird.[38] Arbeit (einschließlich Bildung) stellt nämlich gegenwärtig die faktisch größte Behandlungsmaßnahme im Strafvollzug dar.[39] Der erwähnte Aus
gleich ist freilich in den Gesetzen der Länder, die die Arbeitspflicht abgeschafft haben, nicht vorgesehen. Stattdessen ist Arbeit dort weiterhin als zentrales Resozialisierungsmittel mit zahlreichen Funktionen verankert.

4. Zur Frage der Einbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung

Mag die in Rede stehende Entscheidung des BVerfG im Kern auch äußerst zu begrüßen sein, vermag dies nichts daran zu ändern, dass ihr in einem nicht unwesentlichen Punkt zu widersprechen ist, und zwar hinsichtlich der Frage der Einbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung. Angesichts der zentralen Bedeutung, die der Altersrente zukommt, erscheint es nicht nachvollziehbar, dass das BVerfG auch in der aktuellen Entscheidung wieder betont, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, die Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung aufzunehmen. Angesichts des von ihm immer wieder – mit Recht – offensiv in den Vordergrund gerückten Resozialisierungsgebotes ist es mehr als befremdlich, wenn der Zweite Senat zwar richtigerweise den engen Zusammenhang zwischen Arbeit und angemessener Vergütung betont, die gesellschaftlich aber ebenso stark verankerte Verbindung zwischen Arbeitstätigkeit und Altersvorsorge hingegen völlig außer Acht lässt.

Mit Recht hat Rotthaus schon 1987 darauf hingewiesen, dass sich das Fehlen einer Rentenversicherung als resozialisierungsfeindliche Spätfolge der Freiheitsstrafe auswirkt, weil gerade den langjährig Inhaftierten bei der Rentenberechnung später „die Jahre fehlen“.[40] Lohmann hingegen hält die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung zwar aus rechtspolitischen Gründen für sinnvoll und fordert sie „mit Nachdruck“, aus dem Resozialisierungsgebot ergebe sich aber keine entsprechende Pflicht.[41] Im Rahmen seiner Begründung rekurriert er aber im Grunde nur auf das Sozialstaatsprinzip, dessen Inhalt und Grenzen es zunächst zu umreißen gelte.[42] Dabei stellt er fest, dass sich aus vorgenanntem Grundsatz lediglich die staatliche Verpflichtung ergebe, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen, was vor allem durch die Gewährung von Sozialhilfe geschehe.[43] Da eine solche Grundsicherung in jedem Fall auch dem Gefangenen zukommt, der keinen Anspruch auf eine Altersrente hat, ist dem Sozialstaatsprinzip in der Tat auch ohne Einbeziehung der Inhaftierten in die Rentenversicherung Genüge getan.[44] Bei dieser Argumentation wird jedoch übersehen, dass man das Sozialstaatsprinzip nicht mit dem Resozialisierungsgebot gleichsetzen kann. Letzteres weist nämlich nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine persönlichkeitsbezogene Komponente auf. Deshalb ist es zutreffend, wenn das BVerfG in seinem Urteil ausführt, dass die Höhe der Entlohnung geeignet sein müsse, dem Gefangenen bewusst zu machen, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll sei (Rn. 184).[45] Hierzulande dient Berufstätigkeit traditionell aber in zweifacher Hinsicht der Schaffung einer „Lebensgrundlage“, und zwar zum einen gegenwartsbezogen und zum anderen – mit Blick auf die Altersvorsorge – eben auch zukunftsgerichtet. Vor dem Hintergrund der fehlenden Einbeziehung in die Rentenversicherung kann ein Gefangener aber allenfalls den Eindruck bekommen, dass sich Arbeit zur Sicherung des aktuellen Lebensbedarfs lohnt. Hinsichtlich des späteren Ruhestands wird eine solche Überzeugung hingegen nicht entstehen. Sinnvoll kann daher nur eine Interpretation des Resozialisierungsgebotes sein, die nicht auf halbem Wege stehen bleibt und lediglich eine von zwei Funktionen der Erwerbsarbeit in den Blick nimmt, die andere – alterssichernde – aber völlig ausblendet. Mit anderen Worten: Wenn dem Gefangenen aufgezeigt werden soll, dass regelmäßige Arbeit für die Schaffung einer Lebensgrundlage notwendig ist und letztere nach dem gesellschaftlichen Verständnis die Vorsorge für das Alter mit umfasst, muss auch insoweit ein gewisser Anreiz geschaffen werden.  In die hier vertretene Richtung weisen nicht zuletzt auch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze von 2020. Dort heißt es in Nr. 26.17: „Arbeitende Gefangene sind so weit wie möglich in das staatliche Sozialversicherungssystem einzubeziehen.“

