Marie-Theres Hess: Digitale Technologien und freie Beweiswürdigung. Eine Untersuchung der Einflüsse von technologiegestützten Beweisen und Legal-Tech-Anwendungen auf die Sachverhaltsfeststellung im Strafprozess

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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2024, Verlag Nomos, ISBN: 978-3-7560-0809-4, S. 587, Euro 169,00

Die Dissertation, die erst 2024 bei Nomos erschienen ist, wurde bereits im Wintersemester 2022/2023 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg von der Juristischen Fakultät angenommen. Der Arbeit liegt daher die im März 2023 geltende Rechtslage zugrunde, wobei ausgewählte Literatur bis Oktober 2023 berücksichtigt und aktualisiert wurde. Dies muss man wissen, wenn man nach zwei Jahren die Monografie in die Hand nimmt. Dennoch sind trotz der Schnelllebigkeit der Materie einige fundamentale Fragen (fast) zeitlos, so dass diese Arbeit immer noch lesenswert ist. Denn zentrales Forschungsziel dieser Arbeit ist die Untersuchung des Zusammenspiels von digitalen Technologien und freier Beweiswürdigung. Es geht darum, zu untersuchen, welchen (künftigen) Einfluss technologiegestützte Beweise und Legal-Tech-Anwendungen auf die Sachverhaltsfeststellungen von Tatrichterinnen und Tatrichtern haben (S. 35).

Dazu werden in einem ersten Teil die Grundlagen der richterlichen Beweiswürdigung im Strafprozess umfassend dargestellt. Zunächst wird in die Beweiswürdigung als Entscheidung über das Ergebnis der Beweisaufnahme eingeführt, deren übergeordnetes Ziel die Wahrheitsfindung ist. Kurz werden die Beweismittel vorgestellt und ein Überblick über die Rolle der Forensik und Kriminaltechnik gegeben. Auch mittelbare Einflüsse des Ermittlungsverfahrens werden beschrieben, insbesondere psychologische Determinanten, dies aber sehr knapp. Diese Limitierungen sollen wohl deutlich machen, dass technologiegestützte Beweise von Vorteil sein können – allerdings hält sich die Verfasserin bei dieser Einführung zu Recht noch zurück.

In Kapitel 2 wird dann der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung näher erörtert und zunächst ein rechtshistorischer Rückblick gegeben. Dieser Rückblick gibt eine gute, komprimierte Übersicht für den strafrechtsgeschichtlich interessierten Leser. Es wird deutlich, dass bis heute Uneinigkeit darüber herrscht, wie der Grundsatz der freien Beweiswürdigung sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Anwendern im Detail verstanden wurde. Im Rückgriff auf die Rechtsgeschichte bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus heutiger Sicht für die Verfasserin, dass das Tatgericht bei der Bewertung und Gewichtung von Beweisen frei ist, sich aber an rationale Grenzen, namentlich Denkgesetze, Erfahrungssätze und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu halten habe (S. 106). Die verfassungsrechtlichen Vorgaben legitimierten dabei das Revisionsgericht, die Einhaltung der Anforderungen an eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung auch zu kontrollieren. Als besonders herausfordernd erweise sich die richterliche Überzeugungsbildung. Denn nach richtigem Verständnis handele es sich bei ihr um eine subjektive Gewissheit auf objektiv nachvollziehbarer Tatsachengrundlage. Dabei könnten Tatrichter auch bei komplexen Schlussfolgerungen auf den Sachverhalt das notwendige Maß an Rationalität gewinnen, wenn sie mit wahrscheinlichkeitsmathematischen Denkmodellen arbeiten. Die notwendige Rationalität der Entscheidungsfindung könnte auch zentraler Anknüpfungspunkt für Einflussmöglichkeiten digitaler Technologien sein (S. 225 f.). Insofern untersucht Hess folgerichtig in Teil 2 ihrer Arbeit die Auswirkungen und Herausforderungen für die freie Beweiswürdigung beim Einsatz digitaler Technologien.

