Abstract
Da es für das JGG jüngst ein Jubiläum zu begehen galt, besteht Anlass, um auf die Entwicklung des Gesetzes zurückzuschauen. Das ist gerade auch mit Blick auf die Jugendstrafe erforderlich. Denn das Jugendkriminalrecht scheint hier die größte Nähe zum allgemeinen Strafrecht aufzuweisen – eine Nähe, die allerdings in Frage gestellt werden muss. Bei einer näheren Analyse erweist sich die Jugendstrafe nämlich als ein Institut, das sich von der Freiheitsstrafe rechtlich und teilweise auch faktisch klar unterscheidet. Durch die neueste Rechtsprechung des BGH wird diese Differenz jedoch nivelliert. Weil dies für die Zukunft einen problematischen Gebrauch der Jugendstrafe befürchten lässt, ist der Gesetzgeber zu einer Korrektur aufgerufen.
The fact that the JGG recently celebrated an anniversary is certainly an occasion to look back on the development of the law. This is particularly necessary with regard to juvenile sentences, because youth justice seems to be closest to general criminal law here – a closeness that must, however, be called into question. On deeper analysis, the juvenile sentence proves to be an institution that clearly differs from the prison sentence in legal and, in some cases, factual terms. However, the latest case law of the Federal Court of Justice has leveled out this difference. This gives rise to fears of a problematic use of the juvenile sentence in the future – and the legislator is called upon to make a correction.
I. Überblick über die Entwicklung des Status quo
1. Herausbildung des Rechtsrahmens
Die Jugendstrafe hat ihre heutige rechtliche Ausgestaltung schrittweise erlangt. So sah das RJGG von 1923 zwar (wie alle späteren Regelungen) einen erzieherischen Jugendstrafvollzug in eigenen Einrichtungen vor, lehnte sich aber sonst noch eng an die allgemein-strafrechtliche Regelung an. § 9 RJGG 1923 ließ die Anordnungsvoraussetzungen des RStGB unberührt und senkte im Wesentlichen nur die Strafrahmen ab.[1] Neben der (auf Basis des allgemeinen Strafrechts möglichen) Strafrestaussetzung sahen die §§ 10 – 13, 15 RJGG 1923 allerdings die Aussetzung zur Bewährung und die Möglichkeit der dahingehenden Vorbehaltsentscheidung vor.[2] Diese Optionen fielen mit dem RJGG 1943 indes wieder weg; vorgesehen war hiernach nur noch die Strafrestaussetzung, die nach Vollstreckung des ersten Strafdrittels zulässig war (§ 58 RJGG 1943).[3] Das Gesetz regelte nunmehr jedoch besondere Anordnungsgründe (nämlich die Schwere der Tat oder – zeitgeisttypisch – das Vorliegen „schädlicher Neigungen“, aus denen sich jeweils ein Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schutz und Sühne ergeben musste). Daneben gab das RJGG einen eigenen Jugendstrafrahmen vor (3 Monate bis 10 Jahre), übernahm aber auch die bereits 1941 im Verordnungswege[4] eingeführte Jugendstrafe von unbestimmter Dauer.[5]
Die heute geltende jugendstrafbezogene Rechtslage wurde in ihren wesentlichen Zügen sodann durch das JGG von 1953 eingeführt, das dabei in einigen Punkten freilich eng an die Vorgängerregelung anschloss.[6] Das betrifft namentlich die beiden alternativen Anordnungsvoraussetzungen – also die „schädlichen Neigungen“ und die Schwere der Schuld (statt ehemals Schwere der Tat) –, wobei auf das bisherige Zusatzkriterium (also das Schutz- und Sühnebedürfnis der Volksgemeinschaft) indes verzichtet wurde.[7] Auch der Strafrahmen wurde kaum modifiziert (6 Monate bis 5 bzw. bei Verbrechen bis 10 Jahre).[8] Doch immerhin kam es zur Wiedereinführung der Bewährungsaussetzung gem. §§ 20 ff. JGG a.F. (anders als im RJGG 1923 nun aber mit Bewährungshilfe) sowie zur Schaffung der Möglichkeit, die Verhängung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen auszusetzen (§§ 27 ff. JGG). Erhebliche Tragweite hatte auch die Einbeziehung der Heranwachsenden in den Anwendungsbereich des JGG und damit auch in den Kreis möglicher Jugendstrafadressaten (§ 105 JGG).[9]
In den folgenden 71 Jahren erfuhr dieses Reglement weitere Änderungen. So wurde die im Justizalltag bedeutungslos gewordene Jugendstrafe von unbestimmter Dauer abgeschafft (1990), die sog. Vorbewährung, die sich in der Praxis herausgebildet hatte, in §§ 61 ff. JGG positiviert (2012) und der Strafrahmen bei Mord durch Heranwachsende bei besonderer Schuldschwere auf 15 Jahre angehoben (2012). Etliche Neuregelungen bezogen sich auch auf Bewährungskonstellationen, namentlich die Änderungen bei den Aussetzungsvoraussetzungen in § 21 JGG (1970: Aussetzungsfähigkeit auch von zwei- und nicht nur von einjährigen Jugendstrafen; 1975 und 1990: Muss- statt Ermessensvorschrift) und § 88 JGG (1988: Neuformulierung der Voraussetzungen einer vorzeitigen Entlassung) sowie die mehrfachen Modifizierungen bei der Bewährungshilfe und anderen Details der Bewährungszeitausgestaltung). All diese Verschiebungen betrafen aber nicht die grundlegende Frage: Im wichtigsten Punkt – nämlich bei den Anwendungsvoraussetzungen der Jugendstrafe – geht der aktuelle Rechtsrahmen bis heute weiterhin auf die 1953 kaum veränderte Gesetzgebung von 1943 zurück.[10]
2. Der eigenständige, dezidiert spezialpräventive „Rechtsstatus“ der Jugendstrafe
Immerhin hatte die schrittweise erfolgte Ausgestaltung der Jugendstrafe aber dazu geführt, dass sich diese inzwischen in rechtlicher Hinsicht von der Freiheitsstrafe des StGB sehr deutlich abhebt. Über die JGG-eigenen Anwendungsvoraussetzungen (§ 17 JGG) und Strafrahmen (§§ 18 Abs. 1, 105 Abs. 3 JGG) hinaus zeigt sich dies in besonders ausgeformten und erweiterten Optionen für Bewährungsentscheidungen (§§ 21 ff., 27 ff., 61 ff., 88 JGG) sowie in den Sondervorschriften für die Vollstreckung der Jugendstrafe (§§ 82 ff., 88 ff. JGG) und für deren Vollzug,[11] der (auch nach internationalen Vorgaben[12]) altersangemessen und in eigenen Anstalten erfolgen muss (Trennungsprinzip). Selbst das Registerrecht hält Spezialregelungen vor (§§ 97 ff. JGG). Angesichts dieses separaten Rechtsregimes handelt es sich bei der Jugendstrafe zwar rechtstechnisch um eine Strafe,[13] aber um eine solche von eigener Art. Ganz in diesem Sinne sollte bereits die spezielle Bezeichnung der Sanktion „klarstellen, dass die Jugendstrafe von der bei Erwachsenen anzuwendenden Gefängnisstrafe wesensverschieden ist“.[14]
Besonders klar äußert sich diese „Wesensverschiedenheit“ in immer dezidierter gewordenen Vorgaben für eine erzieherisch orientierte Anordnungs- und Bemessungsentscheidung.[15] So wurden die beiden Varianten des § 17 Abs. 2 JGG anfänglich zwar noch als ein Nebeneinander von „Erziehungs‑“ und „Schuldstrafe“ konzipiert und für Konstellationen vorgesehen, in denen der Jugendliche „der Erziehung durch Strafe bedürftig ist oder (… in denen …) wegen der Größe seiner Schuld eine Strafe nicht entbehrt werden kann“.[16] Die Bemessung der Dauer musste jedoch von Anbeginn für beide Jugendstrafformen so erfolgen, dass „die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist“ (§ 18 Abs. 2 JGG). Dem Rechtsausschuss zufolge solle dadurch „der spezialpräventive Zweck der Strafe in den Vordergrund“ treten; die Gerichte hätten dem „Erziehungszweck der Jugendstrafe (…) entscheidende Bedeutung beizumessen“.[17] Unterstrichen wurde diese Maßgabe durch daran angepasste Sanktionierungsregeln, namentlich in §§ 31 ff. JGG (Einheitssanktion) und in § 8 JGG (Verbindung von Jugendstrafe und anderen Interventionsformen). 2008 erhielt diese Grundausrichtung sodann mit Einfügung von § 2 Abs. 1 JGG insofern gesteigertes Gewicht, als hiernach die Verhängung der Jugendstrafe (wie bei jeder anderen jugendstrafrechtlichen Rechtsfolge) „vorrangig“ an erzieherischen Aspekten orientiert werden muss. Durch diese besonderen Vorgaben wird neben dem jeweils deliktseinschlägigen Strafrahmen (dazu § 18 Abs. 1 S. 3 JGG) auch § 46 StGB, der bei Erwachsenen nach h.M. nur eine nachrangige Berücksichtigung spezialpräventiver Gesichtspunkte innerhalb des Schuldrahmens erlaubt,[18] aus dem Jugendstrafrecht herausgedrängt (§ 2 Abs. 2 JGG).