V. Ein Plädoyer zum Schluss

Während der vergangenen 25 Jahre sind auf dem Gebiet des Strafvollzuges zwar tausende Kammerbeschlüsse des BVerfG ergangen, aber nur zwei Senatsentscheidungen. Alle beide betrafen die Gefangenenvergütung und forderten eine mit dem Resozialisierungsgebot im Einklang stehende Neuregelung. Das ist bezeichnend und sollte den für den Strafvollzug zuständigen Ländern Anlass genug sein, diesmal einen großen Wurf und nicht erneut den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Auch wenn sich das Urteil vom 20.6.2023 unmittelbar nur auf Bayern und Nordrhein-Westfalen bezieht, besteht in allen anderen Ländern in gleicher Weise Handlungsbedarf. Statt wie nach dem ersten Urteil im Jahr 1998 die Eckvergütung nur um ein paar wenige Prozentpunkte anzuheben und eine „good-time-Regelung“ in homöopathischer Dosis zu implementieren, sollte eine Neuregelung auf Basis eines Bruttolohnmodells wie in anderen europäischen Staaten angestrebt werden. Zugleich muss eine solide empirische Tatsachengrundlage geschaffen und dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine innerhalb der nächsten zwei Jahre geschaffene Neuregelung danach gewissenhaft in regelmäßigen Abständen evaluiert und gegebenenfalls nachgebessert werden muss. Hier kommt den Kriminologischen Diensten eine wichtige Rolle zu,[46] aber auch externer Strafvollzugsforschung, deren Tätigkeit allerdings mitunter durch mangelnde Unterstützung seitens der Vollzugspraxis und der dahinterstehenden Ministerien erschwert wird.[47]

 

