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Zur Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze

von Prof. Dr. Alexander Baur, Christina Rueß, Elena Schaffeld und Prof. Dr. Jörg M. Fegert

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Abstract
Auf der Tagesordnung der 95. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 5. bis zum 6. Juni 2024 in Hannover stand eine wissenschaftliche Studie zur Strafmündigkeitsgrenze. Am Ende hat sich der von Baden-Württemberg gestellte Antrag nicht durchsetzen können. Aus Sicht der Autoren ist dies zu bedauern – aber nicht deshalb, weil entwicklungsbiologische oder entwicklungspsychologische Befunde eine frühere Reife und strafrechtliche Verantwortlichkeit nahelegten. Vielmehr wurde eine wichtige Chance vergeben, sich evidenzbasiert mit dem bestehenden Gesamtsystem für die Prävention und Bewältigung normabweichenden Verhaltens junger Menschen zu befassen.

An empirical study on the age of criminal responsibility was part of the agenda for the 95th Conference of Ministers of Justice from June 5 to June 6, 2024, in Hanover. In the end, the regarding proposal submitted by Baden-Württemberg did not prevail. From the authors‘ point of view, this outcome is to be regretted – but not because scientific findings of developmental biology or developmental psychology suggested earlier maturity and criminal responsibility. Rather, an opportunity of great value was missed: to take an evidence-based look at the existing overall system in terms of prevention and addressing young people’s deviant behavior.

I. Überflüssige Diskussion oder Anlass zur rechtspolitischen Reaktion?

In der letzten veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) haben Deliktsbegehungen von Kindern und Jugendlichen zum wiederholten Male zugenommen. Konkret zeigt sich in der PKS für das Jahr 2023 bei der Anzahl der tatverdächtigen Kinder (unter 14 Jahren) ein Anstieg um 12 Prozent und bei der Anzahl der tatverdächtigen Jugendlichen (ab 14 Jahren bis unter 18 Jahren) um 9,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.[1] Während in der Gesamt-entwicklung der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen und seit der Einführung der „echten“ Tatverdächtigenzählung 2009 über alle Straftaten ein – mit Ausnahme der Jahre 2015 und 2016 – stabiler bis leicht rückläufiger Trend zu beobachten war, wird seit 2021 bei den tatverdächtigen Kindern und seit 2022 bei den tatverdächtigen Jugendlichen ein kontinuierlicher Anstieg registriert.[2] In den Zahlen für 2023 ist ein Höchststand in den Tatverdächtigenbelastungszahlen[3] (TVBZ) der deutschen Wohnbevölkerung für Kinder seit 2011 und für Jugendliche seit 2013 erreicht.[4]

Abbildung: Eigene Darstellung nach BKA 2024, PKS 2023 – Zeitreihen, Tabelle T40 Tatverdächtigenbelastung deutsche Wohnbevölkerung

Die PKS 2023 verzeichnet dabei auch einen deutlichen Anstieg der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität junger Menschen – etwa von 2022 auf 2023 um 17 Prozent bei Kindern und um gut 14 Prozent bei Jugendlichen.[5] Daneben traten in den letzten Jahren mehrere schwere und stark medienwirksame Gewalt- und Tötungsdelikte nicht strafmündiger Täterinnen und Täter.[6] Unter diesen Vorzeichen war und ist eine (erneute[7]) Diskussion um eine mögliche Absenkung der bei 14 Jahren festgesetzten Strafmündigkeitsgrenze (§ 19 StGB, § 1 Abs. 2 JGG) erwartbar.[8]