In Ansehung all dieser Besonderheiten kann die Jugendstrafe nicht als Spielart der Freiheitsstrafe begriffen und mit ihr auch „nicht gleichgesetzt werden“ (Nr. 1 S. 2 RL zu § 17 JGG).[19] Ihr aliud-Charakter hat im Übrigen rechtstechnische Konsequenzen. Beispielsweise ermöglicht er ohne weiteres eine Anrechnung auch von freiheitsstrafenfremden Freiheitsentziehungen wie dem vollstreckten Nichtbefolgungsarrest (entsprechend § 31 Abs. 2 S. 2 JGG).[20] Insbesondere aber schließt er die Anwendung von Normen, zu deren Tatbestandsvoraussetzungen auch das Merkmal einer Freiheitsstrafe zählt, bei Vorliegen einer Jugendstrafe regelmäßig aus.[21] Bestätigt wird dies gegenschlussartig durch jene Vorschriften, die beide Freiheitsentziehungsformen als alternative Voraussetzungen kennen (§ 54 Abs. 1 AufenthG, § 5 Abs. 1 S. 1 StAG) oder eine entsprechende Anwendung der Regeln für die Freiheitsstrafe auf Jugendstraffälle anordnen (§ 38 BtMG). Konsequenzen hat dies vor allem für § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB und die §§ 66 ff. StGB, bei denen eine frühere Jugendstrafe nicht mit der dort geforderten früheren Freiheitsstrafe gleichgesetzt werden kann.[22]
Dass sich die Rechtsprechung diesen Konsequenzen verschließt, gibt allerdings einen ersten Hinweis darauf, dass justizseitig nur eine eingeschränkte Akzeptanz der eigenständigen und von der Freiheitsstrafe unabhängigen Rechtsqualität der Jugendstrafe aufgebracht wird. Offenbar geht man dort eher von einer engen Verwandtschaft zwischen beiden Formen der Freiheitsentziehung aus. Das bestätigt sich in Untersuchungen zur gerichtlichen Handhabung von § 18 JGG, die eine stark ausgeprägte Konzentration der festgelegten Strafdauern auf „runde Werte“ (6, 12, 18 und 24 Monate) aufweist[23] – also eine Verteilungsstruktur, die in ihrem Schematismus kaum mit einer täterindividuell angepassten, spezialpräventiven Bemessungspraxis zu vereinbaren ist. Vielmehr sind, wie auch die Auswertung von jugendstrafrechtlichem Aktenmaterial ergab, in der richterlichen Anordnung und Bemessung der Jugendstrafe de facto oft genau jene (tatstrafrechtlichen) Gesichtspunkte bestimmend, von denen die Strafpraxis gegenüber Erwachsenen geprägt wird (Vorbelastung und das objektive Tatgewicht).[24]
3. Die quantitative Verteilung und Entwicklung der Jugendstrafe
Ungeachtet dieser Beobachtungen hat die Jugendstrafe nicht die gleiche Bedeutung wie die Freiheitsstrafe im Erwachsenenstrafrecht. Zwar liegt der jeweilige Anteil an den erfolgten Verurteilungen auf einem ähnlichen Niveau (Tab. 1), doch muss dabei berücksichtigt werden, dass die Deliktsschwere und die individuelle Vorbelastung im Bereich der Jugendkriminalität insgesamt wenig stark ausgeprägt sind und die Diversionsrate (auch) deshalb deutlich höher liegt.[25] Berücksichtigt man diese Vorselektion und bezieht die Jugendstrafanwendung auf alle (auch die informellen) Sanktionsentscheidungen, ist ihr Anteil keineswegs so hoch wie bei der Freiheitsstrafe. Die Mitberücksichtigung des Jugendarrestes würde jedoch zu einer weitgehenden Angleichung führen.[26]
Tab. 1: Sanktionsanteile der Jugend- und Freiheitsstrafe
Die Anwendungshäufigkeit der Jugendstrafe ist im Übrigen gesunken. In 2007, dem ersten Jahr ihrer bundesweiten Erfassung, wurde sie bei 20.480 Verurteilten verhängt, während es 2021, dem letzten Jahr mit vorliegenden Daten, nur noch 7.293 waren.[27] Natürlich drückt sich darin in erster Linie der generelle Rückgang in den Verdachts- und Sanktionierungszahlen sowie die lange sinkende Belastung mit Jugendkriminalität aus. Aber auch in Relativzahlen deutet sich eine ähnliche Tendenz an (Diagramm 1).
Diagramm 1: Sanktionsanteile der Jugendstrafe im Zeitverlauf (früheres Bundesgebiet, ab 2007 Deutschland gesamt); Quelle: Heinz (Fn. 25), 59
So gingen Urteile, die auf eine un-/bedingte Jugendstrafe lauten, unter allen Verurteilungen nach den 1990er Jahren zunächst etwas zurück, um dann länger auf diesem abgesenkten Niveau zu verbleiben.[28] Da aber in diesem Zeitraum zumindest phasenweise die Diversionsrate und die Häufigkeit, mit der man Heranwachsende nach JGG aburteilte, etwas stiegen, nahmen schwerere Delikte in der Zusammensetzung des zur Verurteilung stehenden Fallbestandes tendenziell zu.[29] In der Stabilität der verurteilungsbezogenen Jugendstrafenanteile drückt sich deshalb eher ein zurückhaltender werdender Jugendstrafgebrauch aus. Bezieht man dessen Häufigkeit auf sämtliche jugendstrafrechtliche Sanktionen, ist dies in den Trenddaten auch deutlich erkennbar (Diagramm 1).
Allerdings steigt unter den verhängten Jugendstrafen der Anteil der (mittel-)langen Freiheitsentziehungen (zulasten der kurzen) merklich an, so dass ihr Gewicht unter den Verurteilungen ebenfalls wächst (Diagramm 2). Auch hierfür dürfte indes die erwähnte qualitative Veränderung des jugendgerichtlichen Fallaufkommens bedeutsam sein. Da sich der recht stabil bleibende Anteil an jenen Verurteilungen, die auf eine Jugendstrafe lauten (Diagramm 1), hierdurch stärker auf gewichtigere Delikte konzentriert, dürfte die veränderte Strafdauerpraxis vorwiegend auf einer veränderten „Fallmischung“ (und weniger auf einer zunehmenden Strenge) beruhen.
Diagramm 2: Anteile der Jugendstrafe verschiedener Dauer an allen Verurteilungen nach JGG (früheres Bundesgebiet, ab 2007 Deutschland gesamt); Quelle: berechnet nach Heinz (Fn. 25), 66
Im Übrigen wird die Zunahme der Straflänge vielfach durch die Bewährungsaussetzung aufgefangen. So wurden 74 % aller 2021 in aussetzungsfähiger Länge verhängten Jugendstrafen ausgesetzt (über 80 % der bis zu einjährigen und knapp 67 % der ein- bis zweijährigen Jugendstrafen).[30] Unter den Personen, bei denen die Jugendstrafe tatsächlich vollstreckt wird, muss angesichts dieser Aussetzungsrate der Anteil jener, die zu einer längeren Haftdauer verurteilt worden sind, also recht hoch sein. Trotzdem weisen einzelne Untersuchungen darauf hin, dass die effektive Haftzeit bei der Mehrheit der Jugendstrafgefangenen von begrenzter Dauer ist. Der Mittelwert scheint bei einem Jahr oder etwas darunter zu liegen, was auch auf der Anrechnung vorangegangener U-Haftzeiten und einer relevanten Häufigkeit von Strafrestaussetzungen gem. § 88 JGG und § 35 BtMG beruht.[31]
4. Zwischenbilanz zum status quo
Insgesamt wurde die Jugendstrafe während der letzten 101 Jahre durch etliche legislatorische Schritte zu einer Sanktionsart geformt, die sich – der Grundanlage des JGG entsprechend – durch ihre dezidiert spezialpräventive Ausgestaltung von der Freiheitsstrafe klar abheben soll. In den tatsächlichen Entscheidungsprozessen wird dieses besondere Rechtsprogramm zwar offenbar nur bedingt umgesetzt. Doch führt das, legt man die Daten auf der überindividuellen Ebene zugrunde, nicht zu einem übermäßigen Gebrauch. Die Jugendstrafpraxis ist eher als begrenzt (sowie als auch im internationalen Vergleich moderat[32]) einzustufen.
