Abstract
Das Strafverfahren beim LG Itzehoe gegen eine zur Tatzeit 18 Jahre und zur Verfahrenszeit schon über 90 Jahre alte Frau hat in Juristenkreisen und in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt. Der Angeklagten war Beihilfe zu zehntausendfachem Mord vorgeworfen worden. Tatsächliche Grundlage dieses Vorwurfs war ihre in den 1940er Jahren ausgeübte Tätigkeit als Schreibkraft im Büro des Lagerkommandanten des Konzentrationslagers Stutthof. Die Jugendkammer hielt die Vorwürfe für begründet und verurteilte die Angeklagte am 20.12.2022 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.[1] Die dagegen von der Angeklagten eingelegte Revision wurde vom 5. Strafsenat des BGH durch Urteil vom 20.8.2024 als unbegründet zurückgewiesen.[2] Der Verurteilung liegen strafrechtliche Überlegungen zugrunde, die man zum Teil kritisch kommentieren könnte. Das betrifft in erster Linie die Qualifizierung der verfahrensgegenständlichen Tätigkeiten als Beihilfe zum Mord. Dazu soll hier nicht Stellung genommen werden. Der Verurteilung liegt nämlich in beträchtlichem Umfang das Fehlen relevanter rechtlicher Überlegungen zugrunde. Allein darauf beziehen sich die folgenden Bemerkungen.
The criminal proceedings at the District Court of Itzehoe against a woman who was 18 years old at the time of the crime and over 90 years old at the time of the trial attracted attention in legal circles and among the public alike. The defendant was accused of aiding and abetting the murders of ten thousand. The factual basis for this accusation was her work as a typist in the office of the camp commandant of the Stutthof concentration camp in the 1940s. The Juvenile Chamber of the court found the allegations to be well-founded and sentenced the accused to a juvenile sentence of two years on the 20th of December 2022, its execution being suspended on probation. The appeal lodged against the ruling by the defendant was rejected as unfounded by the 5th criminal panel of the Federal Court of Justice in its ruling of the 20th of August 2024. The conviction is based on criminal law considerations, some of which could be criticized. This primarily concerns the classification of the activities in question as aiding and abetting murder. This is not to be discussed here. Rather, the conviction is based to a considerable extent on the lack of relevant legal considerations. The following comments relate solely to this.
I. Einleitung
Die Verurteilung ist richtig, wenn alle dafür erforderlichen materiellstrafrechtlichen und prozessrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Mit den materiellstrafrechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit haben sich LG und BGH ausführlich befasst. Auf die sanktionsbezogenen Voraussetzungen wurde lückenhaft eingegangen, insbesondere wurde der jugendstrafrechtliche Akzent vernachlässigt (dazu III.).[3] Überhaupt kein Thema war die Rechtsgeltungsfrage in räumlicher Hinsicht: „Ist deutsches Strafrecht auf die verfahrensgegenständliche Tat überhaupt anwendbar?“ (dazu IV.). Ebenfalls unerörtert blieben die Bedenken gegen die Zulässigkeit des Verfahrens infolge seines zeitlichen Abstands zur Tat, also die Verjährungsthematik (dazu II.).