Soweit aus dieser Entwicklung rasch die rechtspolitische und bisweilen populistisch anmutende Schlussfolgerung gezogen wird, man müsse für ein Gegenwirken allein das Strafmündigkeitsalter absenken, ist dies aus gleich mehreren Gründen vorschnell: Vielfach fehlt es bereits an einer Untersuchung und Einordnung der kriminalstatistischen Ausgangslage (siehe II.1.). Vor allem aber ist die Klärung, ab welchem Alter Menschen in der Regel reif genug sind, um strafrechtlich verantwortlich zu sein, richtigerweise nur eine Vorfrage. Denn die (individuelle) Strafmündigkeit zieht allenfalls eine äußerste, verfassungsrechtlich im Schuldgrundsatz verankerte[9] Verantwortlichkeitsgrenze (siehe II.2.). Wo genau eine unwiderlegliche Vermutung für die Strafunmündigkeit gesetzt wird, ist am Ende aber eine im Wesentlichen von Zweckmäßigkeitserwägungen getragene Entscheidung – und zwar in zweifacher Hinsicht: Der gänzliche Verzicht auf eine gesetzliche Regelvermutung zur Strafmündigkeit oder eine früh angesetzte Strafmündigkeitsgrenze belastet zum einen Gerichte mit Einzelfallentscheidungen, weil die strafrechtliche Verantwortlichkeit dadurch häufiger individuell zu prüfen und am Ende auch zu verneinen wäre.[10] Schon aus diesem justizpragmatischen Grund kann auf eine allgemeingültige Altersuntergrenze für die strafrechtliche Verantwortlichkeit kaum verzichtet werden. Zum anderen rückt mit diesen Zweckmäßigkeitserwägungen die Frage in den Vordergrund, wie die Prävention und Bewältigung der Delinquenz junger Menschen aufgestellt werden und welche Rolle das Strafrecht dabei spielen sollte (siehe II.3.). Dies weitet den Blick auf das ganze Versorgungssystem und damit auch auf den Präventions- und Bewältigungsbeitrag der anderen Teilrechtsordnungen – namentlich des Kinder- und Jugendhilferechts sowie des Familienrechts (siehe II.4.).

II. Forderungen für eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Strafmündigkeitsgrenze

1. Kriminologische Aufarbeitung der Ausgangslage

Abgesehen davon, dass dramatische Einzelfälle selten ein guter Ratgeber für die Rechtspolitik sind, drängen auch die allgemeinen kriminalstatistischen Entwicklungen nicht ohne Weiteres zu rechtlichen Änderungen. Die Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen und insbesondere der TVBZ in der Kinder- und Jugenddelinquenz ist in längeren zeitlichen Dimensionen nicht weiter auffällig. Die genannten Höchststände der TVBZ im letzten Jahr erreichen noch nicht den hier betrachteten anfänglichen Stand von 2009. Ob es sich beim jüngst verzeichneten Anstieg um Nachhol- oder atypische Sozialisationseffekte infolge der COVID-19-Pandemie[11] oder tatsächlich um eine bedenkliche Trendwende handelt, ist derzeit noch nicht mit Sicherheit zu sagen.

Zu erinnern ist auch daran, dass Änderungen in der polizeilich registrierten Hellfeldkriminalität keine einfachen Rückschlüsse auf das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen erlauben. So könnten insbesondere die Zuwächse bei der Kinderdelinquenz auch auf einen geänderten gesellschaftlichen Umgang mit der Deliktsbegehung von Strafunmündigen hinweisen. Diesen Schluss legen Dunkelfelddaten – wie das Niedersachsensurvey 2022[12] oder auch Erhebungen der deutschen Unfallversicherer[13] – durchaus nahe. Bei den strafmündigen Jugendlichen sind die Zahlen der Strafverfolgungsstatistik im Unterschied zur PKS zudem nach wie vor eher rückläufig.[14] Steigerungen der polizeilich registrierten Kriminalität schlagen sich also kaum in strafgerichtlichen Ab- und Verurteilungen nieder.

Trotz dieser doch erklärungsbedürftigen Befundlage mangelt es an systematischen kriminologischen Erhebungen zu typischen Konstellationen und Tätereigenschaften oder auch zum Anzeigeverhalten von Geschädigten und anderen Akteuren – etwa von Schulen.[15] Erkenntnisse aus solchen Untersuchungen dürften wichtige Hinweise auf kriminogene Problemlagen sowie auf veränderte gesellschaftliche Kriminalisierungsstrategien und intensivierte soziale Kontrollprozesse liefern. Erkenntnisse könnten nicht zuletzt für Präventionsmaßnahmen außerhalb (straf-)rechtlicher Interventionen fruchtbar gemacht werden.