Zunächst werden die Erscheinungsformen digitaler Technologien wie Algorithmen, KI, Virtual Reality und Legal Tech beschrieben und dann deren Relevanz für die Beweiswürdigung eingeordnet. Im nächsten Kapitel werden dann die Nutzungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Sachverhaltsfeststellung vorgestellt. Die Verfasserin kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung von Legal-Tech-Systemen auch für den Bereich der Beweiswürdigung möglich ist. Allerdings, und das räumt auch Hess ein, ist ein Indizienbewertungssystem näher am sensiblen Bereich der richterlichen Gesamtwürdigung als die Endentscheidung über den Sachverhalt. Daneben gäbe es KI-gestützte inhaltsbasierte Aussageanalyseideen, bei denen auch Ausgestaltungsmöglichkeiten gewählt werden könnten, die technische Transparenzprobleme weitgehend vermieden. Wichtig sei bei der Entwicklung, dass die Systeme bei der Entscheidung unterstützten, statt diese zu übernehmen. Also seien letztlich beide Systeme Hilfsmittel für Tatrichter, die diese direkt unterstützen könnten und nicht etwa wie KI-gestützte Werkzeuge in der Forensik und Kriminaltechnik erst über ein Sachverständigengutachten nutzbar seien.

Teil 3 widmet sich dann den technologiegestützten Beweisen und Legal-Tech-Anwendungen in der freien Beweiswürdigung. Durch die neuen Einsatz- und Nutzungsmöglichkeiten digitaler Technologien, treten neue Erscheinungsformen des strafprozessualen Beweises bzw. Beweisens in der Hauptverhandlung auf, so dass diesen Besonderheiten Rechnung zu tragen sei. Die Verfasserin wählt den Oberbegriff des „technologiegestützten Beweises“, um neben digitalen Beweisen auch Beweise mittels maschinell gewonnener KI-Systemergebnisse sowie zusätzlich das durch digitale Technologien ermöglichte Nutzbar- bzw. Zugänglichmachen von Beweisinformationen in der Hauptverhandlung zu erfassen. Die Besonderheiten, die sich hinsichtlich des Beweiswerts der technologiegestützten Beweise ergeben, seien eine Zusammenschau aus klassischen Eigenschaften digitaler Daten und aus den verschiedenen maschinellen Informationsgewinnungsmöglichkeiten in KI-Systemen. Die Verfasserin identifiziert in ihrer Arbeit drei Felder von besonderen Verlässlichkeits- und Vertrauensfaktoren (S. 435):

1. Das Vertrauen in den Inhalt des technologiegestützten Beweises wird relevant, wenn die nur mittelbare Darstellung von digitalen Daten zu berücksichtigen bzw. die Vollständigkeit und fehlerfreie Übermittlung der digitalen Beweisinformation zu prüfen ist.

2. Es kommt auf die Verlässlichkeit der Funktionsweise und damit auf die Transparenz des beweisgewinnenden Systems an, insbesondere wenn ein selbstlernendes KI-System Beweisinformationen liefert.

3. Von Bedeutung ist ebenfalls die Verlässlichkeit der Methoden und Ergebnisse, insbesondere wenn es sich um KI-Werkzeuge der IT-Forensik und Kriminaltechnik handelt.

Dagegen beschreiben „Legal-Tech-Systeme“ technisch den Einsatz KI-gestützter Methoden zur Unterstützung des Tatgerichts, so dass gemeinsame Besonderheiten mit den technologiegestützten Beweisen bestehen. Es geht bei den in der Arbeit skizzierten Legal-Tech-Beispielen aber nicht um Beweismittel zur Sachverhaltsaufklärung, sondern funktional um Beweiswürdigungsmittel in den Händen des Tatgerichts, mit Hilfe derer bereits vorhandene Beweise bewertet bzw. aufbereitet werden.