II. Erfüllung der spezialpräventiven Erwartung?
1. Die Bedeutung von Freiheitsentziehung für junge Menschen
Bei der Frage, ob die Jugendstrafe ungeachtet ihres zurückhaltenden Einsatzes die an sie gerichteten Erwartungen erfüllt, ist jedoch Skepsis am Platze. Einerseits verfolgen die landesrechtlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs durchgehend (wenngleich mit mancher sicherungsbezogenen Relativierung) spezialpräventive Intentionen.[33] Auch weist der Vollzug tatsächlich einige entsprechende Bedingungen auf – nicht nur in der Versorgungs- und Unterbringungssituation, sondern ebenso im fördernd und unterstützend ausgerichteten Maßnahmenspektrum (Aus- und Schulbildung, Lehrbetriebe, sozialpädagogische Programme, therapeutische Angebote).[34] Diese Behandlungssituation hat sich, nicht zuletzt wegen des zuletzt abnehmenden Belegungsdrucks, tendenziell noch verbessert, bleibt allerdings hinter dem Bedarf weiterhin nicht wenig zurück.[35]
Zugleich ist von Jugendstrafvollzug aber eine Altersgruppe[36] betroffen, die oft noch vor spezifischen Entwicklungsaufgaben[37] steht, die unter den Bedingungen fehlender Freiheit gar nicht zu realisieren sind (Entwicklung von Geschlechtsrollen, Bindungsverhalten und Partnerbeziehungen; Selbsterprobung und Lebensstilentwicklung; Kompetenzbildung für Waren- und Medienkonsum; Habitualisierung einer von Außenkontrollen unabhängigen Verhaltenssteuerung). Hinzu kommen viele Bedrückungen, die im Jugend- nicht weniger als im Erwachsenenvollzug wirksam werden (Fremdbestimmung, ungünstige und ungewollte Sozialkontakte, gewalthaltiger Interaktionsalltag, Störung auch der positiven externen Sozialbeziehungen, materielle Deprivation, anhaltende Außenweltstigmatisierung).[38] Von diesen desintegrativen Bedingungen werden die fördernd und unterstützend ausgerichteten Vollzugselemente überlagert und oft überdeckt. Daher bildet der Jugendstrafvollzug – ungeachtet seiner spezialpräventiven Bestimmung – ein Lebensumfeld, das kaum als entwicklungsgünstig gelten kann.
2. Die Leistungs(un-)fähigkeit der Jugendstrafe
Legt man das Kriterium der Legalbewährung als Erfolgsmaßstab zugrunde, schneidet die (vollstreckte) Jugendstrafe deshalb (ungeachtet gewisser Verbesserungen) in den turnusmäßigen BZR-Auswertungen alles andere als gut ab.[39] Die sog. Rückfallhäufigkeit nach vollzogener Jugendstrafe ist so hoch wie nach keiner anderen (jugend-)strafrechtlichen Sanktion (Tab. 2). Und das zeigt sich nahezu unterschiedslos, denn mit den sich partiell unterscheidenden Vollzugsbedingungen und Übergangsprozessen innerhalb Deutschlands variiert die prinzipiell geringe Erfolgsrate ausweislich der vorliegenden Regionalstudien kaum.[40] Dies gilt im Grunde auch für die Vollzugsdauer[41] und wohl ebenso für offene und freie Vollzugsformen.[42]
Tab. 2: Rückfall nach voll- oder teilvollstreckter Jugendstrafe[43]
Auf die „schwierige“ Klientel, bei der die vollzuglichen Interventionen angesichts außerordentlicher entwicklungspsychologischer und sozialer Belastungen[44] zweifellos herausforderungsreich sind, kann diese Leistungsbilanz nicht allein zurückgeführt werden.[45] Auch der Umstand, dass die Angebote und Maßnahmen oft nicht ausreichend individualisiert und auf die persönlichen „needs“ der Gefangenen abgestimmt werden,[46] reicht zur Erklärung nicht aus. Vielmehr weist die Jugendstrafe infolge der genannten, von ihr erzeugten Bedingungen (II.1.) augenscheinlich eine strukturelle Limitierung ihres „Besserungs“-Potenzials auf. In (nur international vorhandenen) komparativen Daten zeichnet sich demgemäß für stationäre im Vergleich zu ambulanten jugendstrafrechtlichen Sanktionen eine bestenfalls äquivalente, eher aber höhere Rückfallrate ab.[47]Dies ergibt sich inzwischen nicht mehr nur aus Untersuchungen, in denen die Vergleichbarkeit der verschieden sanktionierten Gruppen mit speziell dafür entwickelten statistischen Methoden hergestellt wird, sondern auch aus Studien, die dies durch feldexperimentelle Konstellation gewährleisten.[48] Die Wirkungen fallen im Übrigen umso ungünstiger aus, je jünger die Betroffenen sind.[49]
Die Vollstreckung von Jugendstrafe erweist sich also nicht nur oftmals als nutzenarm, sondern nicht selten sogar als kriminogener Risikofaktor, der die bereits bestehenden Belastungslagen der Zielgruppen verstärkt – ohne dass dies durch die entwicklungsstützenden Gestaltungselemente des Vollzugs abgefedert würde. Auf der Ebene akkumulierter Daten ist die Sanktion im Grunde geeignet, das gesellschaftliche Kriminalitätsaufkommen wachsen zu lassen. Aber natürlich treten innerhalb der Gesamtheit der Jugendstrafgefangenen individuell sehr verschiedene und darunter manchmal auch günstige Entwicklungen auf, die von dem Strafeingriff profitieren (etwa durch Reduzierung psycho-sozialer Belastungen oder wegen des Schonraums gegenüber besonders misslichen Außenweltbedingungen).[50] Doch dies ist de facto alles andere als die Regel.[51]
Auch der Umstand, dass längerfristig durch beinahe alle (ehemaligen) Jugendstrafgefangenen die Delinquenzbelastung abgebaut und spätestens bis zum mittleren Erwachsenenalter auf ein Niveau reduziert wird, das der gesellschaftlich tolerierten Normalität weitgehend entspricht,[52] hebt die Problematik der Jugendstrafe nicht auf. Denn dieser prozesshafte Kriminalitätsausstieg („Desistance“) beruht primär auf individueller Reifung, dem Erwerb fortentwickelter Weltsichten und Selbstbilder, der Entstehung stabiler Partnerschaften und dem Zugang zu positiv erlebter Berufstätigkeit. Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen der Jugendstrafvollzug zu diesen Veränderungen beiträgt (oder umgekehrt gerade verschleppend wirkt), ist in der kriminologischen Verlaufsforschung zwar noch nicht konkret geklärt,[53] doch spricht wenig für eine zentrale Rolle.[54]
3. Zwischenbilanz zum spezialpräventiven Potenzial
Nach den vorliegenden Befunden löst die reale (also nicht ideale) Jugendstrafe die an sie gerichteten Erwartungen höchstens teilweise ein. Klare „Besserungs“-Erfolge sind selten. Bei einem relevanten Teil ihrer Adressaten mag sie mittelbar zum Herauswachsen aus devianten Entwicklungen beitragen, doch oft stehen eher ihre desintegrativen Effekte im Vordergrund. Durch Akkumulationswirkungen kann sich dies auf gesellschaftlicher Ebene kriminalitäts(re-)produzierend niederschlagen, was in Deutschland nur deshalb kaum spürbar ist, weil Jugendstrafe selten angewandt wird (oben I.3.). Freilich stellt sich die Frage, inwieweit es hier durch sich abzeichnende neuere Entwicklungen zu einer rechtlichen Neuorientierung und einer damit einhergehenden Ausweitung der Anwendungspraxis kommen wird.
III. Die aktuellen Anstöße für eine Neuausrichtung
1. Schädliche Neigungen
Das Vorliegen schädlicher Neigungen wird nach ständiger Rechtsprechung bejaht, wenn bei Begehung der abzuurteilenden und hinreichend gewichtigen Tat[55] (sowie noch im Urteilszeitpunkt[56]) erstens Störungen der Persönlichkeitsentwicklung vorliegen, die zweitens ohne längere „Gesamterziehung“ (gemeint ist die multidimensionale Einwirkung im Jugendstrafvollzug[57]) die Gefahr der Begehung von nicht nur geringfügigen Straftaten induzieren.[58] Für die dahingehende Beurteilung sind Verhaltensauffälligkeiten und Problemlagen in der psychosozialen Entwicklung des Jugendlichen von Bedeutung,[59] wobei der (gerichtlich festgestellten) Delinquenz in der bisherigen (und gegebenenfalls auch nachtatlichen) Entwicklung ein besonderer Hinweiswert zugemessen wird.[60]
Die Kritik an § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG beruht auf dessen zweifelhafter Verträglichkeit mit dem Schuldprinzip. Zwar setzt die Anordnung der Jugendstrafe auch bei diesem Verhängungsgrund eine schuldhaft begangene Straftat voraus, doch fungiert diese eher als Anlass und intensitätslimitierende Referenz der Sanktion. Der eigentliche Anordnungsgrund liegt dagegen (ebenso wie die für die Strafbemessung maßgebliche Bezugsgröße) in der neigungsbedingten Gefährlichkeit – die aber lediglich diagnostiziert werden muss, ohne dass es darauf ankäme, ob dem Verurteilten deswegen ein (aus kriminologischer Warte ohnehin kaum begründbarer) Vorwurf zu machen ist.[61] Grundlage der strafenden Freiheitsentziehung ist also die dem Jugendlichen zugeschriebene Beschaffenheit, nicht aber deren individuelle Vermeidbarkeit.[62]
In der Literatur wird die „Neigungs-Variante“ so mitunter für verfassungswidrig gehalten[63] oder ihre legislatorische (aber nicht notwendig ersatzlose) Abschaffung verlangt, wofür man jedoch meist auf die Unbestimmtheit und fragliche Begrenzbarkeit des Anordnungsgrundes verweist.[64] Und in der Tat ist nicht von der Hand zu weisen, dass die tatrichterliche Handhabung nicht selten mit schematischen und oberflächlichen Gefährlichkeitsdiagnosen operiert, mit denen sie entweder eine schlichte Eskalationslogik[65] oder das Strafverlangen bei schwerer Delinquenz (vgl. oben I.2. am Ende) kaschiert. Die Folgen sind, wie die relativ geringen Anwendungszahlen zeigen (oben I.3.), jedoch begrenzt. Gleichwohl wäre eine strukturelle Entflechtung von der Strafkategorie angebracht, wobei diese neue selbstständige Rechtsfolge dann auch inhaltlich auf eine sozialpädagogische Intensivbetreuung (innerhalb strenger Verhältnismäßigkeitsgrenzen auch stationär) hinauslaufen muss.[66] Für solche oder ähnliche Schritte sind im politischen Raum allerdings nicht die geringsten Anzeichen erkennbar.