2. Keine Fokussierung auf veränderte Reifungsprozesse

Erkennt man gleichwohl einen rechtlichen Änderungsbedarf, ist die Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze ein denkbarer Weg. Dadurch würden mit einer geringfügigen rechtlichen Änderung in § 19 StGB, § 1 Abs. 2 JGG jüngere Menschen in das jugendstrafrechtliche Interventionssystem einbezogen. Die Schöpfer des JGG entschieden sich an dieser Stelle für eine unwiderlegliche Rechtsvermutung der Schuldunfähigkeit von Menschen unter 14 Jahren. Jenseits dieser Strafmündigkeitsgrenze ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Einzelfall zu prüfen (§ 3 S. 1 JGG). Wird die Verantwortlichkeit verneint, leitet § 3 S. 2 JGG bereits heute zu den Maßnahmen des Familienrechts über. Diese kennen keine Reife- oder Altersgrenze; die Ausschlusswirkung des strafrechtlichen Schuldgrundsatzes entfällt.

Es lassen sich unterschiedliche Argumentationslinien dafür finden, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit mittlerweile allgemein früher zu bejahen und deswegen die Grenzziehung bei 14 Jahren überholt sein könnte. Stellt man auf die körperliche Reifung ab, so ist es tatsächlich gut belegt, dass Mädchen und Jungen – wahrscheinlich aufgrund veränderter Ernährungsbedingungen[16] – hormonell deutlich früher reifen.[17] Schon weniger Belege lassen sich hingegen für Veränderungen bei der mentalen und emotionalen Reifung finden. Zwar werden teils die veränderte Medienumwelt und die Einflüsse der Digitalisierung angeführt, um eine frühere Reifung zu behaupten.[18] Forensisch relevante entwicklungspsychologische Indikatoren – etwa die Entwicklung exekutiver Funktionen (kognitive Fähigkeiten für Planen, Problemlösen und Impulskontrolle) – deuten hingegen eher in eine andere Richtung. Neuropsychologische Forschungen haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass durch einen entwicklungsbedingten Gehirnumbau[19] gerade im Alter zwischen elf und 14 Jahren bereits erworbene Fähigkeiten noch einmal verloren gehen.[20] 

Wollte man diese Befunde in eine Beziehung zur normativ gesetzten Strafmündigkeitsgrenze stellen, wären zunächst einmal die bedeutsamen Entwicklungsbereiche – etwa Moralentwicklung, Steuerung und Impulskontrolle, Fähigkeit zur Güterabwägung und Anforderungen an die Entscheidungsfindung – herauszuarbeiten.[21] Zweifelhaft ist hier bereits, ob in diesen Entwicklungsbereichen Veränderungen überhaupt zuverlässig feststellbar wären.[22] Im Zusammenspiel empirischer Befunde und normativer Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist zudem schon jetzt absehbar, dass es kaum durchschlagende Gründe gibt, die eine Verschiebung der Strafmündigkeitsgrenze zwingend einforderten. Ebenso wenig wäre umgekehrt die aktuell bestehende Strafmündigkeitsgrenze bei 14 Jahren wissenschaftlich zu fundieren, empirisch abzusichern und normativ verbindlich zu machen. Eine isolierte Befassung mit den möglicherweise veränderten Reifungsprozessen junger Menschen wäre deswegen am Ende für die Bestimmung einer allgemeinen Strafmündigkeitsgrenze wenig ertragreich und zielführend.

3. Evidenzbasierung des gesamten Interventions- und Versorgungssystems

Sogar dann, wenn sich eindeutige Befunde zu veränderten Reifungsprozessen ergäben, wäre es kurzschlüssig, daraus rechtspolitische Rückschlüsse auf eine neue Festsetzung der Strafmündigkeitsgrenze ziehen zu wollen. Denn ohne eine Bewertung der rechtstatsächlichen Auswirkungen einer solchen Änderung – und das heißt ohne Einbeziehung der Rechtsfolgenseite – bliebe es bei einer symbolischen, auf scheinevidente Präventionsmechanismen oder auf unterstellte Vergeltungsbedürfnisse ausgerichteten Neuregelung. In einem kriminologisch, (verfassungs-)rechtlich[23] und ethisch[24] gleichermaßen hochsensiblen Regelungsbereich wäre dies nicht zu verantworten. Entscheidend muss deswegen am Ende sein, ob im Einklang mit der jugendstrafrechtlichen Grundausrichtung (§ 2 Abs. 1 JGG) eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze wünschenswerte spezialpräventive Wirkungen entfalten könnte und welche unerwünschten Nebenwirkungen mit ihr verbunden wären.