II. Verjährung
1. Rückwirkende Anwendung des § 78 Abs. 2 StGB
Als die Angeklagte in Itzehoe vor Gericht stand, lag das Geschehen, auf das die Anklage rekurrierte, fast 80 Jahre zurück. Gegenstand des Verfahrens war die Tätigkeit der Angeklagten im Konzentrationslager Stutthof vom 1. Juni 1943 bis 31. März 1945. Die Tat wäre also verjährt, wenn sie nicht kraft Gesetzes unverjährbar wäre. Letzteres wird aus § 78 Abs. 2 StGB abgeleitet. Danach verjährt Mord nicht. Eingeführt wurde die Unverjährbarkeitsregelung durch das 16. Strafrechtsänderungsgesetz im Jahr 1979. Als die Angeklagte ihren Beruf als Sekretärin im Büro des KZ-Kommandanten ausübte, verjährte Mord nach 20 Jahren, § 67 Abs. 1 StGB a.F. Das war eine aus heutiger Sicht erstaunlich kurze Frist, machte aber vor dem Hintergrund der damals noch geltenden Todesstrafandrohung[4] durchaus Sinn. Da § 78 Abs. 2 StGB zur Tatzeit noch nicht existierte, ist die Anwendung im Verfahren vor dem LG Itzehoe eine rückwirkende Anwendung. Das wäre im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG zu reflektieren. Damit setzt sich aber heute ersichtlich kaum jemand auseinander[5], auch das LG Itzehoe und der BGH nicht.[6] Allgemein begnügt man sich mit der Aussage, dass Art. 103 Abs. 2 GG auf Verfahrensrecht überhaupt oder jedenfalls dann nicht anwendbar sei, wenn es kein schutzwürdiges Vertrauen gegenüber Verschärfung prozessrechtlicher Regelungen gibt.[7] Da kein Straftäter bei Begehung der Tat darauf vertrauen könne, vor einer Bestrafung durch den Eintritt der Verjährung nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne geschützt zu werden, gelte das Rückwirkungsverbot für Vorschriften, die den Zeitpunkt des Verjährungseintritts hinausschieben oder ganz annullieren, nicht.[8] Verjährung sei ein Verfahrenshindernis und habe auf die materiellrechtliche Qualität der Straftat keinen Einfluss. In Texten zu Grund und Rechtsnatur der Verjährung finden sich aber ernst zu nehmende Ausführungen, wonach dem Institut der Verjährung sehr wohl eine Korrespondenz zum Unrechtsgehalt der Tat immanent sei.[9] Mit zunehmender zeitlicher Distanzierung zur Tat schwinde allmählich deren materieller Strafwürdigkeitsgehalt.[10] Zudem kann man die Verschärfung des Verjährungsrechts durch Aufhebung der Verjährung oder Verlängerung einer Verjährungsfrist als ein rechtstechnisches Äquivalent zur Erhöhung der Strafdrohung verstehen. Will der Gesetzgeber z.B. einen Aufschub der Verjährung des Vergehens Diebstahl (§ 242 StGB) erreichen, kann er dies durch Verlängerung der Frist in § 78 Abs. 3 StGB oder durch Erhöhung der Strafrahmenobergrenze in § 242 Abs. 1 StGB tun.[11] Letzteres unterliegt zweifellos dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Gesetzgeberisches Motiv bei der Wahl der Fristverlängerungsvariante ist jedenfalls auch die Erwägung, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat so hoch ist, dass eine längere Verjährungszeit legitim ist. Der Verschärfung des Verjährungsrechts liegt also eine täterbelastende Verschärfung der materiellen Deliktsbewertung zugrunde, die wegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht rückwirkend gegen einen Angeklagten geltend gemacht werden darf. Im Jahr 1945 galt der Mord als ein Verbrechen, dessen Schwere eine Sanktionierung noch in einem Verfahren gestattet und gebietet, das erst 20 Jahre nach der Tat mit verjährungsunterbrechender Wirkung (§ 68 StGB a.F.) eingeleitet wurde. Eine zeitlich unbegrenzte Verfolgung ohne Verjährungsschranke – also wie im Fall Irmgard Furchner über 70 Jahre nach der Tat − wurde mit dem Strafwürdigkeitsgehalt des Mordes seinerzeit nicht in Verbindung gebracht. Auch wenn es formal hinter der prozessrechtlichen Fassade einer Verjährungsvorschrift versteckt ist: § 78 Abs. 2 StGB beruht auf einer Verschärfung der materiellen Bewertung, die nur auf künftige Taten bezogen werden darf, nicht aber rückwirkend.[12]