Technologiegestützte Beweise ließen sich, so die Verfasserin, mit mehr oder weniger viel Subsumtionsaufwand unter die vier Strengbeweismittelkategorien fassen, wobei aufgrund der technischen Komplexität der Sachverständigenbeweis eine Sonderstellung einnehme. Dagegen könne sich für Legal-Tech-Systeme als Beweiswürdigungsmittel in der Hand des Tatgerichts an den Strengbeweismitteln allenfalls orientiert werden, so wie es beim Sachverständigenbeweis der Fall sei. Allerdings sei sachverständigenähnlich nur das erkenntnisgewinnende Legal-Tech-System zur inhaltsbasierten Aussageanalyse, da nur dieses mit der Sachverständigentätigkeit vergleichbar sei. Dagegen sei das KI-gestützte Indizienbewertungssystem eher vergleichbar mit einem EDV-Programm oder Taschenrechner, so dass es gar nicht zwingend als Beweis in die Hauptverhandlung eingeführt werden müsste.

Deutlich wurde also zum einen, dass nach dem Einsatz von technologiegestützten Beweisen und Legal-Tech-Anwendungen differenziert werden muss. Herausforderungen für die Tatgerichte sieht die Verfasserin vor allem bei den im Grundsatz der freien Beweiswürdigung verankerten Privilegien und Vorbehalten. Daher untersucht sie die konkreten Auswirkungen, um Thesen zum künftigen Einsatz digitaler Technologien auf die freie richterliche Beweiswürdigung aufstellen sowie Unterstützungsmöglichkeiten für den Umgang mit ihnen aufzeigen zu können.

Als Zwischenergebnis stellt sie folgendes fest: Setzt das Tatgericht digitale Technologien ein – sei es als technologiegestützte Beweise oder Legal-Tech-Anwendungen für die Sachverhaltsfeststellung, so wirkt sich dies ausgehend von den Schwierigkeiten um die Beweiswertbestimmung auf die im Grundsatz der freien Beweiswürdigung verankerten Freiheiten und Vorbehalte aus. Wichtig ist die Feststellung, dass die Gesamtwürdigung als Freiheit der End-entscheidung über den Urteilssachverhalt trotz der festgestellten Auswirkungen und Herausforderungen beim Tatgericht verbleibt. Allerdings werde es schwer für das Tatgericht, die Anforderungen der Revision an eine fehlerfreie, eigenverantwortliche Beweiswürdigung zu erfüllen. Konsequenz daraus ist, dass die Verfasserin in einem nächsten Schritt untersuchen muss, welche Unterstützungsmöglichkeiten für das Tatgericht hier denkbar sind.

Unterstützung könnten hier künftige Standardisierungen von KI-Systemen bieten, wobei es eines verpflichtenden Einsatzes erklärbarer KI-Systeme bedürfe. Zudem sollten sich Richtlinien und Vorsichtsregeln in der Rechtsprechung etablieren. Wichtigstes Instrumentarium sei allerdings die Aus- und Fortbildung von Richtern.

Entscheidend ist für Hess, herauszustellen, dass auch unter dem Einfluss digitaler Technologien, die richterliche Beweiswürdigung eine „freie“ bleibe (S. 563). Tatrichter müssten sich allerdings vielen neuen Herausforderungen stellen, um sich diese Freiheit zu bewahren.

So wie es wichtig ist, sich im richtigen Bewusstsein für die Fähigkeiten und Schwächen digitaler Technologien von ihnen bei der Überzeugungsbildung unterstützen zu lassen, so wichtig ist es auch, wie ich finde, diese kritisch zu hinterfragen. Die Verfasserin sieht in den digitalen Technologien eine große Chance für die Sachverhaltsfeststellung im Strafprozess (S. 563). Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Letztentscheidung über Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung beim Menschen liegen muss. Entsprechender Hilfsmittel darf sich der Tatrichter sicherlich bedienen und welche Technikfelder hier fruchtbar gemacht werden können, beleuchtet die Dissertationsschrift eindrücklich. In der Diskussion sollte es im Anschluss daran darum gehen, was die Verfasserin in ihrer Arbeit schon anreißt. Was darf man als Hilfsmittel als Tatrichter nutzen und was ist vielleicht zu viel des Guten, das Eingriff in den richterlichen Entscheidungsprozess nimmt? Diesen Fragen muss man sich stellen und die Dissertation von Hess liefert ein Fundament dafür, in die wissenschaftliche Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen einzutauchen.

 

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