Die spezialpräventiv-erzieherische Grundausrichtung des Jugendstrafrechts setzt eine verlässliche Evidenzbasierung voraus. Für sie sind belastbare kriminologische, entwicklungspsychologische und jugendpsychiatrische Grundlagen erforderlich.[25] Daran mangelt es nach wie vor. Diskussionen um die Prävention und Bewältigung der Kriminalität junger Menschen ist vielfach reich an ideologischen Argumenten und arm an empirischen Befunden. Infolgedessen werden Interventionen selten gezielt, bewusst und indikationsgestützt eingesetzt. Vielmehr reagieren sie häufig in einem Trial-and-Error-Verfahren darauf, was zuvor schiefgegangen ist.[26] Immer wieder läuft man deswegen konzeptlos Problematiken hinterher, statt diese frühzeitig zu erkennen und sich ihnen rechtzeitig entgegenzustellen. Es entstehen daraus kosten- und ressourcenintensive Verläufe des systematischen Scheiterns, die den jungen Menschen selbst mehr schaden als nutzen. Nötig wäre also belastbares empirisches Wissen darüber, welche Maßnahmen bei früh beginnenden Störungen des Sozialverhaltens und früh einsetzender Delinquenz als Intervention geeignet und notwendig sind.

4. Systematische Schließung empirischer Wissenslücken

Eben daran fehlt es: Die Liste der Lücken im Bestand des Wissens ist nach wie vor lang. Forschung, ob und unter welchen Umständen Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe indiziert sind und inwiefern sie ihre Ziele erreichen, fehlt weitgehend. Methodisch hochwertige Studien zur Zielerreichung, zum Verlauf und zur Effektivität familien- und jugendstrafrechtlicher Interventionen sind gleichermaßen Mangelware.[27] Neuere belastbare Daten, welche Interventionen bei (straffälligen) Kindern und Jugendlichen aus kriminologischer, pädagogischer, jugendpsychologischer und jugendpsychiatrischer Sicht geeignet und notwendig sind, liegen nicht vor. Die letzte größere quantitative Untersuchung zu den Effekten erzieherischer Hilfen in Deutschland wurde 1995 abgeschlossen.[28] Das spätere Projekt zur „Wirkungsorientierten Jugendhilfe“[29] erbrachte als Längsschnittanalyse[30] keine statistisch abgesicherten Ergebnisse zu Effektstärken einzelner Interventionen. Vielmehr konzentrierte es sich in der Interpretation seiner Wirkungsanalysen auf die Prozesswahrnehmung der Betroffenen, auf professionelle Einstellungen und Interaktionskompetenzen beim Fachpersonal der Jugendhilfe sowie auf die organisatorische Rahmung des Hilfeprozesses.[31] Verschärft wird diese defizitäre Lage noch dadurch, dass sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten wesentliche wissenschaftliche Fortschritte ergeben und neue Untersuchungsmethoden in den Lebenswissenschaften durchgesetzt haben. Das Repertoire der Untersuchungsmöglichkeiten – etwa in der funktionellen Bildgebung – hat sich stark verändert. Für die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Traumafolgestörungen, die bei delinquenten Jugendlichen häufig festzustellen sind,[32] gibt es mittlerweile evidenzbasierte Leitlinien,[33] die kontinuierlich weiterentwickelt werden. Ganz ähnliches gilt für die Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens und von Aufmerksamkeitsdefizitstörungen („S3-Leitlinien“). Gesellschaftliche Veränderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und der Nutzung von Social Media haben schließlich neue Gefährdungs- und Tatkontexte, aber auch neue Interventionsmöglichkeiten entstehen lassen. Die Auswirkungen konsekutiver Krisen werden zunehmend empirisch untersucht.[34]