Die Bereitschaft zu Modifizierungen ist vielmehr auf terminologische Fragen beschränkt. Der Begriff der „schädlichen Neigungen“ sieht sich nämlich nicht nur durch seine Hintergründe in der NS-Gesetzgebung (oben I.1.) in Frage gestellt,[67] sondern vor allem auch wegen seiner Tendenz zur Stereotypisierung und zu einem ausgrenzenden „Othering“.[68] Nach mehrfachen Vorstößen der Bundesländer[69] ist eine zeitgemäße Neufassung von § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG nunmehr auch durch das BMJ avisiert.[70] Irgendeine inhaltliche Veränderung läge darin aller Voraussicht nach aber nicht. Dies ist beim Anordnungsgrund der Schuldschwere anders. Hier kristallisiert sich momentan eine deutlich weiterreichende Neuentwicklung heraus.
2. „Schwere der Schuld“
a) Vorwurfsintensität
Nach § 17 Abs. 2 Hs. 2 JGG ordnet das Gericht die Jugendstrafe an, wenn dies „wegen der Schwere der Schuld erforderlich“ ist. Eine Schwelle, bei deren Überschreitung der Schuldvorwurf das notwendige Gewicht aufweist, benennt das Gesetz dabei nicht. Auch der BGH sieht konsequent von der Bestimmung eines Grenzwertes ab. Vielmehr beschränkt er sich darauf, ein Spektrum an potenziell relevanten Beurteilungsfaktoren aufzuzeigen und deren Zusammenführung in einer Gesamtbewertung zu betonen. Hiernach komme es – und darin liegt eine Abweichung vom Erwachsenstrafrecht – vorwiegend auf die innere Tatseite an, genauer: auf charakterliche Haltung, Persönlichkeit sowie Tatmotivation des Jugendlichen, soweit diese sich „in der Tat manifestiert haben“.[71] Um diese personenbezogenen Schlüsse zu ziehen, bedürfe es zwar auch der Einordnung des Tatvorwurfs anhand normal-strafrechtlicher Kriterien, nur habe diese sog. „Parallelwertung“ keine selbstständige Bedeutung.
Für diese jugendspezifische Schuldbewertung müsse das Ereignis in all seinen Seiten erfasst werden. Neben alterstypischen (Individual-)Aspekten (Entwicklungsstand, Gruppendynamik und andere situative Bedingungen) beträfe dies auch die allgemeinen Gewichtungsmerkmale, etwa die gesetzgeberische Deliktseinstufung (Vergehen/Verbrechen, Strafrahmen) sowie alle Aspekte, die das fallkonkrete Erfolgs- und Handlungsunrecht prägen (Schäden; Vorgehensweise; Planung/Vorsatz/Fahrlässigkeit; tatbezogene Einstellungen usw.). Dabei spreche die Begehung von legislatorisch als wenig oder mittelschwer eingeordneten Delikten (oder von minderschweren Fällen) tendenziell zwar gegen die Schwere der Schuld (die bei Vornahme von Kapital- und anderen gewichtigen Delikten umgekehrt sehr häufig begründbar sei), aber letztlich komme dem stets nur der Status von mittelbar bedeutsamen Hinweisen zu. Der Ausschlag werde durch das „konkrete Tatbild“ gegeben.[72]
b) Wegfall des judikativ geforderten Indikationserfordernisses
Der bisherigen Rechtsprechung zufolge war allerdings auch bei § 17 Abs. 2 Hs. 2 JGG „der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen“.[73] Deshalb genügte ein hinreichender Schuldvorwurf für die Anordnung der Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 Hs. 2 JGG für sich genommen nicht; anordnungsfähig war diese Rechtsfolge nur, wenn sie daneben auch aus erzieherischen Gründen als erforderlich erschien.[74] Diese Interventionsbedürftigkeit musste aber keineswegs den Grad „schädlicher Neigungen“ erreichen;[75] es reichte aus, dass die Jugendstrafe im konkreten Fall jedenfalls erzieherisch nicht funktionslos oder gar kontraproduktiv war.[76] Auch wenn diese Linie in manchen Ausnahmebereichen aufgelockert wurde,[77] hatte sie – ungeachtet anhaltender Kritik in Teilen des Schrifttums[78] – als Leitprinzip bislang Bestand.[79]
Nunmehr gab der 5. Senat diese Auslegung jedoch bekanntlich in einem Anfragebeschluss[80] und – da ihm die anderen fünf Senate (jeweils begründungslos) folgten[81] – einem darauf beruhenden Urteil auf.[82] Hierfür wurden von ihm im Wesentlichen jene Argumente referiert, die die genannte Schrifttumsfraktion seit jeher ins Feld geführt hatte: Der Gesetzgeber habe durch die Fassung des Normtextes in § 17 Abs. 2 JGG, in dem sich die erzieherische Indikation („Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen“) allein auf die schädlichen Neigungen bezieht, ebenso wie durch seine Erläuterung in der Gesetzesbegründung[83] zum Ausdruck gebracht, dass § 17 Abs. 2 Hs. 2 JGG eine erziehungsunabhängige Schuldstrafe ermöglichen soll.
Diese mehr als 70 Jahre zurückliegende Festlegung wurde zwischenzeitlich indes relativiert. So hat der Gesetzgeber niemals ein Beharren auf der damaligen Konzeption erkennen lassen und – in Kenntnis der über Jahrzehnte vom BGH vertretenen Indikationslösung – weder den § 17 JGG nachjustiert, noch auch nur ein Monitum formuliert. Ganz im Gegenteil wurde mit § 2 Abs. 1 S. 2 JGG zum 1.1.2008 eine rechtsfolgenbezogene Generalregelung implementiert, der zufolge die Sanktionsanordnung „vorrangig“ am Erziehungsgedanken auszurichten ist (oben I.2). Durch diese lex posterior, die die Berücksichtigung von Schuld eben nicht in gleichwertiger oder gar alleiniger Weise, sondern eindeutig nur mit einem „nachrangigen“ Stellenwert erlaubt, wurde die ursprüngliche Regelungsstruktur wesentlich überformt. Eine Auslegung, die allein an die gesetzgeberische Intention von 1953 anknüpft, ist außerdem auch mit den zwischenzeitlich eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik unvereinbar.[84] Und ohnehin sprach § 18 Abs. 2 JGG schon immer dafür, dass eine reine Schuldstrafe im JGG gar nicht integrierbar ist. Indem die Vorschrift als einziges Kriterium für die Strafdauerfestlegung die Ermöglichung der „erzieherischen Einwirkung“ bestimmt, setzt sie deren Notwendigkeit ersichtlich voraus. Dass das JGG für jene Fälle, in denen es daran fehlt, also offenbar überhaupt keine Bemessungsregelung vorsieht, spricht dafür, dass es diesen Falltypus auch nicht als Fall der Jugendstrafe anerkennt.[85]
3. Implikationen der neuen Judikatur
a) Geringere Anordnungshürden
Die geänderte Rechtsprechung des BGH ist angesichts dieser argumentativen Gemengelage also auf alles andere als zwingende Gründe gestützt.[86] Dennoch wird sie die Rechtspraxis wahrscheinlich spürbar verändern. Durch den Wegfall der erzieherischen Notwendigkeit kommt es für § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG nunmehr allein auf das Schuldschwere-Kriterium an – und dessen Reichweite ragt in der oben skizzierten Handhabung (III.2.a.) prinzipiell bis in den Bereich mittelschwerer Delikte hinein.[87] Diese abgeflachte Anordnungsschwelle kommt ohne das Korrektiv des Indikationserfordernisses direkt zum Tragen.[88] Zwar ist nicht bekannt, mit welcher Häufigkeit die Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG früher wegen des Fehlens eines stationären Einwirkungsbedarfs abgelehnt wurde, doch dass die Bejahung des Anordnungsgrundes künftig einfacher wird, liegt auf der Hand. Der so eröffnete Anwendungsbereich widerspricht nicht nur dem gesetzgeberischen Willen, auf den sich der BGH doch verbal beruft,[89] sondern gefährdet vor allem den moderaten Charakter der bisherigen Anwendungspraxis (oben I.3.). Doch damit nicht genug. Berücksichtigt man auch die Art der vermutlich hinzukommenden Jugendstraf-Fälle, stehen noch weitergehende Konsequenzen im Raum:
b) Mehr nicht-indizierte Anordnungsfälle
Der Beitrag, den die Jugendstrafe zur Begrenzung von Jugenddelinquenz erbringt, muss nach den oben (bei II.2.) erwähnten Befunden insgesamt, sieht man von zeitlich stets begrenzten und für das gesellschaftliche Deliktsaufkommen nur bedingt relevanten Sicherungseffekten ab,[90] skeptisch beurteilt werden. Die Sanktionsform wirkt, makroanalytisch gesehen, eher an der Reproduktion von Kriminalität mit, auch wenn sie in einzelnen Fällen (also mikroanalytisch gesehen) bisweilen entwicklungsförderlich sein kann. Ein im Sinne der positiven Spezialprävention funktionaler Einsatz der Jugendstrafe liegt deshalb ausschließlich unter sehr engen Bedingungen vor – nämlich allein in den wenigen Fällen mit solchen psycho-
sozialen Problemlagen, zu deren Behebung sich die Jugendstrafe individuell eignet (und dies vor allem auch ausnahmsweise besser als eine ambulante Reaktion).