2. Anwendung des § 78 Abs. 2 StGB auf Beihilfe zum Mord
Der Wortlaut des § 78 Abs. 2 StGB wird allgemein dahingehend verstanden, dass nicht nur der durch aktives Tun täterschaftlich begangene Mord erfasst sei. Alle strafbaren Abwandlungen wie versuchter Mord, Mord durch Unterlassen, Anstiftung und Beihilfe zum Mord und sogar der Versuch einer Beteiligung am Mord i.S.d. § 30 StGB seien Straftaten, die gemäß § 78 Abs. 2 StGB unverjährbar sind.[13] Obwohl es in keinem Kommentar dazu eine Begründung gibt, stellt niemand dies in Frage.[14] Auch ich selbst habe bei der Erläuterung der §§ 78 ff. im Münchener Kommentar zugegebenermaßen bisher nur gedankenlos abgeschrieben, was andere Autoren dazu schon vorher verlautbart haben.[15] Das LG Itzehoe und der 5. Strafsenat des BGH sahen sich nicht veranlasst, in den Gründen ihrer Urteile darzulegen, dass und wieso § 78 Abs. 2 StGB auf Beihilfe zum Mord anwendbar ist. Dabei ist die Unrichtigkeit jedenfalls im Fall der Beihilfe – sowie auch im Fall des § 30 StGB – mit Händen zu greifen. Das sich aufdrängende Argument des entgegenstehenden Gesetzeswortlauts − § 78 Abs. 2 StGB erwähnt weder „Beihilfe zum“ noch § 27 − kann von der h.M. noch souverän mit dem Hinweis darauf gekontert werden, dass das Strafgesetzbuch dort, wo es nur Worte für den Täter und täterschaftliche Strafbarkeit hat, die Teilnahmeformen Anstiftung und Beihilfe stets mitgemeint sind.[16] Anerkannt ist z.B., dass § 330 b StGB auch auf „tätige Reue“ von Anstiftern und Gehilfen anwendbar ist, obwohl der Gesetzestext nur das Wort „Täter“ enthält.[17] Anders ist es nur, wenn es spezielle Regelungen für Teilnahme wie § 30 StGB gibt. Dann ist die Anwendung täterbezogener Vorschriften ausgeschlossen. Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist deshalb nicht nach § 23 Abs. 1 Var. 1 StGB strafbar und versuchte Beihilfe zu einem Verbrechen ist überhaupt nicht strafbar, obwohl man in beiden Fällen durchaus unter „Straftat“ (§ 22 StGB) oder „Verbrechen“ (§ 23 Abs. 1 StGB) subsumieren könnte.[18] Nicht widerlegbar ist jedoch das Argumentieren mit dem krassen Widerspruch, der sich aus den erheblich unterschiedlichen Schweregraden der nach h.M. von § 78 Abs. 2 StGB erfassten und von dieser Vorschrift zweifelsfrei nicht erfassten Strafbarkeitsfällen ergibt. Beihilfe hat nicht nur ein wesentlich geringeres Sanktionsniveau als täterschaftlicher Mord, sondern auch im Vergleich mit z.B. Raub oder Brandstiftung mit Todesfolge (§§ 251, 306 c StGB) sind die Aussagen zum Regelungsinhalt des § 78 Abs. 2 StGB nicht plausibel. Todeserfolgsqualifizierte Delikte, die im Einzelfall sogar mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden können, unterliegen der Verjährung nach Maßgabe des § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB. Die Beihilfe zum Mord mit einer maximalen Höchststrafe von 15 Jahren Freiheitsstrafe (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB) soll hingegen nicht verjähren. Legt man das Verständnis der Rechtsprechung zum Verhältnis von Mord und Totschlag zugrunde, kann die Strafobergrenze für Beihilfe zum Mord sogar gemäß § 28 Abs. 1 StGB auf 11 Jahre und 9 Monate absinken, § 49 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 StGB. Wenn also das Regelungsmotiv für den Ausschluss jeglicher Verjährung in § 78 Abs. 2 StGB dem Höchstmaß an Unrecht und Schuld korrespondiert, das den täterschaftlichen Mord auszeichnet, dann ist zwar die Nichteinbeziehung von Totschlag, Raub mit Todesfolge und anderen Verbrechen erklärbar und konsequent, nicht aber die Einbeziehung von Beihilfe zum Mord. Daran vermag auch § 78 Abs. 4 StGB nichts zu ändern.