Einer der Gründe für die Lücken im empirischen Wissensbestand liegt in den unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten der Forschungsförderung: Erforderlich wären Förderressourcen über Ressortgrenzen hinweg – etwa für Modellversuche und deren verständige interdisziplinäre Evaluation. Der 1991 von der Volkswagenstiftung ausgeschriebene Förderschwerpunkt „Recht und Verhalten“[35], der in zwei Förderphasen bis zum Anfang des jetzigen Jahrhunderts reichte, erbrachte mit einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag wichtige Bausteine in der Rechtstatsachenforschung und der Klärung rechtsbezogener empirischer Grundlagen.[36] Seit dieser Zeit gab es in Deutschland keine vergleichbare Förderung interdisziplinärer Studien. Anders als in der Gesundheits- und Bildungsforschung – dort sind die Zuständigkeiten zwischen der Ressortforschung und der generellen Forschungsförderung durch das BMBF klar geregelt – gibt es noch nicht einmal eine klare Zuständigkeitsverteilung für interdisziplinäre Forschung im Schnitt- und Grenzbereich von Life Sciences, Gesundheitsforschung und (Straf-)Rechtwissenschaft. Die typische Orientierung von projektbezogenen Forschungsförderungen an Legislaturperioden widerspricht zudem der Notwendigkeit längsschnittlicher Untersuchungen, die für die Beantwortung von Entwicklungs- und Interventionswirksamkeitsfragen dringend geboten wären.

5. Keine Verengung der Diskussion auf das Jugendstrafrecht

Erkennt man Präventionsdefizite und möchte man evidenzbasiert Gegenmaßnahmen bestimmen, ist in einem Folgeschritt zu entscheiden, wie das entsprechende Interventionsprogramm rechtlich organisiert werden soll. Keineswegs fordern aufgedeckte Defizite nämlich zwingend Nachbesserungen und Ausweitungen des (Jugend-)Strafrechts. Kriminalprävention ist vielmehr eine Aufgabe aller Teilrechtsordnungen[37] – vorliegend also auch des Kinder- und Jugendhilferechts sowie des Familienrechts.

Für eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters und damit eine Ausweitung des Anwendungsbereichs jugendstrafrechtlicher Interventionen könnte allerdings sprechen, dass dadurch früher entschlossen auf kritische Entwicklungen reagiert wird. Im Hintergrund stünde die Annahme, dass die anderen Teilrechtsordnungen kriminalpräventive Aufgaben nicht oder nicht hinreichend zuverlässig erfüllen. Dem setzte man die Verlässlichkeit des Jugendstrafverfahrensrechts – namentlich die dortige Geltung des Legalitätsgrundsatzes und die mit ihm verbundene grundsätzliche Interventionspflicht bei begangenen Straftaten – entgegen. Ungünstige Lerneffekte aus dem Zuwarten und Erfahrungen der Folgenlosigkeit von Normverstößen könnten so gerade in einem Alter, in dem sich das Verhalten noch stark an den drohenden Handlungsfolgen orientiert,[38] vermieden werden. Ein bisweilen von der Strafrechtspraxis beklagtes Abwarten bis zur Strafmündigkeit würde früher als bislang aufgefangen. Im besten Fall wären fortschreitend ungünstige Entwicklungen frühzeitig und dadurch bedingte schnelle Sanktionseskalationen unmittelbar nach dem Erreichen der Strafmündigkeitsgrenze zu verhindern. Dabei könnte auf der Rechtsfolgenseite ein weitgehender Gleichlauf des Jugendstrafrechts mit dem Kinder- und Jugendhilferecht hergestellt werden. Ähnlich wie in der Schweiz wäre es denkbar, im strafrechtlichen Verfahren bei bestimmten Tätergruppen allein Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen.[39] Repressiv ausgerichtete Sanktionen des Jugendstrafrechts – namentlich Zuchtmittel (§§ 13 ff. JGG) und erst recht die Jugendstrafe (§§ 17 f. JGG) – könnten an eine höhere Altersgrenze geknüpft werden.[40] Gegen eine solche „strafrechtliche Lösung“ sprechen jedoch möglicherweise Labeling-Effekte[41] sowie wenige und teils unklare empirische Befunde zu den generalpräventiven Strafrechtswirkungen.[42] Regelungstechnisch wäre schließlich zu bedenken, dass mit der Verlässlichkeit des Strafverfahrensrechts auch Flexibilitätseinbußen aus dessen verfahrensrechtlichen Gewährleistungen einhergehen. Dies könnte sich als Hemmschuh für rasche und passgenaue Interventionen erweisen.