Um sicherzustellen, dass diese Sanktion nach Möglichkeit nur in diesen konkret indizierten Konstellationen eingesetzt wird, bedarf es vor der Anordnung von Jugendstrafe der Prüfung und Feststellung nicht nur einer hinreichenden Vorwurfsschwere,[91] sondern auch einer jugendstrafbezogenen Indikation. Im bisherigen Normprogramm war dies zumindest ansatzweise angelegt, da der erzieherische Bedarf grundsätzlich (in verschiedener Ausprägung) für beide Verhängungsgründe festzustellen war. Nach dem Wegfall dieses Kriteriums in der Schuldschwere-Variante findet eine Indikationsprüfung hier künftig aber nur noch sekundär, nämlich bei der Strafdauerbemessung und der Aussetzungsfrage statt, während sie für das „Ob“ keine Bedeutung mehr hat. Zur Anordnung der Jugendstrafe wird es deshalb vielfach auch in Fällen kommen, in denen sie individuell weder erforderlich noch geeignet ist.[92] Natürlich fand das auch bislang nicht selten statt,[93] doch dürfte dies künftig, wenn eine entsprechende Prüfung gar nicht mehr stattfinden muss, noch deutlich häufiger werden.
Hat der BGH dies akzeptiert oder gewollt? Man kann nur spekulieren, welche (rechtspolitische) Erwägung ihn in einer dogmatischen Gemengelage, in der ohne weiteres auch eine andere Auslegung möglich war und von ihm deshalb auch über Jahrzehnte selbst vertreten wurde, bewogen hat, diesen Weg ohne ein einziges neues Argument zu beschreiten.[94] Es spielt letztlich aber gar keine Rolle, ob es ihm um Schuldausgleich, Abschreckung oder öffentliche Straferwartungen ging. Viel interessanter wäre, ob er dabei den referierten empirischen Wissensstand zur Kenntnis genommen hat,[95] dem zufolge für den spezialpräventiv nicht indizierten Einsatz der Jugendstrafe ein Preis fällig ist: das Risiko einer Kriminalitätssteigerung.[96]
IV. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
Das schrittweise gewachsene Rechtsprogramm der Jugendstrafe richtete diese an einer dezidiert spezialpräventiven Zielverfolgung aus. In der Praxis hat die Sanktion in dieser Hinsicht zwar nur bedingt überzeugt, doch war immerhin ihre Anwendungsbreite begrenzt. Insofern fällt der Rückblick ambivalent aus. Der Blick nach vorn ist indes noch weniger erfreulich: Durch die bundesrichterliche Neubestimmung des Schuldschwere-Kriteriums droht nicht nur eine zunehmende Jugendstrafnutzung, sondern auch ein darauf beruhender unguter Impuls für die Kriminalitätsentwicklung. Vermutlich wird diese Gefahr teilweise dadurch aufgefangen, dass die Jugendstrafe in vielen der hinzukommenden Anwendungsfälle gar nicht vollstreckt, sondern zur Bewährung ausgesetzt werden wird.[97] Doch garantiert ist das nicht (ganz abgesehen davon, dass diese Möglichkeit lediglich bei Jugendstrafen von bis zu zwei Jahren besteht und sich – unabhängig vom Widerrufsrisiko – ebenfalls als erhebliche Hypothek für die Lebensführung der Betroffenen ausnehmen kann).
De lege lata ließe sich das Problem allein durch eine neue Auslegung von § 17 Abs. 2 JGG eingrenzen, die den Wegfall des Indikationserfordernisses durch höhere Anforderungen an das Schwere-Kriterium auszugleichen versucht. Damit würde zwar nicht für die hier angemahnte spezialpräventive Zielgerichtetheit bei der Anwendung des Anordnungsgrundes, aber immerhin für eine reduzierte Anwendungshäufigkeit gesorgt. Jener Teil der Literatur, der sich gegen das vom BGH früher vorausgesetzte Indikationserfordernis gewandt hatte, hatte dies auch häufig verlangt. Der dabei vorgeschlagene Schwere-Maßstab (Delikte bei denen jede andere Sanktion als eine Jugendstrafe für die Bevölkerung „schlechthin unverständlich“ sei[98]), war aber von untauglicher Unbestimmtheit.[99] Eine Anknüpfung an gesetzlich vorgesehene Deliktskataloge hätte diese Nachteile nicht (und zudem den Vorzug einer legislatorischen Rückkopplung). Doch solche Auslegungsvorschläge sind allesamt müßig, da „harte Kriterien“ zur Begrenzung von § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG („Verbrechen“, „Kapitaldelikte“, „besonders schwere Fälle“, „besonders schwere Qualifikationstatbestände“) vom BGH durchgängig und nachdrücklich abgelehnt werden.[100]
In dieser Lage, in der der BGH das Jugendstrafrecht ohne sachliche Gründe in eine kriminalpolitisch ungute Situation hineinmanövriert und zugleich jede auslegungsgetragene Lösung verstellt, kann nur der Gesetzgeber einen Ausweg eröffnen. Aus hiesiger Sicht böte sich dafür die Ergänzung von § 17 Abs. 2 JGG um einen Satz 2 an, der durch Verweis auf § 138 Abs. 1 StGB für die Schuldschwere-Konstellation eine klar zugeschnittene Begrenzung der potenziell „schweren“ Delikte vornimmt – oder stattdessen und besser noch das Indikationserfordernis re-etabliert.
[1] Konkret: 10 Jahre statt lebenslang, ansonsten die Hälfte der allgemein-strafrechtlichen Obergrenze (bei unveränderter Untergrenze).
[2] Für einen Überblick vgl. Götte, Jugendstrafvollzug im „Dritten Reich“, 2003, S. 86 ff.; Kebbedies, Außer Kontrolle. Jugendkriminalpolitik in der NS-Zeit und der frühen Nachkriegszeit, 2000, S. 99 ff.
[3] Zu den Neuregelungen zählten auch Modifizierungen des personalen Geltungsbereichs (14- bis 18-Jährige), da das Jugendstrafrecht bei schweren Delikten auch schon für 12-Jährige anwendbar wurde (§ 3 Abs. 2 RJGG 1943). Außerdem konnte es unter Umständen bei frühentwickelten Jugendlichen und „jugendlichen Schwerverbrechern“ zugunsten des allgemeinen Strafrechts zurückgestellt werden (§ 20 RJGG 1943). Für einen Überblick dazu und den anderen Neuregelungen vgl. etwa Stolp, Die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts von 1923 bis heute, 2015, S. 68 ff.
[4] Verordnung über die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher vom 10. Sept. 1941 (RGBl. I, S. 567).
[5] Diese war bei Annahme schädlicher Neigungen zulässig, wenn sich nicht voraussehen ließ, welche Jugendstrafdauer zwischen 9 Monaten und 4 Jahren zur ausreichenden Einwirkung erforderlich sein werde. Das Gericht musste eine Mindestvollzugszeit (wenigstens 9 Monate) und eine Höchstdauer (maximal 4 Jahre; mindestens 2 Jahre über der Mindestdauer) festlegen. Für den Fall, dass der Jugendliche „die Einordnung in die Volksgemeinschaft nicht erwarten“ ließ, bestand die Option der Überweisung in Jugendschutzlager (§ 60 RJGG 1943).
