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Was ist Postkolonialismus? Eine kriminalpolitische Notiz

von Leonardo Braguinski

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Abstract
Bei brisanten Themen wie Rassismus oder Kolonialismus kann es schon mal passieren, dass die Emotionen hochkochen. Dieser kurze Beitrag versucht, das Thema Postkolonialismus aus kriminalpolitischer Sicht zu betrachten und die Debatte zu versachlichen.

 When it comes to controversial topics such as racism or colonialism, emotions can sometimes run high. This short article attempts to look at the topic of post-colonialism from a criminal policy perspective and to make the debate more rational.

I. Einleitung

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat am 27. September 2024 bekannt gegeben, dass sie ab 2025 eine Kolleg-Forschungsgruppe zum Thema „Reflexive Globalization“ an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin finanzieren wird.[1] Laut der Pressemitteilung hat die Forschungsgruppe das ausdrückliche Ziel, den rechtlichen Diskurs zur Globalisierung um eine postkoloniale Perspektive zu erweitern. In den Vereinigten Staaten ist bereits 1999 der Sammelband „Laws of the Postcolonial“ mit kritischen Essays über das westlich dominierte Rechtsdenken erschienen.[2] Dass der postkoloniale Ansatz mittlerweile auch in Deutschland verbreitet ist, zeigt ein Blick in das einschlägige Schrifttum.[3] Es wird jedoch kontrovers diskutiert, was Postkolonialismus eigentlich ist.[4] Dieser kurze Notiz reflektiert die Bedeutung des Postkolonialismus für die Kriminalpolitik, und versucht, zwischen Befürwortern und Kritikern[5] des postkolonialen Ansatzes im Recht zu vermitteln.

II. Gegen die Einseitigkeiten des Eurozentrismus

Postkolonialismus, auch postkoloniale Theorie genannt, wird üblicherweise in Analogie zum Begriffspaar Postmodernismus – Modernismus als Überwindung einer eurozentrischen, kolonialistischen Weltanschauung, als Triumph über den Kolonialismus verstanden.[6] Darüber hinaus wird manchmal der Zustand der dekolonisierten Staaten im Sinne einer zeitlichen Abfolge als postkolonial bezeichnet.[7] Diese zweite Begriffsverwendung ist jedoch rein deskriptiv und hat keine Bedeutung für die Rechtspolitik. Postkolonialismus im Recht ist damit die Berücksichtigung außereuropäischer Perspektiven im Recht unter Berücksichtigung der kolonialen Unrechtsvergangenheit.[8]

III. Dekonstruktion von Rechtfertigungen des Kolonialismus

Die postkolonialistische Theorie geht zudem – zu Recht – wie selbstverständlich davon aus, dass der Kolonialismus ein historisches Übel ist.[9] Daher kritisiert die postkoloniale Theorie diejenigen, die den Kolonialismus romantisieren oder rechtfertigen.[10]

IV. Was Postkolonialismus nicht ist

Postkolonialismus hat den Ruf, „woke“ oder eine linkspopulistische Agenda zu sein.[11] Und sicherlich gibt es Radikale, die übersensibel sind[12] oder fragwürdige Pauschalaussagen tätigen.[13] Der akademische Diskurs zum Postkolonialismus bewegt sich jedoch größtenteils jenseits dieser unseriösen Linien,[14] man könnte insofern von einem Vulgär-Postkolonialismus sprechen.[15]

V. Postkolonialistische Kriminalpolitik

Gelegentlich wird eine Verbindung zwischen Postkolonialismus und Völkerstrafrecht hergestellt.[16] Dabei steht der Vorwurf im Zentrum, dass der IStGH sich unverhältnismäßig auf afrikanische Angeklagte konzentriere, es bestehe ein Doppelstandard bezüglich Verbrechen westlicher Staaten.[17] Es ist jedoch eine offene Frage, ob hierdurch ein Legitimationsdefizit oder gar eine Krise des Völkerstrafrechts angesprochen ist.[18] Es erscheint jedenfalls übertrieben, gleichsam als Ausgleich für angebliche Ungerechtigkeiten auf internationaler Ebene besondere Anforderungen an die Tätigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden im Bereich des Völkerstrafrechts zu stellen.[19] Der Grund hierfür ist darin zu erblicken, dass sich die Tätigkeit der Strafjustiz nicht durch (Un-)Gerechtigkeiten auf internationaler Ebene, sondern durch den Rechtsgüterschutz und die (negative) Generalprävention legitimiert.[20] Die kriminalpolitische Bedeutung des Postkolonialismus ist auch nicht darin zu erblicken, neue Straftatbestände zu rechtfertigen, die die Meinungsfreiheit beschränken (§ 130 Abs. 5 StGB n.F.).[21] Vielmehr sollte ein Kriminalitätsbereich in den Blick genommen werden, in dem die kolonialistische Vergangenheit bis heute fortwirkt: moderne Sklaverei, auch und vor allem in den ehemals von Kolonialismus betroffenen Staaten.[22] Dabei können insbesondere Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 232 ff. StGB), gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 223 ff. StGB) und die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff. StGB) relevant werden. Es wäre sinnvoll, entweder § 5 StGB so anzupassen, dass grenzüberschreitende moderne Sklaverei besser strafrechtlich bekämpft werden kann oder in Anknüpfung an § 2 SklHG einen eigenständigen Straftatbestand der Versklavung zu schaffen und diesen dem Universalitätsprinzip (vgl. § 6 StGB) zu unterstellen. Da solche Straftaten häufig von Unternehmen ausgehen, wäre es auch sinnvoll, den Allgemeinen Teil des Wirtschaftsstrafrechts so zu reformieren, dass die Strafverfolgung gegen die Leitungsebene von Unternehmen bei Veranlassung oder Duldung moderner Sklaverei effektuiert wird.

VI. Fazit

Der Postkolonialismus fristet bisher in der Kriminalpolitik ein Schattendasein. Dies könnte sich jedoch ändern, wenn man sich einerseits von Klischees über die postkoloniale Theorie befreit (IV.) und andererseits den Fokus auf die Kriminalitätsbereiche legt, in denen bis heute die Spuren des Kolonialismus spürbar sind (V.).

 

[1]      https://www.dfg.de/en/service/press/press-releases/2024/press-release-no-41 (zuletzt abgerufen am 2.3.2025).
[2]      Darian-Smith/Fitzpatrick (Hrsg.), Laws of the Postcolonial,1999.
[3]      Barskanmaz, KJ 2008, 296; Anghie, KJ 2012, 49; Pichl, KJ 2012, 131; Hanschmann, KJ 2012, 144; Liebscher/Remus/Bartschel, KJ 2014, 135; Pfeiffer, Forum Recht, 2015, 84;v. Bernstorff/Schuler, ZaöRV 2019, 553; Kerner, ZfP 2019, 216; Theurer/Kaleck (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, 2020; Boysen, Die postkoloniale Konstellation, 2021; Spitra, Die Verwaltung von Kultur im Völkerrecht, 2021; Dann/Feichtner/v. Bernstorff (Hrsg.), (Post-)Koloniale Rechtswissenschaft, 2022; Steinl, in: FS Werle, 2022, S. 295; Abdul-Rahman, KJ 2023, 275; El-Guennouni, Das marokkanische Familienrecht in der multiplen Differenzierung, 2023; Machona, ZaöRV 2023, 925; Schwöbel-Patel, AVR 2023, 1; v. Schorlemer, UNESCO-Weltkulturerbe und postkoloniale Diskurse, 2023; Döllefeld, StUW 2024, 354.
[4]      Ein Überblick über die Kontroverse zum Begriff des Postkolonialismus findet sich bei Young, Postcolonialism, Chichester 2016, S. 57 ff.
[5]      Chibber, Postcolonial Theory and the Specter of Capital, 2013; Madiou, Janus Unbound 2021, 1; Pluckrose/Lindsay, Zynische Theorien, 2022, S. 73 ff.
[6]      Appiah, In my father’s house: Africa in the philosophy of culture, New York 1992, S. 140 ff.; Gilbert/Tompkins, Post-Colonial Drama: Theory, Practice, Politics, London 1996, S. 2 ff.; Young (Fn. 4), S. 60.
[7]      Beispielsweise bei Peters, ZaöRV 2023, 587 (607); Beham, NJW 2024, 1159 (1163).
[8]      Steinl, in: FS Werle, S. 295 (297).
[9]      Fanon, Peau noire, masques blancs, 1952. S. a. Lemerchand, Forgotten Genocides: Oblivion, Denial, and Memory, 2013; Häussler, Der Genozid an den Herero, 2018.
[10]    Vgl. Lane, Myths and Memories: (Re)viewing Colonial Western Australia through Travellers’ Imaginings, 1850-1914, 2015.
[11]    Pluckrose/Lindsay (Fn. 5), S. 73; https://wokeaware.org/postcolonialism/; https://www.breitbart.com/europe/2017/12/16/managed-decline-oxford-prof-attacked-bigot-refusing-colonial-guilt (zuletzt abgerufen am 2.3.2025).
[12]    Vgl. https://www.nytimes.com/2018/08/14/style/white-guilt-privilege.html (zuletzt abgerufen am 2.3.2025).
[13]    https://www.chroniclelive.co.uk/news/north-east-news/watch-furious-row-good-morning-13570507 (zuletzt abgerufen am 2.3.2025).
[14]    Siehe die Nachweise in Fn. 3. Dass manche dieser Beiträge „woke“-Elemente haben, ändert nichts daran, dass die wissenschaftliche Debatte zum Postkolonialismus im Wesentlichen konstruktiv und seriös ist.
[15]    So in einem anderen Zusammenhang Volker Beck in einem Interview mit der WELT v. 20.7.2022, https://www.welt.de/kultur/plus240012129/Documenta-fifteen-Nach-Schormanns-Ruecktritt-fordert-Volker-Beck-weitere-Konsequenzen.html (zuletzt abgerufen am 2.3.2025).
[16]    Eingehend Steinl, in: FS Werle, 2022, S. 295 (300 ff.).
[17]    Kaleck, in: FS Werle, 2022, S. 157 ff.
[18]    Skeptisch Jeßberger, in: FS Werle, 2022, S. 145 (151 ff.).
[19]    Dazu kritisch Ambos laut Diskussionsbericht, in: Jeßberger/Epik (Hrsg.), Zwanzig Jahre Völkerstrafgesetzbuch, S. 321 (324).
[20]    Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 303 ff.
[21]    Kritisch Heuchemer, NStZ 2023, 270; die Kritik wiederum kritisierend Mitsch, KriPoZ 2023, 17.
[22]    Dazu O’Connell Davidson, Modern Slavery, 2015, S. 81 ff.

 

 

 

 

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