Solche Nachteile könnten möglicherweise mit einer „familienrechtlichen Lösung“ vermieden werden. Erforderlich wäre es dafür, Maßnahmen des Familienrechts zuverlässig zur Anwendung zu bringen – etwa indem dem Kindeswohlbegriff mehr als bisher eine kriminalpräventive Funktionalität zugeschrieben wird. Denkbar wäre es, die Vermeidung jugendstrafrechtlicher Sanktionen zunehmend als Teil des Kindeswohls und Ziel familienrechtlicher Interventionen zu begreifen.[43] Pate könnte ein Regelungsvorschlags aus dem Jahr 1998 stehen, der vorsah, bei Straftaten von Minderjährigen eine Kindeswohlgefährdung gesetzlich zu vermuten.[44] Folge man einem solchen Lösungsweg, bräuchte es jedoch mehr als bislang Kollisionsregelungen:[45] Entscheidungen darüber, in welchen Fällen für junge Menschen – auch vor dem Hintergrund der Strafzwecke jenseits der Spezialprävention – eine strafrechtliche Reaktion geboten wäre, dürften jenseits jugendtypischer Bagatellkriminalität einerseits und schwerer Straftaten andererseits kaum eindeutig zu treffen sein. Gleichgültig welches Regelungsmodell man verfolgt, sind Interferenzen und Regelungslücken zwischen den Teilrechtsordnungen zu vermeiden. Maßgebliche Perspektive muss die Leistungsfähigkeit des gesamten Versorgungssystems sein. Erste Hinweise für unterschiedliche Lösungsstrategien könnten rechtsvergleichende Studien – namentlich im deutschsprachigen Rechtsraum – geben.

III. Verantwortungsbewusstes Ringen um die beste Lösung

Der Perspektivwechsel auf die Effektivität des gesamten Versorgungssystem schafft rechtspolitische Gestaltungsspielräume. Wie sie genutzt werden, sollte das Ergebnis einer rechtspolitischen Entscheidung sein, die besonnen und ohne ideologische Scheuklappen die Vor- und Nachteile einzelner Lösungswege gegeneinander abwägt. Kinder, die früh zu Straftätern werden und sich häufig in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren, hätten ebenso wie die Geschädigten ihrer Handlungen, die nicht selten gleichaltrig oder noch jünger sind, eine unaufgeregte Diskussion verdient.

Nachdrücklich ist vor dem Trugschluss zu warnen, es sei mit einem schlichten Federstrich bei der Strafmündigkeitsgrenze, aber ohne neue Forschung und ohne dadurch angestoßene Veränderungen im gesamten Interventions- und Versorgungssystem, irgendetwas Positives zu erreichen. Will man die Diskussion um das Strafmündigkeitsalter von zu Ideologien verhärteten Vorannahmen – egal in welche Richtung diese weisen – befreien, müssen die Grundlagen für verantwortungsbewusste rechtspolitische Entscheidungen geschaffen werden. Eine vorausschauende Rechtspolitik, die eine Ausrichtung an Evidenz nicht nur als hohlen Selbstanspruch vor sich herträgt,[46] müsste dazu bereit sein. Ein interdisziplinärer Förderschwerpunkt oder wenigstens eine breit angelegte Langzeitstudie zur Prävention und Bewältigung der Kriminalität junger Menschen unter den heutigen Lebensbedingungen hätte dafür ein Schritt in die richtige Richtung sein können.

[1]      BKA, PKS 2023, IMK-Bericht, S. 40.

[2]      BK, PKS 2023 – Zeitreihen, Tabelle T20 Tatverdächtige.

[3]      Bei der in der PKS veröffentlichten TVBZ handelt es sich um die Anzahl der ermittelten Tatverdächtigen ab 8 Jahren pro 100.000 Einwohner der entsprechenden Altersklassen zum Stichtag des jeweiligen Berichtsjahres.

[4]      BKA, PKS 2023 – Zeitreihen, Tabelle T40 Tatverdächtigenbelastung deutsche Wohnbevölkerung.

[5]      Bundeskriminalamt, PKS 2023 im Überblick, Minderjährige Tatverdächtige und Gewaltkriminalität.

[6]      Unter anderem Freudenberg 2023 (12- und 13-Jährige sollen 12-Jährige getötet haben), Dortmund 2024 (13-Jähriger soll Obdachlosen erstochen haben).