[6] Näher etwa Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, 2002, S. 360 ff.
[7] Zur Begründung vgl. BT-Drs. 1/3264, 40: „Überbetonung des Schutzprinzips“.
[8] Bei der Strafrestaussetzung fand ebenfalls nur eine moderate Neuausgestaltung statt. Zu den etwas veränderten Bedingungen bei der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer vgl. Stolp (Fn. 3), S. 147 ff.
[9] Zugleich wurden die in Fn. 3 erwähnten Relativierungen der Altersgrenzen aufgehoben.
[10] Dazu mit deutlicher wie berechtigter Kritik Pieplow, in: Hoffmann/Matthes, 100 Jahre Reichsjugendgesetz und Reichsjugendgerichtsgesetz, 2024, S. 174 (188 ff.); ders., ZJJ 2024, im Erscheinen; neutraler Streng, ZJJ 2022, 266 (269).
[11] Die Bundesländer haben meist eigene Jugendstrafvollzugsgesetze erlassen, vereinzelt aber auch in ihren allgemeinen Strafvollzugsgesetzen besondere Abschnitte für den Jugendstrafvollzug eingeführt (vgl. die Zusammenstellung bei Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. (2024), § 92 Rn. 8).
[12] United Nations Rules for the Protection of Juveniles Deprived of their Liberty (UN Generalversammlung Resolution 45/113 v. 14.12.1990).
[13] Vgl. etwa Streng, GA 2017, 80 (81). Dies ergibt sich etwa aus dem Registerrecht: § 32 Abs. 1 BZRG schreibt die Aufnahme der in §§ 4 – 16 BZRG bezeichneten Eintragungen in das Führungszeugnis vor, während Abs. 2 davon die Verurteilung zur Jugendstrafe in einigen Konstellationen ausnimmt. Die einzige Möglichkeit, die Jugendstrafe unter eine der besagten Eintragungsgründe zu subsumieren, ist aber § 4 Nr. 1 BZRG („auf Strafe erkennt“).
[14] BT-Drs. 1/3264, S. 40. Ebenso BGHSt 10, 100 (103): „beide Strafübel wesensverschieden“. Vgl. auch BGHSt 5, 366 (369): „als Strafmittel besonderer Art, keineswegs als eine Abart der Gefängnisstrafe gedacht“.
[15] Diese Entwicklung entspricht im Übrigen den Vorgaben der UN-Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing Rules) und der Kinderrechtskonvention (näher Neubacher/Lohmann, JZ 2024, im Erscheinen).
[16] BT-Drs. 1/3264, S. 40. Vgl. für die erste Variante auch den Normtext: „Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen“.
[17] BT-Drs. 1/4437, S. 2.
[18] Für die jugendstrafrechtliche Geltung dieses Modells aber Radtke/Scholze, in: MüKo-StGB, JGG, Bd. 7, 4. Aufl. (2022), § 17 Rn. 7 f., 61 und § 18 Rn. 7 unter Berufung auf das Schuldprinzip. Eingehende Kritik dazu bei Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 79 (82 f.). Zutreffend ist nur, dass das Vorwurfsgewicht die mögliche Sanktionsintensität – dies indes als Konsequenz des Verhältnismäßigkeitsprinzips – „nach oben“ begrenzt (dies., JGG, § 17 Rn. 5 und § 18 Rn. 33).
[19] Näher dazu etwa auch Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 3; Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, 16. Aufl. (2020); Eisenberg/Schlüter, NJW 2001, 188 (190); anders offenbar Streng, Jugendstrafrecht, 6. Aufl. (2024), Rn. 423; vgl. auch Radtke/Scholze, in: MüKo-StGB, JGG, § 17 Rn. 78: lediglich graduelle Unterschiede.
[20] Vgl. dazu BGH, NJW 2023, 3734 f. mit zust. Anm. Kölbel, JR 2024, 158 ff.
[21] Anders verhält es sich nur, wenn sich aus dem Sinn- und Funktionszusammenhang solcher Normen ergibt, dass mit dem Begriff „Freiheitsstrafe“ ausnahmsweise auch eine Jugendstrafe mitgemeint ist. Dies ist etwa bei § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO der Fall (näher Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 60).
[22] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 61 f.; dazu, dass im Übrigen auch aus einer früheren Jugend- und einer aktuell verhängten Freiheitsstrafe keine Gesamtstrafe i.S.v. § 55 StGB gebildet werden kann, vgl. etwa BGHSt 10, 100 (103).
[23] Zu dieser außerordentlich klaren Prägnanztendenz vgl. die BZR-Auswertung bei Weigelt, Bewähren sich Bewährungsstrafen?, 2009, S. 109.
[24] Vgl. Dölling, in: GS Zipf, 1999, S. 177 (192 f.); Schulz, MschrKrim 84 (2001), 310 (319); Streng, in: FS Böttcher, 2007, S. 431 (443, 446); Kurzberg, Jugendstrafe aufgrund schwerer Kriminalität, 2009, S. 206 ff.; ebenso, wenn auch weniger deutlich die Fallvignetten-Studie von Buckolt Die Zumessung der Jugendstrafe, 2009, S. 329 ff., 355 ff.; siehe ferner den Forschungsüberblick bei Heinz, Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg, 2019, S. 1477 ff.
[25] Eingehend Heinz, „Blindflug“? Normsetzung und Normanwendung in der Jugendkriminalrechtspflege im Lichte der empirischen Sanktions- und Wirkungsforschung, 2024, S. 47 ff.
[26] Allerdings sorgt § 31 JGG im JGG-Bereich für eine Verzerrung „nach oben“, da es bei Anordnung von Einheitssanktionen deliktsbezogen zu einer Strafmaßüberschätzung kommt. Zur gesamten Vergleichsproblematik vertiefend Heinz (Fn. 24), S. 1503 ff.; ders. (Fn. 25), S. 90 ff.: Jugendstrafen auch tendenziell länger und seltener ausgesetzt als Freiheitsstrafen.
[27] Strafverfolgungsstatistik Tab. 4.1.
[28] Zu den dabei bestehenden regionalen Unterschieden vgl. Heinz (Fn. 24), S. 1230 ff.; ders. (Fn. 25), S. 131 ff.
[29] Näher Heinz (Fn. 25), S. 54 ff.
[30] Heinz (Fn. 25), S. 67 f.; dazu auf BZR-Basis auch Weigelt (Fn. 23), S. 107 ff.; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, 2021, S. 126.
[31] Zum Ganzen anhand der vorhandenen Daten näher Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 8. Aufl. (2024), § 35 Rn. 49 und Heinz (Fn. 24), S. 1292, 1399 f. jeweils m.w.N.
[32] Freiheitsentziehungen werden im Jugendstrafrecht allerdings fast überall zurückhaltend eingesetzt. Allerdings lassen sich in einigen Staaten auch repressivere Phasen beobachten. Zusammenfassende Übersichten bei Dünkel, in: DVJJ, Jugend ohne Rettungsschirm?, 2015, S. 506 (545 ff., 551 ff.); ders., RdJB 70 (2022), 578 (587 ff.); zu Vergleichsproblemen Campistol/Aebi, European Journal on Criminal Policy and Research 24 (2018), 55 ff.
[33] Zu den dahingehenden verfassungsrechtlichen Anforderungen vgl. BVerfGE 116, 69 (85 ff.).
[34] Aus den vorliegenden Bestandsaufnahmen und Evaluationen etwa Kerner/Stellmacher/Coester/Wagner, Systematische Rückfalluntersuchung im hessischen Jugendvollzug, 2011, S. 195 ff.; Dünkel/Geng, in: Dölling/Jehle, Täter – Taten – Opfer, 2013, S. 622 ff.; Arbeitsgruppe länderübergreifende Evaluation Jugendstrafvollzug, Evaluation des Jugendstrafvollzuges. Psychosoziale und sozialpädagogische Beratungs-, Förder- und Behandlungsmaßnahmen im Fokus, 2020, S. 37 ff.; vgl. auch den Überblick bei Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 35 Rn. 32 ff.
[35] Vgl. dazu Heinz (Fn. 24), S. 2087 sowie m.w.N. Neubacher/Lohrmann JZ 2024, im Erscheinen.
[36] Jugendstrafgefangene setzen sich zu 10 bis max. 15 % aus Jugendlichen und zu jeweils etwas über 40 % aus Heranwachsenden und Jungerwachsenen zusammen (dazu sehr eingehend Heinz [Fn. 24], S. 1266 ff.).
[37] Dazu etwa Hurrelmann/Quenzel, Lebensphase Jugend, 14. Aufl. (2022), S. 23 ff.
[38] Übersicht über die betreffende Forschung bei Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 36.
[39] Zu Unterschieden in den Rückfallquoten bei Jugendstrafgefangenen mit unterschiedlichen personalen Merkmalen vgl. etwa Hartenstein/Philipp/Hinz/Meischner-Al-Mousawi,ZJJ 2023, 148 (152 ff.) für Sachsen.
[40] Vgl. dazu die Zusammenstellung und Auswertung der vorhandenen Arbeiten bei Heinz (Fn. 24), S. 2006 ff., 2067 ff.; Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 41 Rn. 23; dies., JGG, § 17 Rn. 18 jeweils m.w.N.
[41] Der Verlauf nach vergleichsweise kurzer Jugendstrafvollzugsdauer ist ungünstiger als bei längeren Vollzugszeiten (Jehle u.a. [Fn. 30], 2021, S. 63, 159 f.). Dies dürfte – neben oder anstelle haftsozialisatorischer Einwirkungen – auf der entwicklungstypischen „Reifung“ beruhen. Zum „maturing-out effect“ etwa Giebel/Boxberg/Hosser, in: Kury/Shea, Punitivity. International Developments, Bd. 3, 2011, S. 395; vgl. auch Endres/Beuer/Nolte, MschrKrim 99 (2016), 342; für mehr als 5-jährigen Jugendstrafen ebenso Pahl, Begutachtungspraxis bei langen Jugendstrafen, 2018, S. 121; aus der internationalen Forschung etwa McCuish/Lussier/Corrado, Journal of Developmental and Life-Course Criminology 2018, 427 (436 ff.).
[42] Die wenigen hierzu vorliegenden Untersuchungen aus Deutschland lassen aber keine sichere Einschätzung zu (Heinz [Fn. 24], S. 2026 ff., 2035 ff.).
[43] Daten übernommen von Jehle u.a. (Fn. 30), 2021, S. 60, 144 und den Vorgängerauswertungen derselben Autoren/innen aus den Jahren 2003, 2013 und 2016. Das Entlassungsjahr in Spalte 1 der Tabelle bezieht sich auf das Jahr, in dem die Entlassung nach vollständiger oder teilweiser Vollstreckung erfolgte.
[44] D.h.: oft aus sozial und wirtschaftlich randständigen Familien stammend, geringe Schul- und Berufsausbildung sowie arbeitslos und einkommensschwach; teilweise erhebliche Vorerfassungen, familiäre Problemsituationen, Suchtproblematik und andere psychiatrische Problemlagen (dazu Heinz [Fn. 24], 1283 ff.; Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 35 Rn. 26 ff.).
[45] So aber ersichtlich verkürzend Radtke/Scholze, in: MüKo-StGB, JGG, § 17 Rn. 26.
[46] Dazu Fn. 35.
[47] Vgl. etwa Koops-Geuze/Wermink/Weerman, Youth Violence and Juvenile Justice 21 (2023), 106 ff. bzgl. kurzer „custodial sanctions“ (4 Monate) in den Niederlanden sowie die Meta-Analysen von Koops-Geuze/Weerman, European Journal of Criminology 20 (2023), 758 (770 f.) und altersgruppenübergreifend von Villettaz/Gillieron/Killias, Campbell Systematic Reviews 11 (2015), 1 ff. sowie die jüngste, ausgesprochen große Auswertung von Petrich/Pratt/Jonson/Cullen, Crime and Justice 50 (2021), 353: „custodial sanctions have no effect on reoffending or slightly increase it when compared with the effects of noncustodial sanctions” (353), wobei “juvenile detention was associated with a larger criminogenic effect of imprisonment” (390).
[48] Beispiel: zufällige Verteilung vergleichbarer Angeklagter auf verschiedene Gerichte mit deutlich unterschiedlichem Strafzumessungsverhalten. Zu schlechteren Rückfallwerten in den stärker haftbetroffenen Gruppen, die von strengeren Spruchkörpern sanktioniert worden waren, vgl. für die US Aizer/Doyle, The Quarterly Journal of Economics 130 (2015), 759 ff.; weniger klare Befunde indes bei Eren/Mocan, The Review of Economics and Statistics 103 (2021), 34 ff. (allerdings für den Vergleich von Haft mit „probation“ und „non-secure custody“). Für Erwachsene liegen im Übrigen weitere Studien mit diesem Design vor, die die im Text genannte Aussage klar stützen (Zusammenstellung bei Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 41 Rn. 19 Fn. 11).
[49] Novak, Journal of Developmental and Life-Course Criminology 5 (2019), 536 ff. (für die USA); Baćak/Andersen/Schnittker, Social Forces 98 (2019), 303 ff. (für Dänemark).
[50] Vgl. etwa die ganz unterschiedlichen Hafterfahrungen und nachvollzuglichen Verläufe bei den von Wienhausen-Knezevic, Lebensverlaufsdynamiken junger Haftentlassener, 2020, S. 93 ff. untersuchten Jugendstrafgefangenen sowie die verschiedenen Verlaufstypen, die Taefi/Hosser, European Journal of Criminology 2021, 855 ff. sowie ähnlich Kerner et al. (Fn. 34), S. 311 ff. rekonstruieren.
[51] Vgl. dazu als Ergebnis eines umfassenden (altersgruppenübergreifenden) Reviews: „A good deal of evidence indicates that incarceration, on average, increases offending of those incarcerated. While it may reduce the subsequent offending of some inmates, it apparently increases the offending of more inmates.” (Kleck/Sever, Punishment and Crime, 2018, 305).
[52] Dazu anhand der allgemeinen jugendkriminologischen Verlaufsforschung Boers, MschrKrim 102 (2019), 3 (27 ff.) sowie anhand der Rückfallentwicklungen bei hessischen Jugendstrafgefangenen auch Kerner/Stelzel/Eikens/Coester, Legalbewährung und Rückfälligkeit junger Gefangener nach der Entlassung, 2017, S. 139 ff., 241 ff.
[53] Vgl. die dafür kennzeichnenden, weil sehr heterogenen Befunde bei McCuish/Lussier/Corrado, Journal of Developmental and Life-Course Criminology 4 (2018), 427.
[54] Zur Forschungslage etwa Boers/Herlth, MschrKrim 99 (2016), 101 (115 f.); Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 55 Rn. 41 ff. jeweils m.w.N.
[55] Diese Tat muss Symptom der Neigungen sein (vgl. § 17 Abs. 2: „in der Tat hervorgetreten“). Näher zur ferner erforderlichen Vorwurfs-proportionalität Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 39 ff.
[56] Dazu und zu den Konsequenzen vgl. m.w.N. zur Rspr. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 34 ff.
[57] Die erzieherischen Potenziale anderer jugendstrafrechtlicher Rechtsfolgen dürfen „nicht ausreichend“ (BGH, NStZ 2023, 434) und die Jugendstrafe muss insofern „überlegen“ (Radtke/Scholze, in: MüKo-StGB, JGG, § 17 Rn. 47) sein. Bei Unklarheiten über die Erforderlichkeit der Jugendstrafe ist gem. § 27 JGG zu verfahren.
[58] Stellvertretend zuletzt etwa BGH, StV 2022, 9 ff. Dazu, dass die Elemente der „Störung“ und „gefahrbedingten Erforderlichkeit“ kumulativ vorliegen müssen und – zur Vermeidung von Zirkelschlüssen (näher Walter/Wilms, NStZ 2007, 1 (3); Swoboda, ZJJ 2016, 278 (285 f.) – nicht in eins gesetzt werden dürfen, vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 22; Kemme, StV 2014, 760 (761 f.).
[59] Dazu aus rechtspsychologischer Warte Kemme/Wetzels, PraxRPsych 2014, 45 (58); Düber/Leitner/Köhler, in: dies., Die Beurteilung schädlicher Neigungen nach § 17 JGG, 2016, S. 103 ff.
[60] Dazu und den von der Rspr. gestellten Anforderungen im Einzelnen m.w.N. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 26 f., 29 f.
[61] Zu den latenten inneren Widersprüchen von Schuld und Prävention bei § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG etwa Haffke, in: FS Amelung, 2009, S. 17 (20 f.).
[62] Aus diesem Grund weist die Jugendstrafe in der Variante von § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Maßregel auf (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 23; weitergehend Kemme, StV 2014, 460 (462 ff.); den Strafcharakter betonend aber Swoboda, ZJJ 2016, 216 (282 f.); Haas, in: FS Dölling, 2023, S. 518.
[63] Vgl. etwa Walter/Wilms, NStZ 2007, 1 (4 f.); im Ergebnis aus anderen Gründen (Ungeeignetheit von Strafe zur bei § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG intendierten Gefahrenabwehr) auch Konze, Die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen gem. § 17 Abs. 2 Fall 1 JGG, 2015, S. 93 ff.
[64] Vgl. statt vieler Albrecht, 64. DJT, Gutachten D, S. 152 ff.; Walter/Wilms, NStZ 2007, 1, (7 f.); Heinz (Fn. 25), S. 140.
[65] Man orientiert sich dann „an der Frage, ob alle anderen Erziehungsmöglichkeiten vergeblich erprobt“ worden sind (Nöding, Verteidigung in Jugendstrafsachen, 8. Aufl. [2023], Rn. 102).