[1]      Stenografisches Wortprotokoll der Anhörung v. 16.1.2019 zur LT-Drs. 6/12961, S. 4 f.
[2]      Stenografisches Wortprotokoll der Anhörung v. 16.1.2019 zur LT-Drs. 6/12961, S. 25.
[3]      Beispielhaft seien etwa die Konzepte zur Suizidprävention (s. dazu Meischner-Al-Mousawi, Forum Strafvollzug 2020, 259 ff.), der vergleichsweise gut aufgestellte Kriminologische Dienst oder die (inzwischen allerdings wieder zurückgenommene) Abschaffung des Arrestes genannt.
[4]      Näher hierzu Bachmann, Bundesverfassungsgericht und Strafvollzug, 2015, S. 166 ff.
[5]      Vgl. hier und zum Vorstehenden BVerfGE 98, 169 – Leitsätze 2a und 2b.
[6]      Dahinter verbirgt sich das durchschnittliche Jahreseinkommen eines in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlenden Arbeitnehmers.
[7]      Vgl. BVerfGE 98, 169 (200).
[8]      Vgl. BVerfGE 98, 169 (214).
[9]      Vgl. BVerfGE 98, 169 (215).
[10]    Vgl. hier und zum Vorstehenden Bachmann, S. 285.
[11]    Vgl. BVerfG, NStZ 2003, 109 ff.
[12]    Hier und zum Vorstehenden BVerfG, NStZ 2003, 109 (110 ff.).
[13]    Vgl. etwa Calliess, NJW 2001, 1692 (1692 f.); Radtke, ZfStrVo 2001, 4 (8 ff.).
[14]    Vgl. Lohmann, NStZ 2003, 111 (112); s. ferner den kurzen Überblick über den Meinungsstand bei Marisken, Arbeitspflicht und Arbeitsentlohnung im Strafvollzug, 2023, S. 379 m.w.N.
[15]    Die Rn. beziehen sich hier und im Folgenden auf das zu besprechende Urteil des BVerfG v. 20.6.2023.
[16]    Näher hierzu Marisken (Fn. 14), S. 375 ff.
[17]    Vgl. nur Arloth, StVollzG, 5. Aufl. 2021, § 22 StVollzG-Bund, Rn. 2 m.w.N.
[18]    Vgl. nur Knauer, in: Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl. (2022), § 53 LandesR Rn. 14 m.w.N.
[19]    Vgl. Köhne, NStZ 2012, 616 (617).
[20]    Vgl. hier und zum Vorstehenden BVerfG, BeckRS 2016, 40537.
[21]    Vgl. LG Stendal, BeckRS 2015, 992.
[22]    Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, abrufbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61718/arbeitslose-un-arbeitslosenquote/ (zuletzt abgerufen am 13.7.2023).
[23]    Arbeitslosenquote Juni 2023: 7,2%, vgl. https://statistik.arbeitsagentur.de/Auswahl/raeumlicher-Geltungsbereich/Politische-Gebietsstruktur/Bundeslaender/Nordrhein-Westfalen.html  (zuletzt abgerufen am 13.7.2023).
[24]    Vgl. zum Schuldenstand in den Ländern Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 5, 2022, S. 28 f.
[25]    Vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, abrufbar unter: https://www.justiz.bayern.de/justizvollzug/justizvollzug-in-bayern/behandlung/ (zuletzt abgerufen am 13.7.2023).
[26]    Das Bayerische Staatsministerium der Justiz (a.a.O.) weist insoweit auf Folgendes hin: „Bei der Bewertung des Anteils der unbeschäftigten Gefangenen ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der nicht zur Arbeit verpflichteten Untersuchungsgefangenen an der Gesamtbelegung bei ca. 26 % liegt. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Strafgefangene auch aus anderen Gründen als aus Arbeitsmangel unbeschäftigt sein können (z.B. Krankheit, Alter).“
[27]    Eingehende Kritik auch bei Marisken (Fn. 14), S. 380 ff.
[28]    Vgl. BVerfG, NJW 2002, 2023 (2025).
[29]    Vgl. BVerfG, NStZ 2016, 236 (237).
[30]    Ausführlich dazu Burkhardt, Forum Strafvollzug 2022, 268 (270).
[31]    Näher zur Sichtweise der Gefangenen in Bezug auf die Arbeitsentlohnung Graebsch, Forum Strafvollzug 2022, 264 (264 ff.).
[32]    Vgl. dazu etwa den Vorschlag von Jellinek, Forum Strafvollzug 2022, 272 (274 f.).
[33]    Ausführlich zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Themenfeld Gefangenenarbeit und Resozialisierung, Bliesener, Forum Strafvollzug 2022, 254 ff.; s. auch Graebsch, Forum Strafvollzug 2022, 264 (266), die den Forschungsstand als „nachgerade peinlich“ bezeichnet; ferner Drenkhahn, Forum Strafvollzug 2022, 276 (278 ff.).
[34]    Näher hierzu Marisken (Fn. 14), S. 392 ff. (auch mit Nachweisen aus den Gesetzgebungsverfahren).
[35]    Vgl. BVerfG, NStZ 2016, 236 (237).
[36]    Vgl. Jehle, Forum Strafvollzug 2022, 259 (260).
[37]    Näher hierzu Drenkhahn, Forum Strafvollzug 2022, 276 (276 f.).
[38]    Hier und im Folgenden Marisken (Fn. 14), S. 397 ff.
[39]    Vgl. Drenkhahn, Forum Strafvollzug 2022, 276 (276).
[40]    Vgl. Rotthaus, NStZ 1987, 1 (4); hier und im Folgenden auch bereits Bachmann (Fn. 4), S. 298.
[41]    Vgl. Lohmann, Arbeit und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen, 2002, S. 161.
[42]    Vgl. Lohmann a.a.O., S. 158 f.
[43]    Vgl. Lohmann a.a.O., S. 159.
[44]    Vgl. Steiner, Der Strafgefangene im System der gesetzlichen Sozialversicherung, 2006, S. 137 f.
[45]    So auch bereits BVerfGE 98, 169 (202 f.).
[46]    Vgl. Jehle, Forum Strafvollzug 2022, 259 (261).
[47]    Ausführlich dazu Bäumler/Schmitz/Neubacher, NK 2018, 210 ff.

 

 

 

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