[7]      Zu dieser iterativen Diskussion vgl. Beinder, JR 2019, 554 ff.; Brunner, JR 1997, 12 (492 f).; Hinz, NJW 2023, 3138 ff.; Hinz, ZRP 2000, 107 ff.; Köhne, JR 2008, 371 f.; Momsen, ZJJ 2005, 179 ff.; Neubacher, ZRP 1998, 121 ff.; Preuß, ZJJ 2020, 348 ff.

[8]      Zur rechtspolitischen Diskussion um die Absenkung vgl. u.a. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.5.2024.

[9]      BGHSt 9, 370 (382).

[10]    Derzeit spielt § 3 Abs. 1 JGG kaum eine rechtspraktische Rolle, vgl. Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. (2024), § 3 Rn. 9a.

[11]    Nägel/Kroneberg, KrimOJ 2023, 182 (183).

[12]    Dreißigacker et al., KFN-Forschungsberichte Nr. 169 2023, S. 3 online abrufbar unter: https://kfn.de/publikationen/kfn-forschungsberichte (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[13]    Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung als Spitzenverband veröffentlicht jährlich eine Statistik zum meldepflichtigen Schülerunfallgeschehen mit Sonderauswertungen zu gewaltbedingten Schülerunfällen. Die hier erfassten Vorfälle sind meldepflichtig, wenn ärztliche Behandlung benötigt wird. Zahlen für 2022 sind online abrufbar unter: https://publikationen.dguv.de/zahlen-fakten/schwerpunkt-themen/4782/gewaltbedingte-unfaelle-in-der-schueler-unfallversicherung-2022?c=28 (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[14]    Statistisches Bundesamt, Strafverfolgungsstatistik, Verurteilte, Straftaten insgesamt, 14 bis unter 18 Jahre, online abrufbar unter: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?language=de&sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=24311-0002&zeitscheiben=1#abreadcrumb (zuletzt abgerufen am 17.7.2024).

[15]    Vgl. dazu u.a. Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle Nordrhein-Westfalen, Das Anzeigeverhalten von Kriminalitätsopfern. Einflussfaktoren pro und contra Strafanzeige, 2006, S. 22 f., online abrufbar unter: https://polizei.nrw/sites/default/files/2016-11/Anzeigeverhalten.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[16]    Gluckman/Hanson, Molecular and cellular endocrinology 2006, 26 ff.; Patton/Viner, The Lancet 2007, 1130 ff.

[17]    So ist etwa bei Mädchen das durchschnittliche Menarchealter abgesunken, vgl. Kahl/Schaffrath Rosario/Schlaud, Bundesgesundheitsblatt 2007, 677.

[18]    Siehe z.B. Uğurlu et al., Frontiers in Endocrinology 2023, 1 ff.

[19]    Dieser setzt bei Mädchen früher ein als bei Jungen, vgl. Patton/Viner, The Lancet 2007, 1130 ff.; ebenso auch Giedd et al., Nature Neuroscience 1999, 861 ff.

[20]    Dieses Pruning der Synapsenverbindungen ist ein biologisch normaler Vorgang, der dazu führt, dass gerade in dieser Übergangsphase sehr starke Emotionen vorherrschen und Emotionskontrolle eher schwerfällt. Für einen Überblick siehe Konrad/Firk/Uhlhaas, Deutsches Ärzteblatt International 2013, 425.

[21]    Zu den diskutierten Kriterien für die Reifeentscheidung nach § 3 JGG, vgl. Hinz, NJW 2023, 3138 (3140 f.); Bohnert, NStZ 1988, 249 (250) sowie Schilling, NStZ 1997, 261 ff.

[22]    Wissenschaftlich wäre die Feststellung solcher Änderungen schon deswegen schwierig, weil es für historische Vergleiche an entsprechenden Voruntersuchungen mangelt.

[23]    Dies für den Jugendstrafvollzug besonders betonend BVerfG, NJW 2006, 2093 ff.

[24]    Vgl. dazu die Äußerung des Deutschen Ethikrates zur Corona-Pandemie als eine Frage der Generationengerechtigkeit, online abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/publikationen/publikationsdetail/?
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[25]    So auch Meier, in: Walsh/Pniewski/Kober/Armbrost, Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland, 2018, S. 643 (660).

