Zu den Kommentaren springen

Der neueste Stand des Reformvorschlags zur Notwehr

von Prof. Dr. Thomas Weigend 

Beitrag als PDF Version

Die Reformarbeit ist nie zu Ende… Im Anschluss an den Workshop, der in diesem Heft dokumentiert ist, traf sich die Arbeitsgruppe „Allgemeiner Teil“ des Kriminalpolitischen Kreises erneut, um über den Entwurf zu einer Formulierung des Notwehrrechts im Lichte der verschiedentlich geäußerten Kritik zu beraten. Dabei wurde zwar kein Anlass gesehen, das Gesamtkonzept des Regelungsvorschlags aufzugeben; verschiedene Einzelfragen wurden jedoch erneut aufgegriffen und in der Formulierung nach eingehender Beratung abgeändert. Dabei ging es vor allem um die folgenden Punkte:

I. Definition der Notwehr (§ 32 Abs. 1[1])

1. Der schillernde und durch die bisherige Diskussion inhaltlich belastete Begriff der „Gebotenheit“ der Notwehr soll nach Meinung der Arbeitsgruppe aufgegeben werden. Da die Voraussetzungen und Einschränkungen der Notwehr in der neuen Vorschrift umfasssend geregelt werden, bedarf es keines „Aufhängers“ für ungeschriebene Eingrenzungen des Notwehrrechts mehr. Stattdessen soll sich die Definition der Notwehr zunächst an der unverzichtbaren Voraussetzung der „Erforderlichkeit“ der Verteidigungshandlung zur Abwehr des Angriffs orientieren. Um anzuzeigen, dass die Notwehr auch für den Fall der Erforderlichkeit nicht uneingeschränkt zulässig ist, wird in § 32 Abs. 1 nunmehr ausdrücklich auf die „Maßgabe“ der beiden folgenden Absätze hingewiesen. Die umständliche und verwirrende Umschreibung der allgemeinen Notwehrvoraussetzungen des bisher geltenden Rechts in zwei Sätzen kann dadurch auf einen einzigen Satz reduziert werden.

2. Es wird daran festgehalten, dass Notwehr nur gegen Angriffe auf Individualrechtsgüter zulässig ist. Dass auch das angegriffene Rechtsgut einer anderen Person verteidigt werden darf, bedarf jedoch im Rahmen der grundlegenden Definition der Notwehr keiner Hervorhebung, da der Fall der Notwehrhilfe in § 32 Abs. 4 ausdrücklich geregelt wird. Die Wörter „eigenes oder fremdes“ vor dem Wort „Individualrechtsgut“ wurden daher gestrichen.

3. Anstelle der Formulierung, dass die Verwirklichung eines Straftatbestandes durch Notwehr „gerechtfertigt“ sei, kehrt der Entwurf zu der Fassung des bisher geltenden Rechts zurück, wonach die Notwehrhandlung bei Vorliegen aller Voraussetzungen des § 32 StGB „nicht rechtswidrig“ ist. Der Begriff der „Rechtfertigung“ wird dann bei der Beschreibung der bisher unter „Gebotenheit“ gefassten weiteren Voraussetzungen verwendet.

II. Proportionalität der Notwehr (§ 32 Abs. 2)

1. § 32 Abs. 2, der den Proportionalitätsgedanken in das deutsche Notwehrrecht einführt, ist inhaltlich unverändert geblieben, außer dass der Begriff „geboten“ durch „gerechtfertigt“ ersetzt wurde. Außerdem wurde ein Hinweis auf die (weiteren) Einschränkungen des Notwehrrechts in § 32 Abs. 3 aufgenommen, um den Zusammenhang zwischen den beiden Absätzen deutlich zu machen.