[19] Diese Norm regelt eine „Frist“, die es wegen § 78 Abs. 2 StGB bei § 211 StGB nicht gibt. Allein mittels einer analogen Anwendung der Vorschrift könnte aus § 78 Abs. 4 StGB die Aussage gewonnen werden, dass die obligatorische Strafmilderung gemäß § 27 Abs. 2 S. 2 StGB nicht zu berücksichtigen ist und § 78 Abs. 2 StGB deswegen auch für die Beihilfe zum Mord gilt. Diese täterbelastende Analogie wird aber von Art. 103 Abs. 2 GG untersagt.[20] Freilich ist dies umstritten und „harrt einer näheren wissenschaftlichen Durchdringung“[21]. Die Praxis der Rechtsprechung wie die Praxis der Kommentierung von StGB-Vorschriften steht also hier auf wissenschaftlich schwankendem Boden. Dass die ausstehende wissenschaftliche Durchdringung zu einem anderen Ergebnis führt als der Anwendungsbeschränkung des § 78 Abs. 2 StGB auf durch aktives Tun begangenen täterschaftlichen Mord, ist nicht zu erwarten. Nur am Rande: Im Übrigen müsste in die wissenschaftliche Befassung mit der Vorschrift auch die Option der Abschaffung des § 78 Abs. 2 StGB[22] einbezogen werden.
3. Verjährung im Jugendstrafrecht, § 4 JGG
Diskussions- und erklärungsbedürftig ist die Anwendung des § 78 Abs. 2 StGB vor dem Hintergrund des Jugendstrafrechts, das in materiellrechtlicher wie verfahrensrechtlicher Hinsicht das Verfahren beherrschte. Die Angeklagte war zur Tatzeit älter als 18 und jünger als 21 Jahre. Das LG Itzehoe hat die Heranwachsende (§ 1 Abs. 2 JGG) gemäß § 105 Abs. 1 JGG einer Jugendlichen gleichgestellt.[23] § 78 StGB gehört zu den „allgemeinen Vorschriften“, die gemäß § 2 Abs. 2 JGG hinter speziellen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes zurücktreten. Soweit Verfolgungsverjährung stattfindet, erklärt § 4 JGG (gem. § 105 Abs. 1 JGG anwendbar) die Fristen des § 78 Abs. 3 StGB für maßgeblich. Zu § 78 Abs. 2 StGB und somit zur Unverjährbarkeit ist § 4 JGG keine explizite Aussage zu entnehmen. Die Worte „wann sie verjährt“ lassen aber ohne Weiteres die Interpretation zu, dass es nach Jugendstrafrecht keine unverjährbaren Straftaten gibt, zumal im Text des § 4 JGG der Vorbehalt „Soweit die Verfolgung verjährt“ (§ 78 Abs. 3 StGB) fehlt. Der Gesetzgeber hätte mit minimalem sprachlichen Mehraufwand die Geltung des § 78 Abs. 2 StGB im Jugendstrafrecht klarstellen können. Zudem geht die Verweisung auf § 78 Abs. 3 StGB für § 211 StGB nicht ins Leere, sondern zielt auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB: Mord ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht, verjährt also nach 30 Jahren. Lediglich beiläufig sei hier angemerkt, dass die Übernahme der langen Verjährungsfristen des StGB in das Jugendstrafrecht ohnehin eine gesetzgeberische Fehlleistung ist. Mit dem spezifischen Beschleunigungsgebot und dem Erziehungsgedanken sind Verjährungsfristen von zehn Jahren und mehr nicht in Einklang zu bringen. Unverjährbarkeit ist jugendstrafrechtlich indiskutabel.[24]
III. Voraussetzungen der Jugendstrafe, § 17 JGG
1. Schädliche Neigungen
Im Jahr 2022 zu ermitteln, ob im Jahr 1945 eine junge Frau „schädliche Neigungen“ hatte, die in der Verrichtung ihrer Aufgaben als Büroschreibkraft zutage getreten sind, wäre ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Die Jugendkammer hat sich erwartungsgemäß mit dieser Variante der in § 17 JGG normierten Voraussetzungen einer Jugendstrafe nicht befasst. Aber auch ohne tatsächliche Erkenntnisse über die Person der Angeklagten zu haben, stand für das Gericht fest, dass im vorliegenden Fall „schädliche Neigungen“ kein Fundament einer Jugendstrafe sein konnten. Legt man nämlich eine Definition zugrunde, wonach es sich um Störungen der Persönlichkeitsentwicklung handelt, die ohne längere Gesamterziehung die Gefahr der weiteren Begehung von nicht nur gemeinlästigen oder bagatellarischen Straftaten in sich bergen,[25] ist die Nichterfüllung der Voraussetzungen bei einer über 90-jährigen evident. Denn die schädlichen Neigungen müssten auch noch im Zeitpunkt der gerichtlichen Sanktionsentscheidung vorliegen.[26]