[26]    Zur Sanktionseskalation im Jugendstrafrecht vgl. Heinz, Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg, 2019, S. 1621, 1873, 1896 sowie Bliesener/Thomas, in: FS-Ostendorf, 2015, S. 73 ff.

[27]    Anders ist dies etwa in der Schweiz, wo es mehrere Modellversuche und Langzeitverlaufsprojekte gibt, die nicht nur auf die Legalbewährung, sondern auch auf Gesundheit, beruflichen und schulischen Erfolg abstellen. Vgl. hierzu Schmid et al., Abschlussbericht für den Fachausschuss für die Modellversuche und das Bundesamt der Justiz – Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse des Modellversuchs Abklärung und Zielerreichung in stationären Massnahmen, 2013, online abrufbar unter: https://www.bj.admin.ch/dam/bj/de/data/sicherheit/smv/modellversuche/evaluationsberichte/maz-schlussbericht-d.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[28]    Schmidt et al., Effekte erzieherischer Hilfen und ihrer Hintergründe, 2002, online abrufbar unter: https://ikj-mainz.de/wp-content/uploads/sites/3/2019/12/JES-Abschlussbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[29]    Vgl. Albus et al., Wirkungsorientierte Jugendhilfe, 2010, online abrufbar unter: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/arbeitsgruppen/ag8/Evaluation-wirkungsorientierte-Jugendhilfe_Abschlussbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[30]    Vgl. Albus et al., Wirkungsorientierte Jugendhilfe, S. 145 ff.

[31]    Vgl. Albus et al., Wirkungsorientierte Jugendhilfe, S. 154 ff.

[32]    Kerig et al., Journal of Child & Adolescent Trauma 2012, 129 ff.; Carrion/Steiner, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2000, 353 ff.

[33]    Schäfer et al., Posttraumatische Belastungsstörung, 2019, online abrufbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/155-001l_S3_Posttraumatische_Belastungsstoerung_2020-02_1.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024); vgl. dazu auch Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Auswahl und kritische Bewertung der Evidenz, 2024, online abrufbar unter: https://www.awmf.org/regelwerk/auswahl-und-kritische-bewertung-der-evidenz (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[34]    Fegert, European Child & Adolescent Psychiatry 2024, 1 ff.; Fegert/Deetjen, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2023, 89 ff.; Fegert et al.,Psychosoziale Umschau 2023, 16 ff.; für einen Überblick siehe: Gossmann et al., Nervenheilkunde 2023, 685ff.

[35]    Hof, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1997, 247 ff.

[36]    Haft/Hof/Wesche, Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, 2001.

[37]    Vgl. Baur/Holle/Reiling, JZ 2019, 1025.

[38]    Siehe dazu etwa Graber, Entwicklung in der Adoleszenz, MSD Manual, 2023, online abrufbar unter: https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/p%C3%A4diatrie/wachstum-und-entwicklung/entwicklung-in-der-adoleszenz (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[39]    Vgl. hierzu Fegert/Fegert, Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2023, 166 ff.

[40]    Die Strafmündigkeit in der Schweiz liegt bei 10 Jahren (Art. 3 Abs. 1 CH-JStG), Freiheitsentzug ist jedoch erst ab 15 Jahren bzw. 16 Jahren vorgesehen (Art. 25 CH-JStG).

[41]    Damm et al., Lowering the minimum age of criminal responsibility: Consequences for juvenile crime and aducation, 2017, online abrufbar unter: https://pure.au.dk/ws/files/118094764/wp17_10.pdf (zuletzt abgerufen am 5.7.2024).

[42]   Vgl. zusammenfassend Hirtenlehner/Reinecke/Stemmler, MschrKrim 2023, 73 ff.; Hirtenlehner, MschrKrim 2020, 221 ff.

[43]    Vgl. Matzke/Fritsch, FPR 2012, 459 (461); Burghart in BeckOGK-BGB, Stand: 1.5.2024, § 1666 Rn. 74.

[44]               Vgl. BR-Drs. 645/98.

[45]    Der Gesetzgebungsvorschlag Bayerns ist seinerzeit wegen gesetzessystematischer Bedenken nicht weiterverfolgt worden, vgl. Hinz, ZRP 2000, 107 (113).

[46]    Vgl. dazu den Koalitionsvertrag der Ampelparteien, „Mehr Fortschritt wagen“, 2021, S. 86.

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