2. Gestrichen wurde die Klausel, wonach die Rechtfertigung unter den gegebenen Proportionalitätsvoraussetzungen (nur) „in der Regel“ eintreten sollte. Entscheidend hierfür war der Einwand gegenüber der früheren Fassung, dass die Voraussetzungen der Rechtfertigung nach Art. 103 Abs. 2 GG abschließend im Gesetz geregelt sein müssten; daher dürfe dem Gericht eine Verurteilung trotz Einhaltung der Proportionalitätsregeln in (nicht näher gekennzeichneten) Ausnahmefällen nicht gestattet werden. Auch bedarf es einer solchen “Fluchtklausel“ nicht, da die Voraussetzungen und Ausnahmen in § 32 Abs. 2 und 3 durchdacht und ausgewogen geregelt sind.

III. Einschränkungen der Ausübung des Notwehrrechts (§ 32 Abs. 3)

1. Einigkeit besteht darin, dass in § 32 Abs. 3 die Umstände beschrieben werden sollen, die unter dem geltenden Recht als Fälle fehlender „Gebotenheit“ der Notwehr diskutiert werden. Hierbei geht es vor allem um die Notwendigkeit einer Verteidigung der Rechtsordnung gerade durch denjenigen, der eine Verteidigungshandlung vornimmt. Zur Beschreibung dieser Situation befürwortet die Arbeitsgruppe nunmehr mehrheitlich die Formulierung „Das Notwehrrecht ist eingeschränkt, wenn es der Verteidigung des Rechts durch den Täter nicht bedarf“.[2]

2. Vier hervorgehobene Beispielsfälle („insbesondere“) für dieses allgemeine Einschränkungskriterium werden (wie im früheren Entwurf) in § 32 Abs. 3 Satz 2 lit. a bis d aufgeführt. Durch die Formulierung „insbesondere“ wird dem Gericht die Möglichkeit offengehalten, auch in anderen Fallkonstellationen eine Einschränkung des Notwehrrechts unter der allgemeinen Voraussetzung, dass „es der Verteidigung des Rechts durch den Täter nicht bedarf“, zu bejahen. Da durch diese Formulierung der Grund für die Einschränkung des Notwehrrechts hinreichend klar zum Ausdruck gebracht wird, ist nach Meinung der Arbeitsgruppe der Gesetzlichkeitsgrundsatz durch den nicht abschließenden Charakter der gesetzlichen Beispiele nicht verletzt.

3. § 32 Abs. 3 Satz 3 beschreibt, wie sich der Täter im Falle einer Einschränkung des Notwehrrechts nach Satz 2 zu verhalten hat, um gerechtfertigt zu sein. Hier schlägt die Arbeitsgruppe keine Änderung vor, außer dass die Beschränkung der Rechtfertigung „grundsätzlich“ (statt „in der Regel“) nur dann eintreten soll, wenn der Täter die Vorgaben zur schonenden Verteidigung einhält. Auch das Wort „grundsätzlich“ lässt einen Freispruch in Ausnahmefällen zu.

IV. Notwehrüberschreitung (§ 33)

1. Trotz verschiedentlich geäußerter Zweifel hält die Arbeitsgruppe an der Lösung fest, dass eine auf asthenischen Affekten beruhende Überschreitung der Grenzen des Notwehrrechts den Täter auch dann entschuldigt, wenn er kurz vor dem Zeitpunkt des Angriffs oder kurz nach dessen Abschluss eine auf Verteidigung zielende Handlung vornimmt. Dafür wird insbesondere das Argument angeführt, dass die zeitlichen Grenzen, innerhalb derer Notwehr stattfinden darf, insbesondere für Nicht-Strafrechtler schwer zu erkennen sind; deshalb könne dem Angegriffenen bei Hinzutreten eines Affekts die Überschreitung dieser Grenzen nicht vorgeworfen werden, sofern er „in engem zeitlichen Zusammenhang“ mit dem Angriff handelt.

2. Für den Putativnotwehrexzess sieht der Entwurf in § 33 Abs. 2 einen eng formulierten Entschuldigungsgrund unter der doppelten Voraussetzung vor, dass der Irrtum unvermeidbar war und durch den Verletzten verursacht wurde. Da auch in anderen Fällen – etwa bei Verursachung des Irrtums durch einen Dritten – der im Affekt handelnde Täter Nachsicht verdienen kann, wurde in § 33 Abs. 2 Satz 2 die Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB eingefügt.