[66] Ähnlich Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 431; Haas, in: FS Dölling, 2023, S. 522; dazu im Detail Nix, Kritik der „Erziehungsstrafe“ im Jugendstrafrecht, 2017, S. 17 ff.
[67] Im deutschen Jugendstrafrecht wird er in § 1 Abs. 1 der in Fn. 4 genannten VO erstmals verwendet. Zum auf Entehrung und Exklusion gerichtet nationalsozialistischen Verwendungskontext Swoboda, ZJJ 2016, 278 (279).
[68] Näher Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 21; Swoboda, ZJJ 2016, 278 (283).
[69] Vgl. etwa BR-Drs. 238/04, S. 7, 36 f. oder die Beschlüsse der Justizministerkonferenzen vom 25./26.6.2014 und 1./2.6.2016.
[70] Zur entsprechenden Ankündigung im Grußwort des Bundesjustizministers zum 32. Deutschen Jugendgerichtstag vgl. den Tagungsbericht von Höynck/Ernst, ZJJ 2023, 383.
[71] Stellvertretend BGHSt 61, 188 (191 f.) = NJW 2016, 2050 (2051); dem prinzipiell zustimmend BVerfG, BeckRS 2006, 28246. Zu einem leicht abw. Verständnis vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 54; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 432.
[72] Vgl. die Rspr.-Übersichten etwa bei Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 46 ff.; Radtke/Scholze, in: MüKo-StGB, JGG, § 17 Rn. 63 ff.
[73] Stellvertretend BGH, NStZ-RR 2018, 358 (258 f.).
[74] So die bisher ständige Rechtsprechung. Vgl. die Zusammenstellung entsprechender Judikate bei BGH, NStZ 2024, 106 (110 f.); Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 55; Neubacher/Lohrmann JZ 2024, im Erscheinen.
[75] Andernfalls wäre die Schuldschwere-Variante letztlich überflüssig und die Begrenzung des § 27 JGG auf die Konstellation der schädlichen Neigungen unstimmig.
[76] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 18 Rn. 55; Kölbel JR 2019, 40 (40).
[77] Bisweilen hatte der BGH die Jugendstrafe auf das Vorliegen eines außerordentlich gesteigerten Vorwurfs gestützt und dabei die Bedeutung der erzieherischen Aspekte relativiert (etwa BGH, NStZ 2018, 728 [729]; BeckRS 2022, 4950) oder nicht thematisiert (etwa BGH, NStZ 2014, 407 [408]; BGH, NStZ 2017, 648 [649]). Ähnlich verfuhr er, wenn der Angeklagte zum Urteilszeitpunkt das 21. Lebensjahr bereits überschritten hatte und sich damit de facto in einem Übergangsbereich zum Schuldstrafrecht des StGB befand (vgl. die Übersicht bei Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 57 f.).
[78] Vgl. z.B. Brunner/Dölling, JGG, 14. Aufl. (2023), § 17 Rn. 27; Ostendorf, in: NK-JGG, 11. Aufl. (2021), § 17 Rn. 4; Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 436 f.; Walter/Wilms, NStZ 2007, 1 (7); Swoboda, ZStW 132 (2020), 826 (855 f.); Bachmann, JZ 2019, 759 (759 f.); Rose, NStZ 2019, 57 (59); Beulke, NK 2019, 269 (274 ff.); Kaspar, JR 2024, 201 (202).
[79] Der 1. Senat hatte sich zwar (in einem obiter dictum) vom Indikationserfordernis distanziert (BGH, NStZ 2013, 658 [659]), doch blieb dies in der Rspr. ohne nennenswerte Gefolgschaft. Später kehrte auch dieser Senat wieder zur ursprünglichen Auffassung zurück (BGH, NStZ 2018, 659 [660]).
[80] BGH, NStZ 2024, 106.
[81] BGH, 1 ARs 11/23; BGH, 2 ARs 465/23; BGH, 3 ARs 15/23; BGH, 4 ARs 10/23 und BGH, 10 ARs 10/23.
[82] Urt. v. 4.6.2024 – 5 StR 205/23. Die Urteilsbegründung ist weitgehend identisch mit dem Anfragebeschluss und geht auf die zwischenzeitlich erschienene Literatur inhaltlich nicht ein.
[83] BT-Drs. 1/3264, S. 40 f.
[84] Zu den Widersprüchen zwischen der Auslegung des 5. Senats und Art. 37 lit. b der Kinderrechtskonvention eingehend Neubacher/Lohrmann, JZ 2024, im Erscheinen.
[85] Die Zulässigkeit nicht-erzieherischer Jugendstrafen ergibt sich auch nicht aus der Möglichkeit von sehr langen Strafdauern (§ 18 Abs. 1 S. 2 JGG, § 105 Abs. 3 JGG). Diese Optionen können als Regelungen mit äußerst geringem Anwendungsbereich interpretiert werden, die allein in jenen seltenen Ausnahmefällen relevant werden, in denen gerade eine vieljährige Jugendstrafe erzieherisch angezeigt ist. In diesem Sinne auch BT-Drs. 17/9389, S. 20: § 105 Abs. 3 S. 2 JGG „ermöglicht es, einer besonders schweren Schuld angemessener Rechnung zu tragen, wenn das allgemeine Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende von zehn Jahren dafür im Einzelfall auch unter Berücksichtigung des leitenden Erziehungsgedankens nicht ausreicht“ (Hervorhebung durch Verf.).
[86] Näher Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 79 (82 ff.): Argumente beider Seiten heben sich auf, so dass es keine eindeutig überzeugendere Position gibt.
[87] Sinnfällig wird das auch im Anfragebeschluss, der einen solchen mittelschweren Vorwurf (Landfriedensbruch) zum Gegenstand hatte (kritisch zur Bejahung der Schuldschwere Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 79 [85]; Pieplow, ZJJ 2024, im Erscheinen.) und zudem eigens betont: „Auch Vergehen sind grundsätzlich geeignet, die Schuldschwere i.S.d. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG zu begründen.“ (BGH, NStZ 2024, 106 [109]).
[88] Zu dem darin liegenden Problem Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 97 (84 f.); Höynck, StV 2024, 127 (128 f.); Neubacher/Lohrmann, JZ 2024, im Erscheinen; dies ansatzweise kritisierend auch Kaspar, JR 2024, 201 (203).
[89] Vgl. BT-Drs. 1/3264, S. 40: § 17 Abs. 2 Hs. 2 JGG solle greifen, „wo eine große Schuld schwere Strafe fordert“ (Hervorhebung durch Verf.).
[90] Dazu Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 41 Rn. 16 f. m.w.N. sowie die vertiefende empirische Analyse bei Kleck/Sever (Fn. 51), S. 250 ff.
[91] Anderenfalls kommt Jugendstrafe aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht in Betracht.
[92] Der in BGH, NStZ 2024, 106 behandelte Fall ist dafür ein eindrückliches Beispiel.
[93] Dies deshalb, weil sich nicht immer gut vorhersehen lässt, ab wann eine stationäre Sanktion auch entwicklungsstützend wirken kann. Ohnehin kann die Prüfung der erzieherischen Indikation natürlich immer fehlgehen, insbesondere wenn sie, wie oben (bei Fn. 24) angedeutet, nur stiefmütterlich erfolgt.
[94] Zumal das Gericht damit die eigene jahrzehntelange Judikatur und damit letztlich auch die eigene fachliche Autorität ersichtlich delegitimiert.
[95] Als Beispiel dafür, dass eine solche Problematik auch von der Rechtsprechung bisweilen wahrgenommen und eigens problematisiert wurde, vgl. besonders OLG Schleswig,NStZ 1985, 476,
[96] Dazu am Beispiel kurzer Strafen auch Wermink/Blokland/Bleen u.a., Justice Quarterly 41 (2024), 317 (338): “To the extent that short-term imprisonment results in more future crimes than do noncustodial alternatives, the societal costs involved in the detection, prosecution, and sanctioning of the perpetrators of these future crimes, as well as the personal costs incurred by its victims, will need to be reckoned with when aspiring the retribution of present wrongs.”.
[97] Bei der fraglichen fallgruppentypischen Kombination aus eher mittelschweren Delikten ohne individuell erzieherische Jugendstrafindikation dürfte die positive Legalbewährungserwartung häufig zu begründen sein.
[98] Etwa Ostendorf, in: NK-JGG, § 17 Rn. 7; Brunner/Dölling (Fn. 78), § 17 Rn. 25; Laue, NStZ 2016, 103 (103); Rose, NStZ 2019, 57 (59).
[99] Auch die Herleitung dieses Maßstabs über das Konstrukt der positiven Generalprävention (zuletzt wieder Kaspar, JR 2024, 201 [204 f.]) überzeugt wegen seiner durchgängig spekulativen Struktur nicht (Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 79 [84]).
[100] Vgl. stellvertretend BGH, NStZ 2016, 102; 2022, 753 (754); NStZ-RR 2015, 55 sowie jetzt wieder BGH, NStZ 2024, 106 (109).