2. Schwere der Schuld
Liegen schädliche Neigungen nicht vor oder lassen sie sich nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, gebietet § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG die Verhängung einer Jugendstrafe, wenn dies wegen Schwere der Schuld erforderlich ist. Hätte die Jugendkammer die von der Rechtsprechung des BGH – allerdings innerhalb der Senate uneinheitlich[27] − seit langem und immer noch verlangte erzieherische Erforderlichkeit ernst genommen, wäre ihr eine überzeugende Begründung wohl kaum gelungen. Dass im Falle der über 90-jährigen Angeklagten irgendwelche erzieherischen Maßnahmen, die zudem unter den Bedingungen des Strafvollzuges umgesetzt werden müssten, nicht in Frage kamen, liegt auf der Hand. So vertrauten die Richter auf die Wucht der im Raum stehenden über 10.000 Todesopfer, für deren grausames Sterben die Angeklagte mitverantwortlich gemacht worden ist.[28] Tatsächlich ist die von der Jugendkammer geschlussfolgerte besondere „Gleichgültigkeit“ der Angeklagten gegenüber dem unvorstellbaren verbrecherischen Geschehen im KZ keine tatsächliche Ermittlung der „inneren Haltung, Persönlichkeit und Tatmotivation der Angeklagten“, sondern lediglich eine sprachliche Herleitung der „inneren Schuld“ aus dem „äußeren Unrecht“.[29] Was in der Angeklagten während 1943 bis 1945 wirklich vorging, entzieht sich einer gerichtlichen Aufklärung im Jahr 2022 und wird vielleicht sogar die Angeklagte selbst nicht mehr wissen. Indessen erscheint angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen jede weitere Erklärung der „Schwere der Schuld“ überflüssig. Die Erwartungen der Medien und Öffentlichkeit, sind auf diese Weise leicht zu befriedigen. Kaum jemand wird dagegen Einspruch erheben. Umgekehrt hätte Verneinung der Voraussetzungen einer Strafe vermutlich Empörung und Unverständnis ausgelöst.[30] Allerdings darf man schon hinterfragen, ob es ein „dem Rechtsgefühl extrem widerstrebendes Ergebnis“[31] wäre, wenn die der Angeklagten angelasteten Verfehlungen nicht mit einer Jugendstrafe geahndet worden wären.[32] Dass die auf das enorme äußere Unrecht abstellende Begründung des Urteils zudem die jugendspezifischen Kriterien für die sanktionsrelevante Schuldschwere („jugendspezifische Vorwerfbarkeit“[33]) deutlich verfehlt, steht auf einem anderen Blatt.[34] Im Übrigen erweist sich bei der Findung des richtigen Strafmaßes, dass deren gesetzliche Anforderungen unerfüllbar sind, wenn nicht bereits das „ob“ der Jugendstrafe an eine „erforderliche erzieherische Einwirkung“ geknüpft wurde.[35]
3. Bemessung der Jugendstrafe
Spätestens die Anwendung des § 18 Abs. 2 JGG hätte den Richtern die Sackgasse aufzeigen müssen, in die sie sich mit der von jeglichem erzieherischen Impetus losgelösten Entscheidung für eine Schuldschwere-Strafe manövriert hatten. Die gesetzliche Aussage ist eindeutig und lässt keine Auslegungsakrobatik zu, mit der man bei der Bemessung einer auf § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG gestützten Jugendstrafe an der Feststellung erzieherischer Bestrafungsnotwendigkeit vorbeikäme.[36] Dass die Vollstreckung der verhängten Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, es also – zunächst – zu keiner vollzuglichen erzieherischen Einwirkung kommt, beseitigt das Problem nicht. Denn auch die Bewährung beinhaltet „erzieherische Einwirkung“, eben „in der Bewährungszeit“, § 21 Abs. 1 S. 1 JGG. Das mussten die Richter bei der Entscheidung für die Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG antizipieren. Eine erzieherische Einwirkung durch richterliche Weisungen und Auflagen (§ 23 JGG) und den begleitenden Bewährungshelfer (§ 24 JGG) ist im Fall der Angeklagten schlicht nicht vorstellbar.
IV. Räumlicher Geltungsbereich des deutschen Strafrechts
1. Tatort
Weder das LG Itzehoe noch der 5. Strafsenat des BGH hat zu der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts Stellung genommen. Dazu sah die Justiz bereits in früheren Verfahren – z.B. gegen Oskar Gröning − keine Veranlassung. Aber die territoriale Beziehung des verfahrensgegenständlichen Geschehens gibt dazu Anlass.[37] Der Ort, wo die Angeklagte ihre als Beihilfe qualifizierte Tätigkeit ausübte, war das Gelände des Konzentrationslagers Stutthof. Dieser Ort liegt heute auf dem Staatsgebiet Polens und lag vor und nach dem militärischen Überfall Nazi-Deutschlands auf dem Staatsgebiet Polens. Die Angeklagte beging ihre Tat also nicht im deutschen „Inland“, sondern im polnischen „Ausland“. Daran ändert auch nichts die akzessorische Beziehung der Beihilfe zu einer Haupttat. Zwar kann gemäß § 9 Abs. 2 StGB eine im Ausland begangene Beihilfe zu einer Inlandstat werden, wenn die geförderte Haupttat im Inland begangen wurde. Letzteres vermochte aber das LG Itzehoenicht überzeugend darzulegen, weshalb der BGH die Beihilfetätigkeit der Angeklagten nicht zu Verbrechen des „Führers“ Adolf Hitler und anderer im Reichsgebiet agierender ranghoher Nationalsozialisten in Beziehung setzte, sondern zu den Haupttaten, für die der Kommandant des Konzentrationslagers Stutthof verantwortlich war.[38] Diese Haupttaten wurden ebenso wie die Beihilfe auf polnischem Staatsgebiet begangen. An dieser territorialen Gegebenheit änderte auch die völkerrechtswidrige militärische Besetzung Polens durch deutsche Truppen und die dadurch ermöglichte Ausübung hoheitlicher Macht durch Deutsche nichts.
2. Maßgeblichkeit polnischen Strafrechts
Die der Angeklagten vorgeworfene Beihilfe zum Mord war keine Inlandstat, sondern eine Auslandstat. Deutsches Strafrecht war nicht gemäß § 3 StGB anwendbar. Grundlage für die Anwendung deutschen Strafrechts konnte allein § 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB sein. Danach muss aber die verfahrensgegenständliche Tat im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts am Tatort – das heißt nach Maßgabe des nationalen Rechts im Tatortstaat − (noch) mit Strafe bedroht sein. Das deutsche Gericht hätte also aufklären müssen, ob die Angeklagte strafbar wäre, stünde sie nicht vor einem deutschen Strafgericht, sondern vor einem polnischen Strafgericht. Nach hier für zutreffend gehaltener Auffassung gehört zum Prüfprogramm der Voraussetzung „am Tatort mit Strafe bedroht ist“ auch die Verjährung.[39] Zweifel an der Strafbarkeit der Beihilfe zum Mord nach polnischem Strafrecht bestehen gewiss nicht. Anders könnte es sich mit der Verjährung verhalten. Das hängt davon ab, ob das polnische Strafrecht eine dem § 78 Abs. 2 StGB entsprechende Unverjährbarkeitsregelung hat und diese auch auf Mordgehilfen anwendbar ist. Ähnlich wie in Deutschland wurde in Polen vor einem besonderen historischen Hintergrund eine Unverjährbarkeitsregelung eingeführt, um für bestimmte Straftaten eine zeitlich unbegrenzte Verfolgung und Verurteilung zu ermöglichen. Während es bei § 78 Abs. 2 StGB um die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Unrecht geht, dient die Unverjährbarkeit nach polnischem Strafrecht der Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit dieses Landes. Unverjährbar sind danach bestimmte Verbrechen kommunistischer Amtsträger.[40] Auf von Deutschen im Kontext des nationalsozialistischen Unrechtsregimes begangene Straftaten erstreckt sich diese Unverjährbarkeit nicht. Nach polnischem Strafrecht ist die Straftat von Irmgard Furchner verjährt und nicht mehr verfolgbar. Wenn somit der Staat, der stärker als alle anderen einen eigenen Strafanspruch wegen Verbrechen in Konzentrationslagern auf polnischem Boden legitim behaupten kann, auf die Anwendung seines Strafrechts verzichtet, sollte dies vom deutschen Strafrecht und von der deutschen Justiz respektiert werden. Dazu bedarf es keiner Durchbrechung von Wortlautgrenzen einschlägiger Vorschriften. Der Auslegungsspielraum des § 7 Abs, 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB trägt das Ergebnis: Was der Angeklagten in dem Strafverfahren vorgeworfen wurde, war nicht mehr „am Tatort mit Strafe bedroht“.
V. Schluss
Walter Grasnick hatte zu dem Strafverfahren gegen Beate Zschäpe vor dem OLG München bemerkt, die Angeklagte sei schon in dem Moment verurteilt gewesen, als sie den Gerichtssaal betrat.[41] Die Texte, die das LG Itzehoe und der 5. Strafsenat des BGH zur Erklärung des Verfahrensresultats vorgelegt haben, sind nicht geeignet, aus dem Kopf des hiesigen Verfassers den Gedanken zu vertreiben, der Angeklagten Irmgard Furchner könnte es ähnlich wie Beate Zschäpe ergangen sein.
[1] LG Itzehoe, Urt. v. 20.12.2022 – 3 KLs 315 Js 15865/16 jug (im Folgenden: LG Itzehoe Rn.).
[2] BGH, Urt. v. 20.8.2024 – 5 StR 326/23 (im Folgenden: BGH Rn.).
[3] BGH Rn. 51: „Auch der Rechtsfolgenausspruch hat Bestand; Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten hat die revisionsgerichtliche Überprüfung nicht erbracht.“
[4] § 211 StGB a.F.: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, mit dem Tode bestraft.“
[5] Wohl aber Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. (2023), § 4 Rn. 38.
[6] LG Itzehoe Rn. 474: „Die demnach niemals eintretende Verjährung der Haupttaten umfasst auch die Beihilfe zu diesen.“ Im Urteil des BGH findet man zur Verjährung keine Ausführungen.
[7] Gropp/Sinn, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (2020), § 3 Rn. 10; B. Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. (2022), Rn. 32; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. (2022), Rn. 65.
[8] Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 2 Rn. 6; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 16. Aufl. (2024), § 4 Rn. 22; Rosenau, in: SSW-StGB, 6. Aufl. (2024), § 78 Rn. 8.
[9] In erster Linie die Habilitationsschrift „Verjährung im Strafrecht“ von Martin Asholt, 2016.
[10] Otto, Grundkurs Strafrecht Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. (2004), § 2 Rn. 13; im Ergebnis anders, obwohl im Ansatz ähnlich, Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 99.
[11] Mitsch, in: M. Vormbaum (Hrsg.), Spätverfolgung von NS-Unrecht, 2022, S. 249 (254).
[12] Dannecker/Schuhr, in: LK-StGB, Bd. 1, 13. Aufl. (2020), § 1 Rn. 428.
[13] Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 78 Rn. 4; Greger/Weingarten, in: LK-StGB, Bd. 6, 13. Aufl. (2020), § 78 Rn. 6; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. (2023), § 78 Rn. 6; Rosenau, in: SSW-StGB, § 78 Rn. 11.
[14] Saliger, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 78 Rn. 7.
[15] Anders Mitsch, in: T. Vormbaum (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte Jahrbuch 2017, S. 426 (436 ff.); ders., in: M. Vormbaum (Hrsg.), Spätverfolgung, S. 249 (251 ff).
[16] Das dürfte etwa bei § 105 Abs. 3 S. 2 JGG so sein, zu dem der BGH eine entsprechend extensive Auslegung des Wortlauts in Bezug auf versuchten Mord vertritt, BGH, NJW 2020, 3537 ff.
[17] Alt, in: MüKo-StGB, Bd. 5, 3. Aufl. (2019), § 330 b Rn. 5; Ransiek, in: NK-StGB, 6. Aufl. (2023), § 330 b Rn. 3.
[18] Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl. (2021), § 22 Rn. 16.
[19] Anders – ohne Begründung – Greger/Weingarten, in: LK-StGB, § 78 Rn. 6: die Herausnahme der Beihilfe zum Mord aus dem Anwendungsbereich des § 78 Abs. 2 StGB widerspreche dem Gesetz. Weder der Hinweis auf § 78 Abs. 4 noch der Hinweis auf § 12 Abs. 3 StGB begründet irgendetwas.
[20] Dannecker/Schuhr, in: LK-StGB, § 1 Rn. 276; a.A. Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, Rn. 97.
[21] Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. (2020), § 5 Rn. 43a.
[22] Dafür Mitsch, in: T. Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch, S. 426 (441).
[23] LG Itzehoe Rn. 519.
[24] Mitsch, in: M. Vormbaum (Hrsg.), Spätverfolgung, S. 249 (259).
[25] Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl. (2024), § 17 Rn. 22.
[26] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 34; Streng, Jugendstrafrecht, 6. Aufl. (2024), § 12 Rn. 428.
[27] Vgl. die Entscheidung des 5. Strafsenates v. 4.6.2024 – 5 StR 205/23, NStZ 2024, 615 ff.
[28] LG Itzehoe Rn. 526: „Das in der von ihr verübten Beihilfetat zutage getretene äußere Unrecht ist so erheblich, dass nach den vorgenannten Maßstäben die daraus zu ziehenden Schlüsse auf die innere Haltung, Persönlichkeit und Tatmotivation der Angeklagten im Rahmen der Bestimmung des individuellen Schuldgehalts diesen als sichtbar schwer zutage treten lassen.“
[29] LG Itzehoe Rn. 527.
[30] Deutlich Streng, Jugendstrafecht, § 12 Rn. 436.
[31] Streng, Jugendstrafrecht, § 12 Rn. 436.
[32] Bedenkenswerte Vorschläge zu Bestrafungs-Alternativen bei Fahl, in: M. Vormbaum (Hrsg.), Spätverfolgung, S. 263 ff.
[33] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 46.
[34] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 15.
[35] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 17 Rn. 59; a.A. Streng, Jugendstrafrecht, 6. Aufl. (2024), § 12 Rn. 437.
[36] Eisenberg/Kölbel, JGG, § 18 Rn. 14.
[37] Mitsch, in: T. Vormbaum, Jahrbuch, S. 426 (438 ff.); ders., in: M. Vormbaum, Spätverfolgung, S. 249 (257).
[38] BGH Rn. 24.
[39] Satzger, in: SSW-StGB, § 7 Rn. 22; anders z.B. Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, § 7 Rn. 6.
[40] Kulik, in: Hochmayr/Gropp (Hrsg.), Die Verjährung als Herausforderung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen, 2021, S. 367 (375).
[41] Grasnick, myops 42 (2021), 31 (36); zust. Mitsch, FS Ignor, 2023, S. 313 (328).