V. Endgültige Fassung der Vorschriften

Aufgrund dieser Überlegungen hat die Arbeitsgruppe im Juli 2023 die folgende neue Formulierung der §§ 32-34a StGB vorgeschlagen:

§ 32 StGB Notwehr

(1) Die Verwirklichung eines Straftatbestandes ist nicht rechtswidrig, wenn sie nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf ein Individualrechtsgut gegenüber dem Angreifer erforderlich ist (Notwehr).

(2) Eine Verteidigungshandlung ist vorbehaltlich Abs. 3 durch Notwehr gerechtfertigt, wenn sie sich gegen einen nicht unerheblichen Angriff auf das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen einen schwerwiegenden Angriff auf die Freiheit der Person richtet. In anderen Fällen ist eine Verteidigungshandlung trotz Vorliegens der Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht gerechtfertigt, wenn ihre schweren Folgen in einem groben Missverhältnis zu der von dem Angriff drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung stünden, insbesondere wenn zu erwarten ist, dass sie den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung des Angreifers herbeiführen würde.

(3) Das Notwehrrecht ist eingeschränkt, wenn es der Verteidigung des Rechts durch den Täter nicht bedarf. Dies gilt insbesondere in folgenden Fällen:

a) Der Angreifer handelt ohne Schuld;

b) der Angreifer handelt nicht vorsätzlich;

c) die Notwehr übende Person ist gegenüber dem Angreifer rechtlich zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet, ohne dass den Angreifer eine gleichwertige Rechtspflicht gegenüber dieser Person trifft; oder

d) der Angegriffene hat den Angriff durch rechtlich vorwerfbares Verhalten in zurechenbarer Weise ausgelöst.

Ist das Notwehrrecht eingeschränkt, so ist die Tatbestandsverwirklichung grundsätzlich nur dann durch Notwehr gerechtfertigt, wenn sich der Angegriffene dem Angriff nicht entziehen kann und wenn sich die Verteidigung auf solche Handlungen beschränkt, die unter möglichster Schonung des Angreifers zur Abwendung des Angriffs geeignet sind, auch wenn die Notwehr übende Person dabei zumutbare Beeinträchtigungen ihrer Rechtsgüter hinnehmen muss.

(4) Jedermann ist zu erforderlichen Verteidigungshandlungen zugunsten einer rechtswidrig angegriffenen Person (Notwehrhilfe) gemäß Abs. 2 und 3 berechtigt, es sei denn, der Angegriffene hat auf den Schutz des betroffenen Rechtsguts wirksam verzichtet.

§ 33 StGB Überschreitung der Notwehr

(1) Überschreitet der Täter bei der Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff die Grenzen des Notwehrrechts aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, handelt er ohne Schuld. Dies gilt auch, wenn der Täter aus denselben Gründen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Angriff handelt.

(2) Nimmt der Täter bei Begehung einer Handlung im Sinne von Abs. 1 irrig einen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 Abs. 1 an, so handelt er ohne Schuld, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte und der Verletzte für diesen Irrtum verantwortlich ist. War der Irrtum vermeidbar oder war der Verletzte für ihn nicht verantwortlich, so kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern.

§ 34a StGB (Subjektives Rechtfertigungselement)

Nach §§ 32 und 34 ist nur gerechtfertigt, wer die Umstände kennt, die die Rechtfertigung begründen. Kennt er diese Umstände nicht, so kommt eine Strafbarkeit wegen Versuchs in Betracht.

 

[1]      Mit „§ xx“ ohne weiteren Zusatz wird in diesem Beitrag jeweils auf die Vorschrift in der jüngsten Fassung der Arbeitsgruppe des Kriminalpolitischen Kreises Bezug genommen. 
[2]      Als Alternative wurde vorgeschlagen: „Das Notwehrrecht ist eingeschränkt, wenn besondere in der Person des Angreifers oder des Angegriffenen liegende Umstände seiner vollumfänglichen Ausübung entgegenstehen.“

 

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Durch Abschicken des Formulares wird dein Name, E-Mail-Adresse und eingegebene Text in der Datenbank gespeichert. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Datenschutzerklärung.

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen